Moritz Bassler legt mit «Populärer Realismus» eine griffige Untersuchung vor. Sie demaskiert eine gängige Literatur mit «gehobenem Anspruch», die mit Sprach- und Motivschablonen arbeitet, und sie würdigt junge Romane, die neue Töne anschlagen.
Es kommt nicht alle Tage vor, dass eine literaturwissenschaftliche Studie Debatten auslöst. Der Münsteraner Germanist Moritz Bassler hat das geschafft mit seinem Aufsatz «Der neue Midcult», erschienen im Juni 2021 in der «Pop-Zeitschrift». Bassler aktualisierte hier den von Umberto Eco in «Die Struktur des schlechten Geschmacks» verwendeten Begriff «Midcult», ein Kunstwort für jenes mittlere Kulturniveau, das zwischen den zu Recht ausser Dienst gestellten Kategorien E und U (für sogenannt ernste und unterhaltende Kultur) liegt. Ecos Aufsatz war schon 1964 erschienen, und zwar im Sammelband «Apokalyptiker und Integrierte», einer für die linke Kulturkritik jener Jahre wegweisenden Arbeit.
Anders als Eco geht es Bassler nicht um ideologiekritisch unterfütterte Geschmacksurteile, sondern um den Versuch, das weite Feld des Populären in Literatur und anderen Erzählmedien als kulturelles Phänomen zu analysieren. Die Einsichten, die Bassler in der «Pop-Zeitschrift» skizziert hatte, lösten bei Macherinnen, Kritikern und Jurorinnen von Literatur engagierte Diskussionen aus – was Bassler wiederum veranlasste, seine Position jetzt im Buch «Populärer Realismus» (2022) ausführlicher darzulegen.
Bassler geht von einer generellen Beobachtung aus, deren Relevanz für die Beurteilung von Literatur er an zahlreichen Beispielen aufzeigt. Seine Arbeitshypothese, die er im Weiteren genauer analysiert, formuliert er gleich auf der ersten Seite der Vorbemerkungen:
«Wie der International Style in der Architektur, so hat sich ein Populärer Realismus des Erzählens unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu einem globalen Erfolgsmodell entwickelt. Er prägt heute beinahe das gesamte Spektrum unserer narrativen Formen, von anspruchslosen Thrillern und Kriminalromanen über die Fantasy-Literatur und den Mainstream des gehobenen Buchmarktes bis hin zu international hochgeschätzten, mit Preisen versehenen Werken ‘mit Anspruch’.»
Unsichtbare Sprache
Der hier festgestellte Realismus liegt nicht in dem, was erzählt wird, sondern wie es erzählt wird. Populärer Realismus benutzt, so Basslers Analyse, eine Sprache, die sich gewissermassen unsichtbar macht, weil sie immer schon vertraut ist. Dergestalt realistische Sprache legt dem Lesen keinerlei Störungen und Widerstände in den Weg, sie macht niemals auf sich selbst aufmerksam, sondern treibt mit kleinstmöglichem Aufwand die Erzählung voran.
Aus diesem Grund sind solche Texte auch mühelos übersetzbar, sie sind «born translated», genuines Transfermaterial, und zwar nicht nur zwischen Sprachen, sondern auch zwischen Medien. Was im Sinn des Populären Realismus geschrieben ist, lässt sich sowohl ohne Schwierigkeiten übersetzen als auch problemlos in ein Filmdrehbuch übertragen. Das erleichtert die profitable Etablierung kommerzieller Verwertungsketten.
Die internationale Dominanz dieses Erzählstils ist demnach nicht allein mit einem bestimmten vorherrschenden Publikumsgeschmack zu erklären, sondern in erster Linie mit Gesetzmässigkeiten des Literatur- und Filmmarkts: Erzählprodukte nach der Fasson des Populären Realismus funktionieren wirtschaftlich, indem sie auf der einen Seite leicht konsumierbar und auf der anderen Seite rationell herstellbar und tendenziell global und multimedial zu verwerten sind.
Unberechtigter Kunstanspruch
Doch Bassler gibt sich nicht mit dieser etwas platten Markt- und Konsumkritik zufrieden. Er stellt sich auch der Tatsache, dass sehr viele Leserinnen und Leser genau diesen vorherrschenden Literaturtypus nicht nur bevorzugen, sondern oftmals frenetisch feiern. Bassler stellt klar, dass er mit Unterhaltungsliteratur und ihren Fanzirkeln kein Problem hat. Einwände erhebt er aber dort, wo eine im Populären Realismus zu verortende Literatur mit einem unberechtigten Kunstanspruch einhergeht.
Daniel Kehlmann, einer der erfolgreichsten Autoren der angeblich «gehobenen» Literatur, bewegt sich nach Basslers Auffassung in eben dieser Grauzone. Er wirft ihm vor, in seiner eigentlich durchwegs populärrealistischen Schreibweise eine Literarizität vorzutäuschen, die vom Text nicht eingelöst sei. In mehreren von Kehlmanns Büchern sind es unbegreifliche Genies, die in oberflächlicher Weise Bedeutsamkeit suggerieren. Und im Erfolgsroman «Die Vermessung der Welt» gibt es magische Einsprengsel, etwa wenn plötzlich ein UFO auftaucht. Bassler erkennt darin den Trick, mittels Anlehnung an «magische» Schreibweisen der modernen lateinamerikanischen Literatur von deren Prestige zu zehren.
Für Bassler ist klar, dass Kehlmann «gehobene» Literatur bloss simuliert. Die Genialität seiner Genies wird lediglich behauptet, aber im Text nicht gezeigt; die Exotik der magischen Einschübe ist der Erzählung bloss aufgeklebt, charakterisiert diese aber nicht. Beides, das Genie-Motiv und das Magische, sind bei Kehlmann Attraktoren ohne Substanz, und sie sind danach ausgewählt, den populärrealistischen Fluss der Narration möglichst wenig zu stören. Die Leserschaft, so das Kalkül, soll den Eindruck «richtiger» Literatur haben, aber dabei nicht gefordert werden.
In früheren Zeiten mögen aussergewöhnliche Erzählmotive wie Heldentaten oder Übersinnliches eine realistische Schreibweise nötig gehabt haben, um sich glaubhaft zu machen. Heute, so Bassler, ist eher das Umgekehrte der Fall: Die realistisch geschriebenen Geschichten benötigen extraordinäre inhaltliche Effekte, um nicht trivial zu wirken. Vielfach führt dies literarisch und filmisch zu den sattsam bekannten Exzessen der Grausamkeit und des Ekels.
Das Schwere als literarischer Bedeutungsmarker
In der deutschen Nachkriegsliteratur stösst Bassler laufend auf moralistische Darstellungen von NS-Verbrechen oder einschlägigen sozialen Problematiken, bei denen das Einverständnis mit einem nicht befragbaren Urteil von vornherein klar ist. Es sind Schilderungen, die keine Ambivalenzen oder Irritationen kennen und sich damit begnügen, die Gewichtigkeit des Bösen auszubeuten. Das Schwere wird so zum literarischen Bedeutungsmarker.
Selbstverständlich haben solche Darstellungen immer recht, aber «Rechthaben ist nicht poetisch». Indem Bassler dies konstatiert, verweist er auf den Kern des Literarischen, die Poiesis (griechisch für: das Machen). Bei Paul Klee heisst es: «Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.» Ebendies gilt auch für literarisches Schreiben. Es macht Dinge sichtbar, und genau dieses poetische «Machen» ist die sprachliche Leistung und damit die Essenz von erzählender Literatur.
Populärer Realismus hingegen wird dieser poetischen Aufgabe nicht gerecht. Er sucht die Mühen des textlichen Machens stets zu überspringen, indem er eine instrumentelle Sprache der Klischees und der Selbstverständlichkeiten benutzt. Das ist für unterhaltende Genres sinnvoll und in Ordnung; im Falle von Literatur mit Kunstanspruch hingegen führt die abgekürzte Machart zu verlogenen Texten.
Die Wirklichkeit ist nicht realistisch
Bassler hierzu: «Das Problem des Populären Realismus besteht ja, pointiert gesprochen, darin, dass die Wirklichkeit nicht realistisch ist.» Das so Zugespitzte trifft tatsächlich den Kern: Populärrealistische Schreibweisen orientieren sich an problemloser Lesbarkeit und gerade nicht an der Realität. Denn diese hat spätestens seit der Psychoanalyse, den modernen Naturwissenschaften und anderen Hinterfragungen des scheinbar Offensichtlichen ihre schlichte Anschaulichkeit verloren. Wirklichkeit in Sprache fassen zu wollen, führt in die dünne Luft der metaphysischen Spekulation, in die Hybris der blossen Behauptung oder in beides. Bassler konstatiert: «Das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit ist problematisch geworden.»
Der Autor verschont seine Leserschaft nach Möglichkeit mit literaturwissenschaftlicher Fachsprache. Dass er jedoch den ausserhalb der Literatur- und Filmwissenschaft kaum geläufigen Begriff der Diegese ins Spiel bringt, hat gute Gründe. Der Fachterminus meint die mit textlichen oder filmischen Signalen hervorgerufene Vorstellung eines Settings, in dem – wie in einer «bewohnbaren» Welt – die Erzählung sich abspielen kann. Die Diegese ist eine räumliche und zeitliche Gegebenheit, die Leserinnen und Zuschauern erlaubt, sich auch ohne vollständige Schilderung des Erzählumfelds im Text oder im Film unbewusst zurechtfinden.
Bassler beobachtet nun in populärrealistischen Genres eine Verschiebung von der Narration zur Diegese. Vor allem bei seriellen Produkten übt Letztere durch Repetition einer immer vertrauteren Welt für das Publikum eine starke Anziehungskraft aus. Es fühlt sich in der Welt Harry Potters, im Revier des Münchener Tatorts, im Neapel Elena Ferrantes oder im Mittelerde von «Herr der Ringe» so sehr zuhause, dass Bassler zur Ansicht neigt, solche Diegesen bildeten für das Publikum eine Art virtuelle Beheimatungen und seien zumindest in Erzählserien sogar wichtiger als die eigentlichen Geschichten.
Die Gewichtsverlagerung zur Diegese ist ein Hauptmerkmal des Populären Realismus. Sie ist entscheidend für die kommerzielle Verwertung: Diegesen unterstützen die kostensparende Serienbildung, sind Grundlage für das erfolgreiche Branding der Serien und legen die Basis für die kommerziell wichtige Übertragung in andere Medien, insbesondere auch in die Welt der Computergames, die namentlich im Fantasy-Genre mächtig boomt. Die Game-Industrie hat diejenige von Literatur und Film wirtschaftlich längst überholt.
Moral als Zutat
Nun hat allerdings die Erzählliteratur schon immer so etwas wie bewohnbare Welten evoziert. Man hat das aber nicht so bemerkt, weil die Narration im Vordergrund stand. Inzwischen hat sich das gedreht mit der Folge, dass die Literatur immer wieder die Nachfrage nach virtueller Beheimatung befriedigen muss. Dies aber, so Bassler, widerstrebe dem künstlerischen Selbstbild der Literaturschaffenden. Die Folge: Sie befriedigen die Publikumswünsche, tun es aber mit schlechtem Gewissen. Um dieses zu besänftigen, bringen sie das Element der Moral ins Spiel – eine Zutat, die mit dem Bedürfnis nach Beheimatung fabelhaft harmoniert.
Dieses instrumentell eingesetzte Moralische versteht sich – im Unterschied zum Ästhetischen – immer von selbst. Das zu schnelle moralistische Verstehen in Erzählungen läuft stets über die Inhalte; die Sprache ist dabei als Instrument der bewussten kritischen Wahrnehmung quasi ausgeschaltet und funktioniert nur als Transportmittel der Erzählung. Eine ästhetische Sprache jedoch (das griechische Aisthesis bedeutet Wahrnehmung) legt ein Verständnis nicht vorschnell fest. Sie verträgt sich daher nicht mit den Selbstverständlichkeiten einer als blosse Zutat genutzten Moral.
In diesem vorschnellen Urteilen des Populären Realismus steckt eine strukturelle Lüge, die schon Umberto Eco seinerzeit angeprangert hatte. Sie besteht darin, dass der «neue Midcult» stets das als bedeutende Literatur ansieht, was man ohnehin für richtig hält. «50'000'000 Ferrante-Fans can’t be wrong.» Man hört Bassler seufzen. Und erst recht kann Literatur, die den Faschismus schlimm, jegliche Art von Unterdrückung übel und die Zerstörung der Natur verwerflich findet, ja nur richtig und gut sein.
Was ist das Problem? Das Problem ist die Abkürzung des literarischen Erkenntnisprozesses mittels einer toten, schematischen Sprache ohne Sinn für Vieldeutiges und Hintergründe – oder kurz: die Ersetzung des Literarischen durch das Weltanschauliche.
Rechthaben und Ressentiments
Bassler fasst es so zusammen: «Es geht mir zu schnell mit den selbstverständlichen Übereinkünften, mit dem Verstandenhaben und Einverstandensein. Was immer sich von selbst versteht, ist kein würdiger Gegenstand von Literatur.»
Doch genau solche Literatur wird immer wieder ausgezeichnet. Bassler nennt als Beispiel Anke Stellings «Schäfchen im Trockenen» (2018). Der Roman holte den Preis der Leipziger Buchmesse und sogar den Hölderlinpreis. In der Kritikerszene, so berichtet Bassler, habe einzig Iris Radisch Einspruch erhoben und moniert, hier zeichne die Jury «ein literarisch unbedarftes Werk aus, weil es so tapfer und sozial engagiert» sei.
Nach der Besichtigung zahlreicher weiterer Beispiele kommt Bassler zum Befund, der neue Midcult setze auf Beglaubigung durch erzählte Diskriminierungserfahrungen. So entstehe «keine Offenheit des Diskurses, wie man es sich von Kunst wünschte, sondern eine selbstbezügliche Schliessung im Sinne des Immer-schon-Rechthabens und des Ressentiments».
Ambiguitäten, die der Literatur guttun
Als positives Gegenbeispiel erwähnt Bassler Lisa Krusches Debütroman «Unsere anarchistischen Herzen» (2021), ein Werk, das es nach seiner Beurteilung schafft, eine Gegenwarts- und Milieusprache zum tragenden Grund einer Erzählung zu machen, die ohne Kitsch von Solidarität handelt.
Besonders angetan ist der Autor von Mithu Sanyals «Identitti» (2021). Der Roman bringe die Identitätsproblematik an die Oberfläche des Konkreten und hole die Ambiguitäten ein, die der Literatur guttun. Identität als «notwendige Lüge» (Kwame Anthony Appiah) sei als Konzept der literarischen Bearbeitung eines Gegenwartsthemas ein Glücksfall.
Grosses Lob gibt es auch für Slata Roschals Debütroman «153 Formen des Nichtseins» (2022), einen aus Miniaturen montierten Text, der mit grosser Raffinesse eine in vielen Widersprüchen verstrickte Lebenssituation umreisse. Bassler sieht in dem Buch ein Musterbeispiel post-postmoderner Literatur.
Literatur des Möglichkeitssinns
Aus den vielen von Bassler zum Teil ausführlich untersuchten Titeln sei wenigstens noch Leif Randts «Allegro Pastell» (2020) erwähnt, ein Roman, den Bassler in einer Zeit nicht vor oder nach, sondern «neben unserer Zeit» angesiedelt sieht. Dessen postmoderne Überreflektiertheit könne man auch als postironische Ernsthaftigkeit lesen. Randt gestalte das Gute, ohne es als bereits Erreichtes zu behaupten.
Bassler entdeckt in seiner kritischen Umschau mehrere literarische Versuche, die in Anlehnung an Musils Motiv des Möglichkeitssinns diegetische Zeichen als Verweise auf einen narrativ erschlossenen Möglichkeitsraum setzen. Es seien zukunftsoffene Reflexionen im Medium ästhetischer Sprache, die sich an einem «guten Realismus» versuchten.
Bassler verwendet für diese sich aus den Zwängen des Gegebenen hinaus arbeitende Gattung den nicht ganz schlüssigen Terminus «Kalkülroman». Er spricht auch von «paradigmatischem Realismus». Solche Begriffsverlegenheit zeigt, dass offenbar neuartige literarische Strömungen zutage treten, die Moral nicht als Vehikel zur Schaffung von Gesinnungsgemeinschaften verstehen, sondern als Horizont einer Orientierung in der unübersichtlichen Gegenwart mittels Literatur.
Dabei macht, so Bassler weiter, das realistische Verfahren die Lektüre leicht und genussreich. «Ein gelungenes ästhetisches Erlebnis ist immer auch ein Luxus und ein Vergnügen, selbst wenn die verhandelten Gegenstände ernst sein mögen.»
Moritz Bassler: Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens. C.H. Beck 2022, 407 S.