Die Reiseberichte unter der Rubrik „Auf Europas Flüssen“ haben viele Fans. 40 solche Artikel hat Dieter Imboden seit 2014 verfasst. Hier ist nun der letzte der Reihe.
„Anker“, rufe ich meiner Frau am Bug des Schiffes zu, „Wassertiefe drei Meter“. Die Ankerkette scheppert, und die erfahrene Schiffersfrau hält die Winde im richtigen Moment an. Die Solveig dreht sich leicht nach links, wird langsamer, dann bleibt der Schiffsbug, gebremst durch die schräg im Wasser verschwindende Kette, für einen kurzen Moment stehen und dreht zurück. Der Anker hat gegriffen.
Ich stoppe den Motor. In die plötzliche Stille hinein dringen allmählich die Geräusche der Umgebung, das Schnattern der Enten, welche neugierig auf das Schiff zuschwimmen, das heisere Rufen der Möwen, das Brummen der ersten Wespen, welche uns vom Ufer aus geortet haben.
Spätsommerabend auf der Havel
Es ist der 22. August, ein weiterer heisser Sommertag, an dem man den Schatten oder das kühlende Wasser sucht. Wir liegen in Brandenburg auf der unteren Havel zwischen Plaue und Rathenow, ausserhalb des durch grüne und rote Bojen markierten Fahrwassers, in respektvollem Abstand zum Schilfgürtel an einer Stelle, wo der Fluss sich zu einem langgezogenen See erweitert. Mit alten Leintüchern versuchen wir uns auf dem Achterdeck vor der bereits tief stehenden, aber noch immer stechenden Sonne zu schützen. Das ist gar nicht so einfach, weil unser Schiff sich nie für eine bestimmte Ausrichtung zu entscheiden vermag und sich im leichten Wind und den Wellen der vorbeifahrenden Schiffe immer wieder dreht.
Von der hinteren Plattform lasse ich mich ins Wasser fallen und umrunde mehrmals die Solveig. Hier sind wir zum Glück von dem dichten grünen Algenteppich verschont, der auf der Haut einen öligen Film zurücklässt und sich in diesem Sommer fast überall auf den Berliner und Brandenburger Gewässern ausgebreitet hat.
Es ist ein besonderer Moment für die zweiköpfige Crew der Solveig, unsere letzte Übernachtung auf dem Wasser in der Einsamkeit der grössten schiffbaren Seen- und Flusslandschaft Europas. Morgen werden wir die wenigen Kilometer zurück nach Plaue zu unserem Freund Frank Weigt fahren, dem Hafenmeister des Wassersportvereins Buckau-Fermersleben, um mit ihm Abschied zu feiern, Abschied von der Solveig VII und von einem lieb gewordenen Freund, von dem wir in all den Jahren vieles über die verschwundene DDR, ihre einstigen Bewohner und die Wiedervereinigung der beiden Deutschland gelernt haben, wann immer wir an der Spundwand des Hafens am Abfluss der Havel aus dem Plauersee angelegt haben, gegenüber dem schon von Theodor Fontane beschriebenen Schloss (Beitrag vom 21.8.2017).
Neue Schiffersleute
Sie haben richtig gelesen, liebe Leserin, liebe Leser, die Solveig VII wird ihre Besitzer wechseln. Nicht dass uns die Schifffahrt langweilig geworden wäre – im Gegenteil, aber es war nach zwölf erfüllten Jahren auf dem Wasser an der Zeit, Raum zu schaffen für andere Dinge, welche wir im rapide kürzer werdenden „Restleben“ noch erfahren und erleben möchten.
Zudem hat uns das Glück wunderbare Nachfolger buchstäblich aufs Deck gespült, Jolande und Wilfred, Holländer und Wahlschweizer, Hochseesegler und damit besonders vertraut mit der Yacht holländischen Ursprungs, die einst dem berühmten deutschen Segler Rollo Gebhard gehört hat. Wilfred und ich waren Kollegen an der ETH in Zürich und outeten uns vor vielen Jahren am Rande einer gemeinsamen Sitzung als begeisterte Schiffersleute. Wenn wir je daran denken würden, die Solveig zu verkaufen, sollten wir ihn benachrichtigen, musste ich Wilfred damals versprechen. Und als wir in diesem Frühling tatsächlich daran dachten, tauchten er und seine Frau Jolande innerhalb einer Woche in Mecklenburg auf, wo wir am Abend eines traumhaften Ausflugs auf der Müritz jenen Handschlag tätigten, der in früheren Zeiten auf dem Viehmarkt ein Geschäft besiegelte.
Morgen treffen wir die neuen Besitzer bei Frank, um mit ihnen auf dem Mittellandkanal gemeinsam nach Wolfsburg zu fahren und so Mannschaft und Schiff den Wechsel möglichst schmerzlos zu machen. Noch aber gehört die Solveig uns, noch schaukelt unser kleines Paradies auf den Wellen, beschienen von der Abendsonne. Die Köchin, die sonst mit Leinen, Ankerwinden und vielem mehr hantiert, hat zu Ehren meines ganz in der Zweisamkeit gefeierten 75. Geburtstages etwas Besonderes gekocht. Und der Schiffsbauch spendet dazu die richtigen Weine.
Leben auf dem Wasser
Lange sitzen wir an Deck und beobachten, wie sich die Welt auf die Nacht vorbereitet. Die Enten und Blesshühner halten sich nun dicht an den Schilfgürtel. Dann erklingt in der Dämmerung das aufgeregte Rufen der Gänse, welche am dunkel werdenden Himmel den Formationsflug zu üben scheinen und dann plötzlich flussabwärts verschwinden. Nur noch selten strebt in der Seemitte ein Boot eilig seinem Hafen zu. An beiden Enden des Sees markieren blinkende rote und grüne Lichter die Stellen, wo der See in den Fluss übergeht. Am gegenüberliegenden Ufer erkenne ich das schwache Ankerlicht eines andern Schiffs, das immer stärker überstrahlt wird vom Licht des Mondes, dem nur noch wenige Tage zu seiner vollen runden Pracht fehlen.
Wir geniessen die Einsamkeit auf dem Wasser, die so anders ist als diejenige auf dem Land, bewegter und lebendiger, nicht einengend oder gar beängstigend, wie manchmal die Einsamkeit in einem finsteren Wald oder einem dunklen Tal. Nahe am Kitsch, denke ich, aber die richtige Stimmung, um eine wichtige Episode unseres Lebens ausklingen zu lassen und Rückschau zu halten: die unzähligen Kanäle, Flüsse, Seen und Übernachtungsplätze Revue passieren zu lassen, die wir im Laufe der letzten Jahre in sieben europäischen Länder kennen gelernt haben; an die Tausende von Kilometern und die Hunderte unbeschadet durchfahrenen Schleusen zu denken; auch die aufregenden, ja kitzligen Momente nicht zu vergessen, als wir im Rhein auf einer Buhne festsassen, auf der Oder über unsichtbare Sandbänke glitten oder als auf dem Jungfernsee bei Berlin mitten im Fahrwasser, gefährlich nahe an einem schweren Schubverband, das Steuerruder aussetzte.
Wir haben all das überlebt und uns nach durchgestandenen Schrecken immer wieder gesagt: Was uns nicht umbringt, macht uns stark. Und so war es dann auch: Das Schiff hat uns gelassener und zuversichtlich gemacht und damit bestens auf jenen Lebensabschnitt vorbereitet, der nun vor uns liegt, das Altwerden und Loslassen. Nur etwas fällt uns schwer, der Abschied von den vielen Menschen, die wir im Laufe der Jahre auf andern Schiffen, in Häfen und Städten getroffen haben, Menschen, die uns immer wieder geholfen haben, wenn Hilfe von aussen nötig war, die uns Orte entlang der Wasserstrassen nahe gebracht haben, deren Geschichte, deren Freuden und Nöte. Natürlich hofft man, sie nicht aus den Augen zu verlieren, aber wir alle wissen, dass viele Abschiede trotzdem für immer sind.
Abschiedstour
In den vorausgegangenen Wochen haben wir viele Orte noch einmal angesteuert, waren am Wannsee bei Günter Albrecht vom MBC, sind durch Berlin gefahren, vorbei am Kanzleramt und der Museumsinsel (Beitrag vom 26.8.2017), haben in Köpenick unsere Werft besucht, sind auf der oberen Havel nach Zehdenick zu Brigitte Brenneiser, der tüchtigen Hafenmeisterin gefahren, haben eine kulinarische Lesung im Ziegelhof erlebt – Achim in der Küche, Michael am Lesepult, diesmal mit kurzen Kriminalgeschichten, welche alle um das Thema Essen kreisten (Beitrag vom 13.9.2017). Werden wir die beiden Pioniere, welche in ein verschlafenes Provinzstädtchen eine besondere Art von Kultur gebracht haben, je wiedersehen?
Freitag, 23. August: Jolande und Wilfred kommen an Bord, verstauen unzählige Gepäckstücke in den Kabinen. Am Vortag haben wir Platz geschaffen und – bis auf wenige Dinge – unsere Sachen bei Hafenmeister Frank eingelagert, wo wir sie in ein paar Tagen mit dem Auto abholen werden. Mit einem langen Hupen – reglementswidrig wie das von allen geliebte und trotzdem verbotenen Hupen der Schiffe auf dem Zürichsee – verabschieden wir uns vom Hafen.
Wir sehen den Hafenmeister noch lange winken, als wir zum Havel-Elbe Verbindungskanal fahren. Wir haben Glück: Ein von Berlin kommendes Frachtschiff strebt ebenfalls dem Kanal zu. Vor der Schleuse Wusterwitz lassen wir ihm den Vortritt, heften uns dann an seine Fersen und passieren die weiteren Schleusen bis zum Magdeburger Wasserstrassenkreuz ohne Wartezeit. Am Südende der eindrücklichen Kanalbrücke über die Elbe verbringen wir die Nacht und fahren am nächsten Tag auf dem Mittellandkanal bis Wolfsburg. Es ist Samstagnachmittag. Schon von weitem hört man ein an- und abschwellendes Geheul, unterbrochen von Sprechchören, welche schlechte Erinnerungen wachrufen. Der Yachthafen von Wolfsburg liegt direkt neben dem Fussballstadion, wo der Match der Einheimischen gegen den FC Schalke im Gange ist. Als dann endlich die Fans und mit ihnen das gewaltige Polizeiaufgebot abgezogen sind, kehrt Ruhe ein im Hafen, Zeit für ein letztes Glas Wein an Bord der Solveig.
Jolande und Wilfred haben während der zweitägigen Fahrt meistens am Steuer gestanden – nur bei der Einfahrt in das enge Hafenbecken bei starkem Seitenwind durfte ich noch einmal mein Geschick als Steuermann einsetzen – und sich Notizen über all die Erfahrungen und Tricks gemacht, welche wir unseren Nachfolgern zu vermitteln versuchten. Aber letztlich wissen wir alle, dass nur die eigenen Erfahrungen (und eigenen Fehler) wirklich zählen. Wir wussten unsere Solveig in besten Händen, als wir am Sonntag früh mit dem Taxi zum Bahnhof Wolfsburg fuhren. Das machte uns den Abschied leicht! Macht’s gut, Ihr stolzen neuen Besitzer eines stolzen Schiffes!
Mit diesem Beitrag endet die Serie „Auf Europas Flüssen“. Der Autor Dieter Imboden wird jedoch weiterhin für Journal21.ch schreiben.