Was sich zunächst archivistisch-trocken anhört, ist bei näherer Betrachtung hochspannend. Die Forschungsstelle Dodis, ein Team von einem rund Dutzend geschulter Wissenschaftler im Gebäude des Bundesarchivs, editiert diplomatische Dokumente der Schweiz und macht sie allen Interessierten leicht zugänglich, in Form einer umfassenden digitalen (www.dodis.ch) und einer sorgfältig ausgewählten schriftlichen Ausgabe. Entsprechend der 30-jährigen Sperrzeit auf offiziellen Dokumenten liegt nun der Band 1990 vor. Und dies bereits im Januar 2021, eine allein schon editorisch bemerkenswerte Leistung.
Vollständige Jahreschronik
Die Einleitung im knapp 300-seitigen Band, vom zuständigen Forschungsleiter Thomas Bürgisser und vom Chef von Dodis, Sacha Zala, unterschrieben, ist viel mehr als das. Auf lediglich zwölf Seiten geben die beiden einen ebenso umfassenden wie tiefschürfenden Überblick, von was und wie im europäischen Wendejahr 1990 auch die schweizerische Aussenpolitik, und damit die Schweiz als Ganzes, betroffen war.
Dies reicht vom Umbruch in Mittel- und Osteuropa und der damit verbundenen Relativierung der schweizerischen Neutralitäts- und Sicherheitspolitik über ausgewählte Brennpunkte schweizerischer Aussenwirtschaftspolitik – die Aushandlung des EWR-Vertrages, Kontakte mit Schwergewichten unter den Schwellenländern, so Brasilien, Mexiko und Südafrika – und das Krisenmanagement im ersten Golfkrieg bis hin zu menschenrechtlichen Problemen wie der Frage, wer angesichts chinesischer Warnungen den Dalai Lama in der Schweiz empfangen solle.
Schliesslich bleibt auch die Mechanik der schweizerischen Aussenpolitik nicht unerwähnt. So finden sich in der Auswahl der im Band vorliegenden Dokumente sowohl Sitzungsprotokolle parlamentarischer Kommissionen, wo etwa der fehlende Einbezug des Parlamentes in die Aussenpolitik moniert wird, als auch Belege des zaghaften EDV-Beginns, als das EDA daran ging, von physisch versandter zu bildschirmgestützter Information überzugehen.
Zwischen Ost und West
In der Folge werden wenige Aspekte aus den Dokumenten erwähnt, ausgewählt nicht zuletzt weil der Schreibende als diplomatischer Mappenträger und Protokollschreiberling damals direkt beteiligt war. Die „Pariser Charta“ der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, heute OSZE) wurde im November 1990 auch von Bundespräsident Koller, assistiert von Aussenminister Felber, unterschrieben. Zusammen mit den höchsten Vertretern der damals 34 anderen KSZE-Staaten im viel zu engen „Centre Kléber“, unweit des Arc de Triomphe; was mir im Gedränge der alphabetisch gesetzten Delegationen ein paar unvergessene Momente bescherte in, rein physischer, aber unmittelbarer Nachbarschaft von Präsident Bush senior und Aussenminister Baker ebenso wie Präsident Gorbatschow und Aussenminister Schewardnadse.
„(Es) beginnt: eine Ära der Zusammenarbeit zwischen Ost und West, mit dem Ziel, eine neues, geeintes Europa zu errichten“, so der Originalton des schweizerischen Bundespräsidenten damals. Was in der Rückschau zwiespältig tönen mag, insbesondere für ein Land, das 30 Jahre später mit sich selber um einen Rahmenvertrag ringt mit einem tatsächlich geeinten, wenn auch keineswegs immer einigen Europa, war damals gelebte Realität. Und es erklärt, warum die Schweiz in den 90er Jahren viel näher am EU-Beitritt war als heute, wo Souveränitätspopanzen aus der helvetischen Rumpelkammer ihre Renaissance erleben.
Eurovision
Entsprechend findet in der Einführung von Bürgisser/Zala auch die damalige EDA-interne Studiengruppe „Eurovision“ Erwähnung. Vom damaligen Staatssekretär, dem leider allzu früh verstorbenen Klaus Jacobi, eingesetzt, war es ausdrücklich unsere Aufgabe, angesichts der Umwälzungen in der Weltpolitik „neu“ zu denken, etwas bislang in der schweizerischen Aussenpolitik Unerhörtes. Vom EU-Beitritt bis hin zu einer neuen Sicherheitspolitik für unser Land, nachdem nicht nur der Warschauer-Vertrag Geschichte war, sondern auch die Nato angesichts einer auf resolute Koexistenz umschwenkenden UdSSR in ihren Prinzipien erschüttert schien. (Zwischennotiz für die unter 45-jährigen Leser: Vor Putin gab es einmal wirkliche Hoffnung in – und für – Russland.)
Hierhin gehört auch die erste, damals kurz „Osthilfe“ genannte schweizerische Unterstützung für die neu unabhängig gewordenen Staaten Mittel- und Osteuropas. Zu zweit hatten wir damals im stillen Kämmerlein in Rekordzeit ein 250-Millionen-Paket zu schnüren; nicht zuletzt auch, weil praktisch das gesamte Parlament den Bundesrat zu möglichst rascher konkreter Hilfe drängte. Ironie der Geschichte auch hier: Die beiden hauptbegünstigten Länder waren Ungarn und Polen, damals in der Avantgarde des demokratischen und rechtsstaatlichen Wandels im Osten.
Sanktionen
Bemerkenswert in schweizerischer Optik im Jahre 1990 war auch die erstmalige volle und uneingeschränkte Beteiligung der Schweiz an vom Uno-Sicherheitsrat beschlossenen Sanktionen: Jene gegen den Irak von Saddam Hussein und seiner Annektion von Kuwait als „Südirak“. Dies lief im EDA nicht ganze ohne Diskussionen mit unseren internen „Neutralitätspäpsten“ ab und erinnert an die gegenwärtigen Diskussionen in der Öffentlichkeit über Stellungnahmen zur Schweiz als Uno-Sicherheitsratmitglied. Damals wie heute gilt aber, dass sich Aussenpolitik der Geschichte anzupassen hat, nicht umgekehrt.
Geschichte reimt sich
Das grosse Verdienst von Dodis und seinem vorliegenden Band ist denn auch die Erinnerung daran, dass sich Geschichte zwar nicht wiederholt, dass aber deren Kenntnis unabdingbar ist für die Meisterung aktueller Probleme. Das gilt speziell für schweizerische Aussenpolitik, wo wir oft mit denselben Problemen zu ringen scheinen, deren Lösung eigentlich schon eine vorherige Generation von Politikern und Diplomaten bereitgestellt hat.