Der „Grosse Steuermann“ Mao Dsedong regierte nach dem siegreichen Bürgerkrieg gegen die Nationalisten die am 1. Oktober 1949 von ihm auf dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen in Peking ausgerufene Volksrepublik mit eiserner Hand. Seine utopischen Entwürfe endeten in Dystopien. Der „Grosse Sprung nach vorn“ (1958–61), mit dem die Industriestaaten eingeholt und überholt werden sollten, endete in einer katastrophalen Hungersnot mit weit über 30 Millionen Toten.
Die „Grosse Proletarische Kulturrevolution“ (1966–76) zerstörte jeden sozialen Zusammenhalt, kostete Hunderttausenden von Chinesinnen und Chinesen das Leben und brachte für ein Jahrzehnt Erziehung und Bildung zum Erliegen.
Geschönte Zahlen
Wirtschaftlich lehnte sich Mao wegen des Boykotts der westlichen Industriestaaten und Japans eng an das sowjetische Staatsplanungssystem. Die Schwerindustrie hatte Vorrang vor der Konsumgüterindustrie.
Trotz aller Katastrophen wuchs das Brutto-Inlandprodukt (BIP) Chinas zwischen1949 und dem Reformbeginn Ende 1978 um vielleicht rund vier Prozent jährlich. Genaues weiss man nicht, denn die statistischen Zahlen während der Mao-Jahre sind ungenau, weil geschönte Zahlen politisch korrekt waren.
Wirtschaft anstatt Klassenkampf
Nach Maos Tod am 9. September 1976 kam Deng Xiaoping, der während der Kulturrevolution als Kapitalist bezeichnet und als Arbeiter in die Provinz verbannt wurde, langsam wieder an die Macht. Hua Guofeng wurde zwar Parteichef, doch Deng entmachtete ihn langsam.
Am entscheidenden Treffen am 18. Dezember 1978 – auf gut Parteichinesisch die 3. Plenartagung des XI. Zentralkomitees der KP Chinas oder kurz 3/XI genannt – setzte sich Deng endgültig durch. Nicht mehr Klassenkampf, sondern Wirtschaft stand nun im Mittelpunkt. Reform und Öffnung nach aussen, Gaige und Kaifang, hiess die Parole.
Experimente
Mit Augenmass und Pragmatismus begann die Reform. Deng liess zunächst in kleinem Massstab lokal und regional experimentieren. Bei Erfolg wurden dann die Reformmassnahmen landesweit angewendet. Ein enger Mitarbeiter Dengs war damals Xi Zhongxun, der Vater des heutigen Staats-, Partei- und Militärchefs Xi Jinping.
Auch Vater Xi war ähnlich wie Deng lange ein treuer Weggefährte Mao Dsedongs. Doch auch er wurde während der Kulturrevolution als Rechtsabweichler von der Macht entfernt. Wie schon zuvor liess er sich auch während der Reformjahre den Mund nie verbieten und setzte sich offen für den 1987 nach ersten Studentenunruhen in der Provinz Anhui abgehalfterten Parteichef Hu Yaobang ein.
Chaos
Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping setzte 1989 inmitten der ersten Wirtschaftskrise im Reformzeitalter – Überhitzung der Wirtschaft, hohe Inflation – bei den Massenprotesten von Arbeitern und Studenten auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen in Peking die Armee ein. Deng, durch seine Erfahrung während der Kulturrevolution geprägt, wollte Chaos verhindern. Er war überzeugt, dass Chaos China wieder in Armut stürzen würde.
Gleichzeitig war für Deng, wie einst für die Kaiser, Chaos ein Zeichen von Machtverlust. Bis auf den heutigen Tag blieb für Chinas Führung der Alleinvertretungsanspruch der Kommunistischen Partei nicht verhandelbar. Die Wirtschaft und Gesellschaft jedenfalls entwickelte sich in den 1990er-Jahren und danach rasant weiter.
Zahlen
Zahlen belegen das. Der Aussenhandel beispielshalber betrug im ersten Reformjahr 1979 insgesamt fünf Milliarden Dollar; 2004 waren es bereits 240 Milliarden, und 2017 betrug das Handelsvolumen allein mit den USA 635 Milliarden Dollar (US-Exporte nach China 130 Milliarden, China-Exporte nach den USA 505 Milliarden). Heute ist China die weltweit grösste Handelsnation.
Die Armut ist in den letzten vierzig Jahren drastisch verringert worden. Lebten 1981 noch 88 Prozent der Chinesinnen und Chinesen in Armut – das heisst mit weniger als 2 Dollar 35 pro Tag und pro Kopf – sind das heute nur noch sechs Prozent. Das reale BIP ist zwischen 1978 und 2014 um das 48-fache gestiegen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Arbeitsproduktivität um das 10-fache erhöht.
„Neue Ära“
Deng Xiaoping, 1997 verstorben, erhielt 2004 zu seinem 100. Geburtstag von der Partei höchste Ehre zugesprochen. Wegen des in der Geschichte einmaligen Erfolges wurde er als unsterblicher „Chefarchitekt“ der Reform gepriesen, der China stark, erfolgreich und wohlhabend gemacht hat. In der Tat, 2004 war Chinas Wirtschaft 44-mal grösser als am 18. Dezember 1978.
Jetzt zum 40. Reformjahrestag wird Deng zwar immer noch lobend erwähnt, doch nicht mehr so hymnisch wie 2004. Kein Wunder, denn seit der Machtübernahme von Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping ist China nach parteioffizieller Ansicht in eine „neue Ära“ eingetreten.
Der „Chinesische Traum“
Xi träumt den grossen „Chinesischen Traum“ der Wiedererstarkung der Nation. Mit Initiativen wie der „Neuen Seidenstrasse“ – Belt and Road Initiative BRI – will Xi China in der globalen Wirtschaft und im geopolitischen Wettbewerb mit den USA voranbringen. Allerdings lernen Chinas Studenten und Schüler im Unterricht, dass das Reich der Mitte auch im „Neuen Zeitalter des Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten“ im „Anfangsstadium des Sozialismus“ und nach wie vor das „weltweit grösste Entwicklungsland“ sei.
„Wendepunkt“
In den nächsten Jahren steht China vor grossen Herausforderungen. Xi selbst betont in seinen Reden immer wieder, dass das Land an einem „entscheidenden Wendepunkt“ stehe. Neue Reformen sind dringend nötig. Die Bankenreform im hoch verschuldeten Land zum Beispiel ist angesagt, um das Schattenbanksystem auszuhebeln.
Auch die oft ineffizienten und unprofitablen Staatsbetriebe müssten weiter reformiert werden, zumal sie neben den Privatunternehmen – 60 Prozent des BIP und 80 Prozent der neuen Arbeitsplätze – noch immer wichtige Pfeiler der Volkswirtschaft sind. Die neuen Reform-Parolen lauten denn: Innovation sowie Qualität vor Quantität.
Wahrer des Freihandels
Xi Jinping profiliert sich international als Wahrer des Freihandels. „Wir meinen es ernst mit der Öffnung des chinesischen Marktes“, sagte er im November in Shanghai. Xi versprach neulich auch in mehreren Reden, die Märkte für ausländische Investoren zu öffnen, einen fairen Wettbewerb zu fördern und Urheberrechte besser zu schützen.
Nicht nur Trump sondern auch europäische Politiker und Unternehmer meinen, das Ziel neuer chinesischer Reformen müsste sein, dass ausländische Unternehmen in China ähnliche Bedingungen vorfinden wie chinesische Firmen schon heute in den USA und Europa. In der Tat sind in China noch oft Diskriminierung, Behördenwillkür, illegaler Technologietransfer, Marktbarrieren aller Art, langwierige Lizenzverfahren oder Benachteiligung bei öffentlichen Ausschreibungen an der Tagesordnung.
Teich und Ozean
Mittlerweile ist auch in China klar, dass die für eine positive Zukunft dringend nötigen Innovationen nur möglich sind, wenn der Schutz des geistigen Eigentums verstärkt wird. Xi Jinpings wohl wichtigstes Programm „Made in China 2025“ zielt auf Innovationen in den Schlüsselbereichen IT, Roboter, Flugzeug- und Schiffsbau, moderne Eisenbahnen, Pharma, Landwirtschaft und vieles mehr.
Für die Zukunft gibt sich Xi Jinping, trotz der Konflikte mit den USA, optimistisch. „Die chinesische Wirtschaft ist kein Teich“, sagte er im November an der 1. Internationalen Importmesse in Shanghai, „sondern ein Ozean. Kräftige Winde und Stürme können einen Teich durcheinander wirbeln, aber niemals einen Ozean.“
Gedenkmünzen
Der beispiellose Aufschwung Chinas in den vergangenen vierzig Jahren wird von der chinesischen Zentralbank mit Gedenkmünzen in Gold und Silber gewürdigt. Ob eine neue Ära anbricht, wird erst die Geschichte zeigen. In der Zwischenzeit wäre ein Rat des „Chefarchitekten“ der Reform wohl angebracht. Deng Xiaoping hielt sich nämlich stets streng an sein Diktum: „die Wahrheit in den Tatsachen suchen“.
Mögen sowohl Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping als auch US-Präsident Trump – und warum nicht auch die Schweizer Bundesräte – diesem weisen Ratschlag folgen.