Jetzt herrscht in den Gerbereien Hochbetrieb. Es riecht nach Ammoniak. Die Arbeiter halten sich Pfefferminz-Zweige vor die Nase, um den Gestank ertragen zu können. Zuerst werden die Felle mit Salz bedeckt und an der Sonne getrocknet. Mit Rasierklingen wird dann die Wolle von den Häuten entfernt. In riesigen Bottichen, die mit Taubendreck und Wasser gefüllt sind, werden die Häute dann tagelang gegerbt, getrocknet, in verschiedenen Säurebädern erneut gegerbt und dann gefärbt.
Geschlachtet werden die Schafe in erster Linie aus religiösen Gründen. Der Dhu al Hijja ist der letzte Monat des moslemischen Mondkalenders. Jedes Jahr am 10. Tag dieses Monats feiern die Moslems das grosse Hammelfest. Jede moslemische Familie, die es sich leisten kann, schlachtet ein Schaf. Aid el Kebir oder Aid el Adha heisst das Fest in Marokko. Es ist der Höhepunkt des Hadsch, der Pilgerzeit, während der jährlich zwei Millionen Moslems nach Mekka fahren.
Das Schaf im WC
Der Aid el Kebir ist das wichtigste religiöse Fest des Moslems. Schon am frühen Morgen sieht man meist junge Männer an Strassenecken, auf Boulevards und in Hinterhöfen. Sie schichten Holz auf und entfachen Feuer. Mit Messern säbeln sie in den Schafsköpfen herum. Überall spritzt Blut. Die Tiere sind kurz zuvor erwürgt worden. Der Kopf wird abgetrennt und als erstes aufs Feuer gelegt.
Geehrt wird mit dem Fest Abraham, der Stammvater der Moslems, Christen und Juden. Die Geschichte ist auch im Alten Testament beschrieben. Dort, im 1. Buch Moses, Kapitel 22, wird Abraham von Gott aufgefordert, seinen Sohn Isaak zu opfern. Da Abraham bereit ist, Gottes Willen zu erfüllen, belohnt ihn Gott für seine Unterwürfigkeit und entlässt ihm das Isaak-Opfer. Stattdessen opfert Abraham einen Schafsbock, der sich gerade im Gebüsch verfangen hat.
Am Tag vor dem grossen Opferfest sieht man lebende Schafe auf den Rücksitzen von Autos oder in Schubkarren oder gar in Autobussen. Einige sind angebunden auf den Gepäckträgern von Mopeds oder gar in Autobussen. Männer treiben oder tragen die zu Tode geweihten Tiere in ihre Häuser. Dort blöken sie eine lange Nacht lang im Flur, in der Küche, auf dem WC, in der Garage oder gar im Schlafzimmer. Am nächsten Morgen wird ihnen der Hals umgedreht.
Amateur-Metzger
Doch das grosse Schafsterben stellt das Land vor logistische Probleme. Zwar wollen viele Moslems die Tiere selbst schlachten. Wer ein tiefgläubiger Moslem ist, legt selbst Hand an. Doch die meisten gehen zum Metzger. Aber diese sind in Zeiten des Hammelfestes mehr als ausgebucht. So kommen denn Amateur-Metzger zum Zuge.
„Boucher d’un jour“ nennt sie die marokkanische Zeitung „Le Matin“. Während zum Beispiel in Paris das Erwürgen der Schafe von Veterinären begleitet wird, geht es in vielen Ländern wenig zivilisiert zu. „Le Matin“ berichtet von Rachid, einem Beamten. Nach dem morgendlichen Gebet in der Moschee geht er an diesem Feiertag nach Hause. Er legt sein traditionelles langes Kleid beiseite und zieht Bluejeans und alte Schuhe an. Das Schaf wird aus dem Wohnzimmer geholt. Die Messer sind schon gewetzt. Seine Brüder helfen ihm, das Tier festzuhalten. Sie drehen es – wie verlangt – Richtung Mekka. „Im Namen Allahs des Allmächtigen“ sagt Rachid und dreht dem Tier den Hals um.
Jetzt zerlegt er es – und das Telefon läutet. Sein Freund Saad ruft an. Er braucht einen Metzger. „Warte, in zwanzig Minuten bin ich bei dir“, sagt Rachid. Rachid hängt das Schaf an einem Hacken auf, öffnet den Bauch und entfernt die Eingeweide. Wenige Minuten später läutet das Telefon erneut. Jetzt ist es Mostapha, der einen Metzger braucht. „Warte, in vierzig Minuten bin ich bei dir“. Nach getaner Arbeit bei sich zu Hause geht Rachid zu Saad. Dort findet er drei Schafe, zwei davon mit langen Hörnern. Zu dritt bringen sie die Tiere um, waschen ihre Köpfe und trennen sie vom Körper. Saad will mit dem Mund ins Tier hineinblasen um die Haut von den Muskeln zu trennen. Ärzte raten von dieser Praxis ab, da sie gesundheitsschädlich sei. Rachid weiss das. Er hat vorgesorgt und eine Velopumpe mitgebracht.
Das Leben steht still
Jetzt kommt das zweite Schaf an die Reihe. Es gehört dem grossen Bruder von Saad - ein Riesentier. Der Bruder ist abwesend. Er ist Flughafenangestellter und hat Dienst. Die Geschichte endet schlecht. Beim Töten bewegt sich ein Tier noch, Saad verletzt sich mit dem Messer an der Hand und hört nicht auf zu bluten. Rachid bringt ihn als Notfall ins Spital.
So blutig es am frühen Morgen zugehen mag, das Hammelfest ist ein fröhliches, erbauliches Fest. Das Leben scheint in diesen Tagen stillzustehen. Alle ziehen die schönsten und neuesten Kleider an. Das Haus wird geputzt. Man besucht die Familie, Freunde, alte Verwandte, Spielkameraden von einst. Man grüsst sich auf offener Strasse, wünscht sich alles gut. Männer küssen sich vier- oder sechsmal, man wechselt freundliche Worte. Die Kinder freuen sich auf das Fest wie sich die Christen-Kinder auf Weihnachten freuen.
Viele Läden sind in diesen Tagen geschlossen. Das Hammelfest ist auch die Zeit der grossen Ferien. Diese dauern - je nach Region und Geldbeutel - bis Anfang Dezember. Viele Pilger, die den Hadsch in Mekka feierten, kehren erst jetzt zurück. Royal Air Maroc hat für die Rückreise, die bis zum 12. Dezember dauert, 24‘386 Plätze reserviert.
Ist das Schaf geschlachtet, aufgehängt und aufgeschlitzt, schneidet man sich ein Stück Schafsleber heraus und isst sie. So soll es auch Mohammed getan haben. Dann eilt man vor den Fernsehapparat. Dort beginnt die Live-Übertragung aus dem Königschloss. Man sieht Mohammed VI, den „König der Moderne“ wie er sein Schaf zerlegt.
Ein Drittel des Fleisches schenkt man den Bedürftigen, zwei Drittel isst man in der Familie. Den Schafskopf kocht man auf und stellt damit die Sauce für das Couscous her. In den moslemischen Ländern von Marokko bis Indonesien sollen am Aid el Kebir etwa 20 Millionen Schafe geopfert werden. Das hört man auf den marokkanischen Märkten. Die Zahl lässt sich kaum überprüfen.
Wirtschaftliches Nebenprodukt
Manche sparen ein Jahr lang, um vor dem Aid el Kebir ein Schaf kaufen zu können. Ein Tier kostet in Marokko etwa 100 bis 150 Euro. Ein Metzger verlangt für das Schlachten fast ebenso viel. Viele können sich das nicht leisten. Arme Familien essen wenigstens einen Schafskopf. Zum moslemischen Glauben gehört, dass man den Armen hilft. Keiner, auch der Ärmste nicht, bleibt in diesen Tagen ohne ein Stück Schaffleisch. In der Medina der Stadt Meknès kauert ein alter, verwahrloster Mann. In Europa würde man ihn Clochard nennen. Die Anwohner bringen ihm - auf einer Zeitung serviert - ein Stück Schaffleisch und einen Pfefferminztee.
Sozusagen als wirtschaftliches Nebenprodukt des Religionsfestes fallen die Häute an. Sie werden nach dem Aid el Kebir den Gerbern und Schneidern verkauft. So werden die anfänglichen Auslagen für das Tier reduziert. Allerdings nur unwesentlich. Für eine Schafshaut werden auf dem Markt von Fès 15 bis 20 Euro bezahlt. Schafleder gilt in Marokko nach dem Kamel- und Ziegenleder als das beste und feinste Leder.
„Im Dezember geht es bei uns los“, sagt ein Lederfabrikant. In den nächsten Wochen werden vier Fünftel der gesamten Jahresproduktion verarbeitet. Und die Touristen, die zu Millionen in Marokko einfallen, wissen nicht, dass die Mäntel und Handtaschen, die sie hier kaufen, von einem erwürgten Tier stammen, das Abraham geopfert wurde.