Das endgültige Resultat soll 92,73 Prozent für die Unabhängigkeit ergeben haben. Der Ausgang stand nie im Zweifel. Die Frage: „Willst du, dass die kurdische Region und kurdische Gebiete ausserhalb der Region ein unabhängiger Staat werden?“, musste angesichts der langen Leidensgeschichte der Kurden und ihrer zähen Kämpfe um einen eigenen Staat mit „Ja“ beantwortet werden.
Hundert Jahre warten
„Seit hundert Jahren haben wir auf diesen Augenblick gewartet“, sagte einer der Wähler. „Der stolzeste Tag in meinem Leben!“, ein anderer. „Wir haben sieben Nächte nicht geschlafen aus Angst, dass das Referendum doch noch abgesagt werde“, berichtete eine Kriegswitwe mit ihren Töchtern. „Nun wissen wir, dass unser Vater sein Leben nicht vergeblich verloren hat“, fuhr sie fort.
Es gibt kurdische Parteien, vor allen „Gorran“, die grösste Oppositionspartei, die sich gegen das Referendum ausgesprochen haben. Sie glaubten, es komme nicht zur richtigen Zeit und es diene in erster Linie Präsident Masoud Barzani, um seine Macht über Kurdistan festzuschreiben. Doch die Frage nach einem eigenen Staat ist für so viele Kurden dermassen wichtig und emotional, dass die Parteileute selbst wussten, dass das Referendum ein „Ja“ zur Unabhängigkeit ergeben würde.
Verfassungswidrig?
Was jedoch ungewiss bleibt, sind die Reaktionen, die das Referendum hervorrufen wird. Bagdad hat den Vorgang als illegal und verfassungswidrig erklärt. Barzani war in den Tagen nach Bagdad gereist, um sich mit Ministerpräsident Abedi zu besprechen. Doch er konnte keine Einigung erreichen. Abedi schlug den Kurden sogar eine Wahlallianz für die auf Frühling 2018 bevorstehenden Parlamentswahlen vor, wenn sie von dem Referendum absehen wollten. In den Augen des Ministerpräsidenten ist das Referendum illegal, weil die irakische Verfassung von 2005 – aus der Zeit der amerikanischen Besetzung – von einem „föderalen“ Staat Irak spricht und auch festlegt, dass über die zwischen der Regierung und den Kurden umstrittenen Gebiete „bis zum Jahr 2007“ eine Einigung erreicht werde.
Dies geschah nie. Die Diskussion über die „umstrittenen Gebiete“ wurde stets aufgeschoben, weil die beiden irakischen Ministerpräsidenten seit jener Zeit, zuerst Nuri al-Maleki, dann und bis heute Haidar al-Abadi, der Unterstüzung der Kurden im irakischen Parlament bedurften, um an der Macht zu bleiben. Die Erdölstadt Kirkuk gehört zu den „umstrittenen Gebieten“, die sich heute unter der Besetzung durch die Pasdaran befinden. Diese haben bedeutende Teile der „umstrittenen Gebiete“ gegen den anstürmenden IS teils gehalten, teils später zurückerobert, als die irakische Armee 2014 zusammenbrach. Seither befinden sie sich unter ihrer Kontrolle.
Wenn es um „Unabhängigkeit“ an der Stelle von „Autonomie“ für die Kurden gehe, so Abedi und ganz Bagdad, müsste zuerst die Verfassung geändert werden. Barzani entgegnet, dass niemand die Kurden daran hindern könne, auf demokratischem Wege über ihre Präferenzen und Wünsche abzustimmen. Er gibt zu, dass das Referendum an sich nicht die Unabhängigkeit Kurdistans bewirken könne. Nach dem Referendum möchte er „ein oder zwei Jahre“ mit Bagdad verhandeln. Das Referendum werde allerdings dazu dienen, seine Verhandlungsposition zu stärken.
Zuerst die irakischen Wahlen?
Doch die Frage ist, ob Abedi überhaupt zu verhandeln gewillt sein wird. Die politischen Beobachter nehmen an, dass er dies nicht tun will und auch nicht tun kann, angesichts seiner Meinung von der Verfassungswidrigkeit des kurdischen Schrittes, aber auch, und besonders, angesichts der bevorstehenden Wahlen. In diesen wird es darum gehen, ob die Schiiten Abedi oder dessen pro-iranische Rivalen begünstigen. Die pro-iranischen Schiitenparteien stehen unter der Führung von Ex-Ministerpräsident Nuri al-Maleki und geniessen die Unterstützung der Führung der radikaleren unter den schiitischen Volksmilizen. Die pro-iranischen Gruppen sprechen jetzt schon von militärischen Massnahmen, die man gegenüber den Kurden, vor allem in Kirkuk, zu treffen habe, und sie erklären ihre Bereitschaft, für die Einheit des Iraks und für Kirkuk zu kämpfen „und zu sterben“. Der Ministerpräsident selbst hält sich bedeckt. Er hat nach Barzanis fehlgeschlagenem Besuch der letzten Stunde einzig erklärt, er gedenke alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, um die Einheit des Iraks zu gewährleisten.
Drohungen aus Bagdad, Ankara,Teheran, Damaskus und Washington – alles wenig konkrete Drohungen, die eher unbestimmt formuliert sind, kommen sowohl aus der Türkei wie auch aus Iran. Die Iraner haben einen konkreten Schritt angekündigt. Sie erklärten die iranische Grenze zu Kurdistan als geschlossen. Zuerst wurde dies angedroht mit der Begründung, die Grenzverträge seien mit dem Irak und nicht mit Kurdistan vereinbart. Später hiess es, die Schliessung der Grenzen sei auf Wunsch Bagdads erfolgt. Die türkische Drohformel, ausgesprochen von Präsident Erdogan, lautet, die Türkei werde alles Nötige tun, um zu verhindern, dass das Referendum ihr Schaden verursache. Sie war begleitet von einem Parlamentsbeschluss, der die Bewilligung für den Einsatz von türkischen Truppen im Ausland verlängerte. Diese Erlaubnis war schon im August 2016 für die militärische Aktion der Türkei in Nordsyrien erteilt worden.
Drohungen und Schulterzucken
Der Parlamentsbeschluss wurde unterstrichen durch Armeemanöver an der kurdisch-irakischen Grenze. Die Türkei und Iran und der Irak haben die internationalen Flüge nach Erbil eingestellt, die ihren Luftraum durchquerten. Doch die inner-irakischen Flüge zwischen Bagdad und Erbil bestehen weiter. In einer Rede erklärte Erdogan, die Türkei könne Kurdistan den Erdölhahn abdrehen. Dies bezieht sich auf die Erdölleitung, die von Kurdistan nach der Türkei und zum dortigen Mittelmeerhafen von Ceyhan führt. Doch bis heute wurde die Rohrleitung nicht gesperrt. Erdogan sprach auch vom „Aushungern“ und von einer möglichen Grenzsperre für den Warenverkehr zwischen der Türkei und der Kurdischen Autonomieregion.
Auch die Amerikaner rieten ab von dem Referendum und drohten, sie könnten ihre Unterstützung der irakischen Kurden aufgeben oder vermindern. Sie fürchten, ein Streit, der im Irak über Kurdistan ausbräche, könnte ablenken von dem gemeinsamen Kampf gegen den IS und diesem eine neue Chance bieten, sich wieder zu festigen. Die syrische Regierung erklärte sich gegen die Unabhängigkeit aller Kurden. Einzig Israel sprach sich für ein unabhängiges Kurdistan aus. Barzani und die Seinen geben sich zuversichtlich. Sie glauben, dass all diese Drohungen keine weiteren Folgen aufweisen werden, weil sie beiden Seiten Schaden brächten, nicht nur den Kurden, und auch weil schliesslich niemand einen weiteren Krieg im Nahen Osten auszulösen und zu kämpfen gedenke. Aber sie fügen hinzu, wenn gekämpft werden müsse, seien sie bereit zu kämpfen.