Wenn Franz Kafka und Neue Musik zusammenkommen und in Zürich auf der Bühne in Szene gesetzt werden, ist Mojca Erdmann mit Begeisterung dabei.
Den kühnen Sprung ins kalte Wasser scheut Mojca Erdmann keineswegs. Im Gegenteil. In den Zürichsee getraut sie sich sogar bei tiefen Temperaturen und ihr Ziel ist es, ganzjährig, also auch im Winter, ein paar Runden zu schwimmen. Von zuhause in Männedorf, sind’s nur zwei Minuten bis ans Seeufer.
Ein kleines bisschen länger ist der Weg ins Opernhaus, wo sie jetzt ebenso kühn den Sprung ins kalte Wasser gewagt hat, diesmal aber musikalisch. Dabei geht es gleich nach «Amerika» – so der Titel der Oper, die auf Franz Kafkas Roman «Der Verschollene» beruht. Komponist ist der polnisch-israelische Komponist Roman Haubenstock-Ramati.
Dann bekam sie die sogenannten Noten. Denn das, was sie da auf dem Papier vorfand, war alles andere als normale Noten. Es sieht eher aus wie eine moderne Grafik, die man rahmen und an die Wand hängen könnte. Hat sie sich da überlegt, einen Rückzieher zu machen? Mojca Erdmann lacht. «Nein, nein … es war mir schon klar, dass es eine Partitur ist, aber ich hatte keine Ahnung, wie man das liest oder was der Dirigent daraus macht … Meine Partie war wahnsinnig klein gedruckt, so dass ich es mit der Lupe entziffern musste …! Aber meine beiden Solo-Szenen sind relativ klar notiert, auch mit klaren Ton-Höhen …» Sie breitet ihre Notenblätter aus und die sehen wahrlich alles andere als leicht verständlich aus. Wird ihr da nicht schwindlig, wenn sie das sieht – und auch noch singen soll? «Ich habe hier im Opernhaus erst mal den Studienleiter Michael Richter um Rat gefragt. Ich kenne ihn schon von anderen Vorbereitungen her. Er hat mir dann erklärt, wie es eingeteilt ist, so dass es eine Struktur bekam, und jetzt setzt sich alles zusammen … Ich denke, in der Orchesterhauptprobe werden wir das alles zum ersten Mal im Zusammenhang erleben. Das ist sehr spannend!»
Bis jetzt das Experimentellste
«Amerika» ist also im wahrsten Sinne des Wortes eine Abenteuerreise für Mojca Erdmann. Zum Glück hat sie schon Erfahrung mit Neuer Musik. Aber jetzt, kurz vor der Premiere, sagt sie rückblickend: «Es ist das Experimentellste, das ich bis jetzt an Notentext gesehen habe.» Dabei kennt sie sich von klein auf schon recht gut in neuen Kompositionen aus. «Mein Vater ist Komponist und arbeitet mit Synthesizer und elektronischer Musik. Ausserdem habe ich eine Uraufführung von Wolfgang Rihm gesungen, die aber schon wieder ziemlich klassisch notiert war. Jeder hat seinen eigenen Stil … und wenn ich so überlege ... frühere Stücke von Rihm, so aus den Sechzigerjahren, waren viel experimenteller als die neueren.»
Grundsätzlich ist Neue Musik nicht allzu fremd für Mojca Erdmann. «Ich bin damit aufgewachsen. Und jedes grosse Opernhaus oder Orchester hat setzt immer auch einen Schwerpunkt auf Neue Musik. Ich finde es auch wichtig, dass das Publikum neugierig bleibt und offene Ohren hat für Neues, nicht so Bekanntes. Und ich als Künstlerin finde es total spannend, mich damit zu beschäftigen. Als Interpretin muss ich ein Stück natürlich so werkgetreu wie möglich wiedergeben. Und da ist es von Vorteil, nicht schon unzählige Aufnahmen von einem Werk gehört zu haben, sondern sich ein eigenes Bild machen zu können. Und am allerbesten ist es, mit dem Komponisten darüber sprechen zu können, wie er es sich vorstellt.» Mit dem Komponisten sprechen kann Mojca Erdmann in diesem Fall aber nicht mehr. Roman Haubenstock-Ramati ist am 3. März 1994 in Wien gestorben. Auf den Tag genau dreissig Jahre vor der Premiere am Zürcher Opernhaus.
Urban dance, break dance, Jiu Jitsu
Was war denn nun das Spannendste an «Amerika» für Mojca Erdmann? «Die vielen verschiedenen Facetten, die zusammenkommen. Das Schauspielerische, die tollen Tanzgruppen mit Urban Dance und Breakdance und natürlich habe ich Kafkas Roman gelesen. Und ich spiele zwei Charaktere! Klara ist ein verwöhntes, brutales, narzisstisches Wesen. Therese dagegen ist ein verschüchtertes Dienstmädchen, das pure Gegenteil von Klara. Und ihr Part ist eigentlich ein gesprochener Text. Wir haben da Mikrophone, so kann ich ihre Schüchternheit wiedergeben und es kommt akustisch doch rüber. Das sind ganz neue Herausforderungen.» Ganz schön kniffelig, zwei unterschiedliche Rollen im gleichen Stück zu spielen, denke ich mir. «Ja», bestätigt Mojca Erdmann. «Aber das Kostüm hilft, und die Schuhe … man wird zu einer anderen Person, wenn man anders aussieht.»
Sogar Jiu Jitsu kommt in Kafkas Roman vor. Und nun natürlich auch auf der Bühne. «Interessant, dass das damals schon in Kafkas Gedanken kreist …» sagt sie. Und kämpft Mojca Erdmann auch …? «Ja», lacht sie, «jedenfalls soll es so aussehen … wichtig ist, dass es punktgenau mit dem Sound übereinstimmt und wir müssen sehr aufpassen, dass sich niemand verletzt.»
Eine echte Herausforderung sind auch die vielen kurzen Szenen, die in «Amerika» eine Einheit ergeben müssen. «Das sind 25 Szenen in 95 Minuten, manche sind gerade mal anderthalb Minuten lang. Mehr Zeit hat man nicht, um einen Charakter oder eine Situation darzustellen. Das erfordert unglaubliche Präzision. Ich habe auch einige gesprochene Passagen und da war es nützlich, dass unsere Regisseur Sebastian Baumgarten oft Schauspiel inszeniert. So sagte er mir: Geh am Ende einer Phrase mit der Stimme nicht runter, bleib oben, um den Raum bis zur nächsten Phrase zu füllen. Ich finde es grossartig, von vielen verschiedenen Seiten Einflüsse zu bekommen, Neues zu erarbeiten und zu lernen. Es ist einfach eine tolle Truppe hier! Es gibt auch Sprechchöre, die man aus 80 Lausprechern murmeln hört und deren Klang im Raum schwebt. Das ergibt zum Teil eine ganz unheimliche Atmosphäre, auch mit der Beleuchtung … man hat das Gefühl man ist in einem Horrorfilm!»
Also richtig kafkaesk? «Ja genau», lacht Erdmann «und ich finde, die Musik passt gut zu diesem Stoff.»
Von Barock über Romantik bis zur Neuen Musik
Wie lernt man denn eine so vielschichtige Rolle mit fremder Musik? «Mein Vorteil ist es, dass ich ein absolutes Gehör besitze, das macht es leichter. Aber natürlich trotzdem: wiederholen, wiederholen, wiederholen … Beim Lernen dirigiere ich für mich mit, damit ich weiss: Wo habe ich den Einsatz, wie lang warte ich bis zur nächsten Phrase, und so lange wiederholen, bis es sitzt. Übrigens hätte ich nicht gedacht, dass ich bei diesem Stück einen Ohrwurm haben könnte, aber er steckt tatsächlich drin!»
Neue Musik ist ein wichtiger Teil ihres Repertoires, aber natürlich nicht der einzige. «Ich habe im Dezember in Turin Stücke von Chausson unter der Leitung von Philippe Jordan gesungen, oder ‘Dialogue des Carmelites’, ‘Lulu’, Vitellia in ‘La clemenza di Tito’ oder die Elsa im ‘Lohengrin’. Letztes Jahr Bach und Pergolesi, also von Barock über Romantik und Mozart bis Zeitgenössisch.» Und was hat sie am liebsten? «Die Mischung! Ich liebe die Herausforderung und bin froh, immer wieder musikalisches Neuland zu entdecken.»
Geboren wurde Mojca Erdmann in Hamburg, sie wohnte eine Zeitlang in Berlin und lebt inzwischen in der Schweiz. «Ja, in Männedorf! Schon seit 14 Jahren. Zürich hat mich schon immer begeistert und jetzt geh’ ich nicht mehr weg.»
Opernhaus Zürich
«Amerika» von Roman Haubenstock-Ramati
Premiere am 3. März 2024
www.opernhaus.ch