Seit 2011 gibt es geheime Gespräche zwischen den Taleban und den USA, die aber über diplomatische Kanäle von Drittstaaten geführt wurden. Die deutsche Diplomatie spielte dabei eine Rolle, später auch jene anderer europäischer Staaten, und die pakistanischen Geheimdienste wurden mehrmals eingeschaltet, weil sie sich als unentbehrlich erwiesen. Das Oberhaupt der Taleban, Mullah Omar, lebt unter Behütung durch ISI, den pakistanischen Geheimdienst, in Quetta, der Hauptstadt von pakistanisch Belutschistan.
Das Angebot Katars
Doch der zweite Mann der Taleban, Mullah Berader, befindet sich in einem pakistanischen Gefängnis. Lange Zeit konnte er frei agieren. Doch im Februar 2010 sperrten die pakistanischen Geheimdienste ihn ein, wahrscheinlich weil er Anstalten machte, direkt mit den Amerikanern zu verhandeln, statt Pakistan einzuschalten..
Zu den diplomatischen Vermittlern gehört auch Katar, das sein Staatsgebiet als den Standort eines politischen Büros anbot, von dem aus die Taleban ihre Verhandlungen mit den Amerikanern führen könnten. Dieses Büro wurde am 19. Juni in Katar in Beisein des Vizeaussenministers des Landes offiziell eingeweiht, und es hiess die direkten Verhandlungen zwischen den Taleban und den Amerikanern würden nun beginnen.
Karzai fühlt sich übergangen
Die vorausgehenden Kontakte hatten mehrmals Rückschläge erlitten wegen der Proteste der offiziellen Regierung von Afghanistan unter Präsident Karzai. Karzai ist nicht gegen Verhandlungen. Er hat sogar eine eigene Hohe Versöhnungsautorität ernannt, die Kontakt mit den Taleban suchen und womöglich Friedensschritte in die Wege leiten soll.
Doch die Taleban sind nicht bereit, mit Karzai zu sprechen. Sie sehen ihn als eine "Marionette der Besatzungsmacht USA" an. Sie beanspruchen, selbst die legitime Regierung Afghanistans zu sein. Sie nennen ihr Regime bei dem Namen, den es besass, bevor die Amerikaner ab 2002 gegen dieses Krieg führten: das Islamische Emirat Afghanistan.
Die USA haben ihre Gründe
Trotz dieser Grundhaltung der Taleban sind die Amerikaner daran interessiert, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Sie hoffen dass es möglich werde, allmählich die beiden feindlichen Mächte, die einander in Afghanistan bekämpfen, miteinander ins Gespräch zu bringen, so dass sie am Ende möglicherweise einen Kompromiss schliessen könnten, der ihnen erlauben würde, Afghanistan gemeinsam zu regieren, statt einander, wie es heute der Fall ist, in einem Guerilla- und Bombenkrieg zu zerfleischen.
Dies ist "a long shot", wie die Amerikaner sagen würden. Doch man kann sich vorstellen, dass er nicht daneben gehen könnte, weil allerhand rationale Gründe bestehen, die dafür sprechen, dass ein Kompromiss über Afghanistan angestrebt werde, sowohl für die Regierungsseite, die bis 2014 von Karzai geleitet werden wird. (Später müssten Neuwahlen stattfinden, in denen Karzai nicht mehr kandidieren kann). Wie auch für die Amerikaner und Nato-Truppen, die nur bis Ende 2014 im Lande bleiben wollen.
Allerdings ziehen sie in Betracht, dass sie auch später noch die neue afghanische Armee weiter beraten und ausbilden könnten. Verhandlungen über dieses künftige Verhältnis der Amerikaner und möglicher Alliierter zur künftigen Regierung Afghanistans, die jener Karzais nachfolgen würde, werden gegenwärtig in Kabul geführt.
Die neue afghanische Armee
Ein zentraler Stein in dem - eher brüchigen - Gebäude des gegenwärtigen und möglicherweise zukünftigen Afghanistan ist die von den Alliierten finanzierte, bewaffnete und ausgebildete und von Karzai und seiner Regierung aufgestellte neue afghanische Armee. Sie besteht gegenwärtig aus 170 000 Mann und soll künftig auf 200 000 anwachsen. Doch ihre Desertionsrate beträgt 30 Prozent !
Und neben Deserteuren kennt diese Armee auch "insider killings", das sind Mordanschläge von Soldaten und manchmal auch Offizieren auf ihre amerikanischen oder anderen Nato-Ausbilder. Sie kommen so häufig vor, dass diese Ausbilder Weisung erhielten, ihre Körperschutz-Westen und anderen Einschüsse abwehrenden Personenpanzer auch dann nicht abzulegen (man schwitzt natürlich darin über die Massen), wenn sie mit ihren Auszubildenden Tee trinken.
Wie wird sie bezahlt werden?
Die Armee kostet 16 Milliarden Dollar im Jahr. Die Ausgaben für ihre Bewaffnun nicht mitgerechnet. Die Gesamteinnahmen des afghanischen Staates betragen 2 Milliarden im Jahr. Bisher haben die Amerikaner und Nato-Mächte diese Armee finanziert. Etwa 80 Prozent der afghanischen Soldaten sind Analphabeten, und viele von ihnen sollen mehr oder weniger drogensüchtig sein. Diese Verhältnisse zu kennen, ist wichtig, wenn man die Position der Regierung Karzais und ihrer möglichen künftigen Nachfolgeregierung einschätzen will. Karzai besitzt wenig Druckmittel auf die Amerikaner und Nato-Staaten, nur gerade die Möglichkeit verbaler Proteste. Die westlichen Staaten sind für ihn unentbehrlich. Sie werden jedoch das Land Ende 2014 verlassen.
Die möglichen Ziele der Taleban
All dies ist natürlich den Taleban bekannt und wird von ihnen in Rechnung gestellt. Sie haben ein Interesse daran, mit den Amerikanern ins Gespräch zu kommen, um Zeit zu gewinnen und ihr Überleben während der nächsten anderthalb Jahre sicherzustellen und um möglicherweise die Blutopfer zu reduzieren, die von ihnen und von den Nato- und afghanischen Kräften in dem bevorstehenden Endspurt um Macht über das unglückliche Land erbracht werden müssen. Für sie geht es wahrscheinlich primär darum, die nächsten 18 Monate möglichst unbeschädigt zu überstehen, bis die westlichen Truppen abgezogen sein werden.
Die Taleban haben auch ein dringendes Bedürfnis, möglichst rasch von möglichst vielen Ländern als mehr denn eine Rebellengruppierung in Afghanistan anerkannt zu werden. Sie möchten Karzai und seine Regierung am liebsten delegitimieren und selbst als die legitime Herrschaft über Afghanistan auftreten und anerkannt werden. Die Verhandlungen mit den USA, gleich ob sie Resultate erbringen oder auch nicht, sind für sie ein erster Schritt, um sich als "Staat" und künftige Staatsmacht in Afghanistan zu profilieren.
Amerikas Rechnungen und Hoffnungen
Die Amerikaner beteiligen sich an diesem Spiel, weil sie hoffen, dabei für sich selbst einen erleichterten Abzug aus dem umkämpften Land einzuhandeln und vielleicht sogar für Afghanistan einen Kompromiss, der die Aufstellung einer künftigen handelsfähigen und das ganze Land beherrschenden afghanischen Regierung ermöglichte, die soweit "demokratisch" ausfiele, dass sie die erbrachten Opfer der Amerikaner und Nato-Staaten entweder rechtfertige, oder doch immerhin für eine erste Übergangszeit zu rechtfertigen scheine.
Ein Misstrauensbeweis gegenüber Karzai
Eine solche Zielsetzung der Amerikaner und der beteiligten westlichen Staaten bedeutet natürlich, dass auch sie befürchten, die Karzai- Regierung werde nach ihrem Abzug keinen aktionsfähigen Nachfolger finden, der in der Lage sein könnte, das Land zu befrieden und es vielleicht sogar auf mehr oder weniger demokratischem Wege voranzuführen.
Natürlich ist eine derartige stillschweigende Annahme eine Desavouierung Karzais und seines, offiziell von den Nato-Kräften geschaffenen, gestützten und weitgehend finanzierten Regimes. Die Zielsetzung macht deutlich, dass die NATO Mächte realistischerweise dem gegenwärtigen Karzai-Regime nicht wirklich zutrauen, dass es nach ihrem Abzug von 2014 zu überleben vermöchte. Diese nicht ausgesprochene aber durch den Verhandlungswunsch dokumentierte Einschätzung des gegenwärtigen afghanischen Regimes durch seine eigenen Schöpfer, Verteidiger und Finanzierer erklärt die Empfindlichkeiten Karzais.
Wenn es ihm gelänge, mit der Taleban zu verhandeln, wäre sein Prestige als immerhin eine für die Zukunft seines Landes zählende Macht einigermassen bewahrt. Doch wenn die Amerikaner mit den Taleban sprechen und diese sich nicht bereit zeigen, auch mit Karzai zu verhandeln, werden er und die Zukunft seines Regimes beiseite geschoben. Die Zukunft Afghanistans würde dann von den Amerikanern und den Taleban ausgehandelt und festgelegt.
Zusagen der USA an Karzai
Um die Zustimmung Karzais zu den amerikanischen Gesprächen mit den Taleban zu erlangen, haben diese offenbar gegenüber Karzai Versprechungen abgegeben, "Schriftliche Versprechen Obamas" hat Karzai erklärt. Wie genau sie formuliert wurden, weiss man nicht. Doch sie müssen besagt haben, dass die Amerikaner mit den Taleban die Gespräche beginnen, jedoch dann darauf dringen würden, dass auch die Karzai Regierung in sie einbezogen werde.
Wie weit sie dazu die Zustimmung der Taleban in den langen Vorgesprächen erlangten, ist unbekannt. Doch jedenfalls haben die Taleban Unterhändler in ihren offiziellen Aussagen vermieden, ausdrücklich künftigen Gesprächen mit Karzai und seinen Regierungsvertretern zuzustimmen.
Die Delegation Karzais wartet in Katar
Karzai hat eine Delegation nach Katar entsandt. Sie wartet dort darauf, auch ihrerseits mit den Taleban Gespräche zu beginnen. Doch die Taleban haben bis jetzt nicht erklärt, sie würden mit ihr sprechen. Sie haben erklärt, sie seien gewillt, mit allen Nachbarländern und überhaupt allen Staaten der Aussenwelt ohne Gewalt und friedlich zusammen zu leben.
Doch auf einen Gewaltverzicht in Afghanistan selbst, weder gegenüber den Amerikanern und Nato-Kräften, noch gegenüber Karzai, haben sie sich nicht festgelegt. Möglicherweise hatten die Amerikaner auf einen solchen gehofft. Wahrscheinlich würden sie ihn als ein Hauptziel in den Verhandlungen mit den Taleban anstreben, falls diese wirklich zustande kommen und Fortschritte aufweisen.
Schlussendlich, so erklären die amerikanischen Diplomaten, müssten die Afghanen unter sich ins Gespräch kommen - das heisst die Karzai Regierung und die Taleban, wenn die Verhandlungen für ein künftiges Afghanistan Frucht bringen sollen.
Diplomatischer Eclat in Doha
Angesichts dieser komplexen Lage mit den drei unterschiedlichen Zielsetzungen der drei Verhandlungspartner ist es bereits vor dem Beginn der angezeigten Gespräche in Katar zu einem diplomatischen Zwischenfall gekommen. Die Taleban hatten ihrem politischen Büro das Gesicht einer Botschaft verliehen, indem sie über dem ihnen von der Katar-Regierung zur Verfügung gestellten schmucken Gebäude ihre Flagge aufzogen und ein Schild anbrachten, das das Büro als die Botschaft des islamischen Emirates Afghanistan bezeichnete.
Karzai zeigte sich in Kabul empört. Um seiner Empörung Nachdruck zu verschaffen, suspendierte er die zur Zeit laufenden Unterhandlungen mit den Amerikanern über die rechtliche Position der nach dem Abzug verbleibenden amerikanischen Hilfstruppen und Militärausbilder.
Das Büro bleibt Büro
Die Behörden von Katar schritten ein und bewirkten, dass das Schild an dem Büro ausgewechselt und die Flagge nicht mehr von aussen sichtbar aufgehängt wurde. Karzai nahm seine Suspendierung der Verhandlungen mit den Amerikanern zurück. Die angezeigten Verhandlungen in Katar haben noch nicht wirklich begonnen. Doch sie werden möglicherweise doch noch zustande kommen.
Vier amerikanische Tote
Die Lage zwischen den Amerikanern und den Taleban wurde dadurch weiter belastet, dass am Tag der offiziellen Eröffnungszeremonie in Katar, dem 19. Juni, in Afghanistan vier amerikanische Soldaten durch einen Feuerüberfall der Taleban auf die grosse Luftwaffenbasis von Bagram um ihr Leben kamen. Die Taleban erklärten, sie hätten zwei grosse Raketen abgefeuert.
Doch sind es die gleichen Taleban, die in Katar verhandeln wollen? Oder ist dies eine Gruppen von Taleban-Extremisten, welche die Idee von Verhandlungen ablehnen? Dass es solche Gruppen gibt, ist bekannt. Doch wie bedeutend sie sind und in welcher Position sie sich gegenüber der offiziellen Talebanführung unter Mullah Omar befinden, ist unbekannt.
Doch noch Gespräche?
Möglicherweise warten die Amerikaner nun auf "Erklärungen" von Seiten der Taleban-Unterhändler, bevor sie sich zur effektiven Aufnahme der theoretisch bereits eröffneten Gespräche entschliessen.
Auch auf der amerikanischen Seite gibt es Kritik an dem Verhandlungsplan, öffentlich durch die "Hard line"-Senatoren wie aber auch diskreter durch das Pentagon, das die Wünsche der amerikanischen Streitkräfte zum Ausdruck bringt.