Was sind die Grundlagen eines politischen Systems? Nach dem Sturz von Saddam Hussein sollte die Teilung der Macht zwischen Schia und Sunna dem Irak Frieden und Demokratie garantieren. Stattdessen dominierten bald schon Krieg und Terror.
Vor 20 Jahren, am 20. März 2003, eröffnete eine US-amerikanisch geführte Militärkoalition den Krieg gegen den Irak. Die Bilder von Explosionen in Bagdad wurden rasch verdrängt von Siegerposen und Schulterklopfen: Bereits am 1. Mai erklärte der damalige US-Präsident George W. Bush den Krieg für beendet und verkündete von einem Flugzeugträger aus: «Mission erfüllt.»
Der vermeintlich erfolgreiche Einmarsch entpuppte sich in den folgenden Jahren als Desaster historischen Ausmasses. Es ist schwierig zu beziffern, wie viele Opfer die Gewalt im Irak seither gefordert hat. Die konservativen Schätzungen des Projekts «Iraq Body Count» gehen von aktuell über 200’000 zivilen Opfern aus. Der Irak versank in Krieg, Regierungsversagen und Korruption.
Ein «tausendjähriger Krieg»?
Als Grund für die Gewalt wird oft auf die beiden grossen islamischen Konfessionen Schia und Sunna verwiesen, die im Irak einen religiösen Konflikt austragen würden. Dieser «reiche Jahrtausende zurück», meinte 2016 selbst der damalige US-Präsident Barak Obama.
Diese Erklärung, so oft und prominent sie auch angeführt wird, ist falsch. Sie gründet auf der Vorstellung, dass ein Staat mit einer konfessionell und ethnisch heterogenen Bevölkerung zwangsläufig anfällig für Konflikte ist. Gemäss diesem Bild sind Menschen durch ihre Religion determiniert: Ein Schiit ist in erster Linie Schiit, und diese Zugehörigkeit wird alle seine Entscheidungen bestimmen. Diese im Grunde rassistische Annahme spricht den Menschen im Nahen Osten nicht nur eine komplexe Identität ab, mit diversen Bezügen zu ihrem Wohnort oder ihrer sozialen Schicht. Sie verneint auch ihre Freiheit, eine eigenständige politische Meinung zu haben – und erst recht, diese Meinung im Verlauf der Zeit womöglich zu ändern.
Die Konflikte im Irak wurzeln nicht in jahrtausendealten Feindschaften. Sie sind ein Produkt der Gegenwart, des gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Umbruchs, den das Land nach dem Regimewechsel von 2003 durchlief. Sie sind Teil eines Aushandlungsprozesses, bei dem verschiedenste Akteure um das politische System im Irak ringen, darum, wie der Irak künftig als Staat ausgestaltet sein soll.
Ein neues politisches System
Auf welchen Grundlagen basiert eine funktionierende Demokratie? Diese Frage ist nicht nur für den Irak relevant, auch wenn sie dort nach dem Ende des Baath-Regimes besonders dringlich war. Sie beschäftigt Gesellschaften weltweit und ist selbst in etablierten Demokratien nicht abschliessend beantwortet: Grundlegende philosophische Theorien beschäftigen sich mit ihr (etwa bei John Rawls oder Jürgen Habermas); politische Verwerfungen wie in den USA unter dem früheren Präsidenten Donald Trump oder die Erfolge rechtspopulistischer Strömungen in zahlreichen europäischen Ländern zeigen, wie umkämpft das Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist.
Im Irak stand man nach dem Sturz Saddam Husseins vor einer doppelten Herausforderung: einen Staat neu aufzubauen, ohne dabei auf etablierte Strukturen zurückgreifen zu können, und die gesellschaftlichen Grundlagen festzulegen, auf die sich dieser Staat stützen sollte. Denn als nach Jahrzehnten der Diktatur das alte Regime innerhalb kürzester Zeit zusammenbrach, gab es im Irak keine funktionierende Zivilgesellschaft. Die politischen Parteien, die aus dem Exil Zurückkehrenden, waren in der Bevölkerung wenig verankert. Im Irak zeigten sich in den letzten zwanzig Jahren global aktuelle Fragen um die Legitimation einer Demokratie somit in einer extremen Form, wie unter einem Brennglas.
Demokratie für den Irak – aber was für eine?
Die Bilder der unter Jubelrufen gestürzten Statue Saddam Husseins sollten den irakischen Neuanfang markieren. Doch ein neues politisches System aufzubauen, sollte sich als wesentlich schwierigere Aufgabe erweisen, als einen Diktator zu stürzen.
Eine Demokratie zu errichten, war für die USA das letzte verbliebene Argument, um die Invasion zu rechtfertigen – nachdem sich weder Massenvernichtungswaffen noch Hinweise auf Verbindungen des alten Regimes zu al-Qaida hatten finden lassen.
Da der Irak in den Augen der US-Verwaltung durch den «ewigen» Krieg zwischen Schia und Sunna geprägt war, bestand für sie kein Zweifel daran, wie das neue System aufgebaut sein musste: Die politische Macht sollte im irakischen Regierungsrat, den die US-Verwaltung einsetzte, gerecht zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen – Sunna, Schia, Kurden, ethnische und religiöse Minderheiten – verteilt werden, entsprechend ihren Bevölkerungsanteilen. Nur so könne ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen garantiert werden.
Damit erhielt die Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe den Vorrang vor anderen Ebenen der Repräsentation – insbesondere natürlich konkreten politischen Inhalten. Schia und Sunna, das waren die bestimmenden Kategorien, während politische Ausrichtungen und Visionen kaum eine Rolle spielten.
Auch die neue irakische Verfassung orientiert sich an den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Der Irak wird darin als Einheit seiner verschiedenen «ethnischen und religiösen Teile» beschrieben, die alle am neuen System Anteil haben sollten. Nie zuvor war im Irak die konfessionelle oder ethnische Zugehörigkeit derart positiv in Wert gesetzt worden.
Es war aber nicht so, dass sich nur die amerikanische Verwaltung an der Einteilung der irakischen Bevölkerung in Schia und Sunna orientiert und dem Irak ein entsprechendes politisches System aufgezwungen hätte. Auch die schiitischen Parteien, die nach dem Sturz des Regimes aus dem Exil in den Irak zurückkehrten, waren konfessionell ausgerichtet. Sie beanspruchten, die schiitische Bevölkerungsmehrheit zu repräsentieren und positionierten sich auf diese Weise im Zentrum des neuen Systems.
Widerstand
Die amerikanische Besatzung und die neue irakische Regierung stiessen umgehend auf bewaffneten Widerstand. Dieser war unter anderem eine Reaktion auf schwerwiegende strategische Fehler, die die US-Verwaltung nach der Invasion beging, insbesondere ihren Umgang mit Angehörigen des früheren Regimes.
Die US-Verwaltung hatte die irakische Armee aufgelöst und damit zahlreiche, vor allem sunnitische Soldaten und höhere Kader, ihrer Existenzgrundlage beraubt. Auch die sogenannte De-Baathifizierung, in deren Rahmen Angehörige der Baath-Partei aus dem Verwaltungsapparat entfernt wurden, erlebte die sunnitische Bevölkerung als schiitische Siegerjustiz. Der Zulauf zu Widerstandsgruppen und ultraislamischen Kampfbünden, darunter al-Qaida im Irak (AQI), war beträchtlich. Kaum war der Krieg offiziell beendet, setzte im August 2003 mit den ersten grossen Sprengstoffanschlägen der Bombenterror der kommenden Jahre ein.
Auch längst nicht alle Schiiten und Schiitinnen begrüssten die Besatzung. Muqtada al-Sadr, Sohn eines 1999 vom Regime ermordeten einflussreichen Geistlichen, wurde zur prägenden Figur des schiitischen Widerstandes. Er profitierte von der Popularität seines Vaters und verfügte mit der Mahdi-Armee über eine schlagkräftige Miliz. Sadr war, wie bereits sein Vater, amerikakritisch eingestellt und propagierte einen konservativ-religiösen Nationalismus.
Der umgehende Widerstand von schiitischer Seite zeigt, dass die Konfessionen zu keinem Zeitpunkt geschlossene Blöcke darstellten. Indem er sich für einen überkonfessionellen irakischen Widerstand einsetzte, positionierte sich Sadr explizit gegen die irannahen schiitischen Parteien, die mit den US-Truppen zusammenarbeiteten und vom neuen, konfessionell orientierten System profitierten. Der innerschiitische Machtkampf zwischen den Sadristen und den schiitischen Parteien prägt den Irak bis heute.
Noch schwieriger war die Situation auf sunnitischer Seite. Es gab weder eine explizit sunnitische Kollektividentität noch die gesamte sunnitische Bevölkerung umfassende Institutionen. Die Sunna musste sich als Konfession erst herausbilden – ein Prozess, der auch 20 Jahre nach dem Regimewechsel nicht abgeschlossen ist.
Die Zeit der Betonwände
Ab den ersten Wahlen 2005 dominierten die schiitischen Parteien die institutionelle Politik, die 2003 aus ihrem jahrzehntelangen Exil zurückgekehrt waren. Bald durchdrangen ihre bewaffneten Flügel die Sicherheitskräfte und terrorisierten die sunnitische Zivilbevölkerung mit Entführungen und Folter. Sie machten die Sunniten insgesamt verantwortlich für die Sprengstoffanschläge von al-Qaida im Irak (AQI) und anderen Kampfbünden gegen die schiitische Zivilbevölkerung. AQI verfolgte mit diesen Anschlägen erklärtermassen die Strategie, schiitische Gegengewalt und damit einen offenen Krieg zwischen Schia und Sunna zu provozieren.
Dieses Ziel wurde im Februar 2006 erreicht. Der Anschlag auf den Askari-Schrein in Samarra, eine der bedeutendsten schiitischen religiösen Stätten, löste eine Welle der Gewalt aus. Was folgte, wurde im Irak fortan als «konfessioneller Bürgerkrieg» bezeichnet: 2006 und 2007 forderte die Gewalt hunderte, manchmal tausende Todesopfer jeden Monat. Sie vertiefte die konfessionellen Gräben und erzeugte Hass zwischen Menschen, die sich noch wenige Jahre zuvor ihrer konfessionellen Zugehörigkeit kaum bewusst gewesen waren. Meterhohe Betonwände, die vor Anschlägen schützen sollten, trennten die verschiedenen Stadtteile Bagdads und wurden zu Symbolen der Spaltung.
Die Sunniten wenden sich ab
2008 ebbte die Gewalt ab. Neben einer massiven Aufstockung der US-Truppen war es vor allem eine neu geschmiedete Koalition aus sunnitischen Stämmen, die gegen die sunnitischen Extremisten vorgingen und so die Gewalt eindämmten.
Doch die politische Elite ging fahrlässig mit der erreichten Stabilisierung um. Im konfessionellen System waren Allianzen im Parlament kaum an gemeinsame politische Inhalte geknüpft. So verkam die Koalitionsbildung nach den Parlamentswahlen von 2010 zum Postenschacher, das politische System blieb monatelang blockiert. Hinzu kam, dass Premierminister Nuri al-Maliki sich zusehends autoritär gebärdete. Er instrumentalisierte die Justiz, um gegen politische Gegner vorzugehen und liess prominente sunnitische Politiker unter dem Vorwurf früherer Baath-Verbindungen und Terrorismusunterstützung verhaften.
Die Bagdader Machtkämpfe führten zu regierungskritischen Protesten in der sunnitischen Provinz Anbar. Als Sicherheitskräfte die Demonstrationen gewaltsam unterdrückten, fühlte sich die sunnitische Bevölkerung endgültig vom neuen Irak ausgeschlossen. Bezeichnend waren die Aussagen an den Demonstrationen, man habe kein grundsätzliches Problem mit einem schiitischen Premierminister, aber man habe eines mit diesem spezifischen, Nuri al-Maliki, der die sunnitische Bevölkerung unterdrücke. Die Hoffnung auf eine Verbesserung des 2003 etablierten Systems waren bitter enttäuscht worden.
«Kalifat» statt Irak: Der IS
Es war diese Enttäuschung, die zahlreiche Sunnitinnen und Sunniten dazu brachte, Anfang 2014 den Vormarsch des ultraislamischen Kampfbundes «Islamischer Staat im Irak und der Levante», (ISIL, später nur noch IS) zu begrüssen. Der IS setzte es sich zum Ziel, die bestehenden staatlichen Grenzen aufzuheben und stattdessen ein, wie die IS-Propaganda-Abteilung es nannte, «Kalifat» zu errichten. Es war das bislang radikalste Gegenmodell zum politischen System nach 2003.
Selbst für den gewaltgeplagten Irak stellte die IS-Gewalt eine neue Dimension der Brutalität dar. Der IS inszenierte seine Gewalt propagandistisch und verbreitete Aufnahmen von grausamen Hinrichtungen. Gegen die jesidische Bevölkerung wurde ein Genozid verübt, Frauen und Mädchen gerieten zu tausenden in die Sklaverei.
Doch der Hauptfeind des IS – daran liess seine Propaganda keinen Zweifel – war die Schia. Angetreten, um die Muslime in einem weltweiten Kalifat zu vereinen, gründete seine Vorstellung von Einheit auf konfessioneller Gewalt.
Der Krieg gegen den IS wurde in der irakischen Öffentlichkeit als Kampf des vereinigten Iraks gegen «Terroristen» dargestellt. Dementsprechend euphorisch feierten die Menschen, als der damalige Ministerpräsident Haidar al-Abadi im Dezember 2017 den Sieg über den IS verkündete – insbesondere auch in jenen mehrheitlich sunnitischen Landesteilen wie etwa der Stadt Mossul, die unter dem Terror des IS gelitten hatten. Für die Frage aber, warum der IS überhaupt Rückhalt in Teilen der Bevölkerung hatte gewinnen können, war zwischen Siegestaumel und irakischem Fahnenmeer kein Platz. Der militärische Sieg ersetzte das Bemühen um eine Versöhnung der gespaltenen Bevölkerung.
«Volk» gegen «Staat»
Trotz dem Sieg über den IS nahm auch in den schiitischen Gebieten die Unzufriedenheit mit der Regierung zu. Die Bilanz der schiitischen Parteien war katastrophal. Die Infrastruktur lag am Boden, im Süden des Landes funktionierte nicht einmal mehr die Trinkwasserversorgung. Den Parteien mangelte es jenseits der konfessionellen Repräsentation an Inhalten und folglich auch an Strategien, um diese Herausforderungen zu meistern. Die grassierende Korruption erschwerte die Situation zusätzlich.
Im Oktober 2019 begannen in Bagdad und den südlichen Landesteilen Massenproteste, die eine grundlegende Veränderung des politischen Systems forderten. Insbesondere die schiitische Jugend ging auf die Strasse, wütend über ihre wirtschaftliche Misere und berufliche Perspektivenlosigkeit – Unterstützung genossen die Proteste jedoch in allen Landesteilen und durch alle Bevölkerungsschichten hindurch. Auch wenn sich diverse zivilgesellschaftliche Gruppen und kleinere Parteien solidarisierten und an den Protesten beteiligten, blieben sie ohne klare Führung und Organisation.
Die Protestcamps wurden zu Diskussionsforen. Politische Fragen, aber auch gesellschaftliche Themen und besonders die Stellung von Frauen in der irakischen Gesellschaft, wurden in eigens gedruckten Zeitungen eifrig debattiert. Konservative Positionen waren dabei ebenso vertreten wie progressive.
So vielfältig ihre Ansichten auch waren, in einem waren sich die Menschen an den Protesten einig: Jegliche auf Zugehörigkeit basierenden Quoten sollten abgeschafft werden. Der Einteilung in Schia und Sunna hielten die Demonstranten diejenige in «Staat» und «Volk» entgegen – ein vereinigtes «Volk», das den Anspruch auf sein Land erhebt und den «Staat» auf eine reine Verwaltungsfunktion reduziert.
Die Gewalt gegen die Demonstrationen war massiv. Sie ging von den irannahen «Haschd»-Milizen aus. «Haschd» bezeichnet ein Konglomerat aus zeitweise über sechzig paramilitärischen Einheiten, die im Kampf gegen den IS eine bedeutende Rolle spielten. Ihre heute wichtigsten Verbände sind organisatorisch und ideologisch eng mit dem Iran verbunden.
Dass schiitische Einheiten, die ursprünglich die Bevölkerung gegen den IS verteidigen sollten, nun an den Protesten auf die schiitische Jugend schossen, war für viele im Irak ein Schock. Doch aus den ehemals gefeierten Rettern des Staates ist nach dem Krieg gegen das «Kalifat» selbst ein Parallelstaat geworden: Die Haschd bereichern sich dank militärischer Stärke und Unterstützung aus dem benachbarten Iran an Checkpoints und Grenzübergängen und führen gar eigene Gefängnisse. Durch die systemkritischen Proteste sahen die Haschd dieses Modell bedroht und der Iran fürchtete um seinen Einfluss. Indem sie gegen die Demonstrationen vorgingen und bis heute zivilgesellschaftliche Aktivisten und Aktivistinnen bedrohen, entführen und ermorden, haben sie klargemacht, dass sie ihre Position mit Waffengewalt verteidigen werden.
Die Krise der Repräsentation und die Suche nach dem Souverän
Bis heute besteht das gemeinsame Element der Debatten in der irakischen Öffentlichkeit um die Grundlagen der Staatlichkeit darin, dass weit weniger danach gefragt wird, welche politischen Werte und Ziele, das heisst «was» die Grundlage des Staates sind, sondern «wer» diesen repräsentiert. Umstritten ist, wie dieses «wer», dieser Souverän, zu beschreiben sei: Ist es die (konfessionelle) «Mehrheit», wie die mächtigen schiitischen Parteien argumentieren? Sind es die diversen «Bevölkerungsgruppen», wie es das politische System nach 2003 vorsieht? Sind es gar sich religiös-politisch legitimierende Führungspersonen, wie beim IS? Oder das «Volk», wie die Demonstranten und Demonstrantinnen von 2019 fordern?
Im Irak wird also wesentlich mehr über konfessionelle Zugehörigkeit und deren Rolle im politischen System diskutiert als zwischen den Gruppen über konfessionelle Differenzen. Im engeren Sinn «politische» Inhalte und Lösungsvorschläge zu konkreten Problemen spielen dagegen kaum eine Rolle. Die Suche nach dem «richtigen» Souverän, der «richtigen» Kategorisierung der Menschen im Irak, ist zum bestimmenden Element der öffentlichen Debatte der vergangenen zwanzig Jahre geworden. Weder die amerikanische Verwaltung noch die verschiedenen irakischen Akteure haben seither eine Alternative dazu geliefert.
Ein politisches System auf dem «richtigen» Souverän aufzubauen, vermag aber keinen funktionierenden Rechtsstaat zu begründen, geschweige denn zu ersetzen. Genauso wenig macht ein System, das die jeweiligen Bevölkerungsgruppen repräsentiert, inhaltliche politische Debatten überflüssig.
Die vergangenen beiden Jahrzehnte zeugen somit nicht vom Scheitern der Demokratie im Irak an konfessionellen Konflikten. Sondern vom Suchen und vom Ringen um verschiedene Vorstellungen von Souveränität. Die Gewalt, die Schwäche des Staates und dessen Ablehnung in weiten Teilen der Bevölkerung zeigen: Die Idee, Politik entlang der Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe zu organisieren, ist gescheitert.
Die Dynamik dieser Entwicklungen zeigte sich jüngst im kurdisch verwalteten Teil des Iraks. Während die eigene Unabhängigkeit jahrzehntelang als oberstes Ziel der kurdischen Bevölkerungsgruppe galt, hat eine aktuelle Umfrage Erstaunliches ergeben: Eine Mehrheit der Befragten glaubt, es würde den Menschen in Kurdistan besser gehen, wenn das Gebiet statt der kurdischen Selbstverwaltung der Regierung in Bagdad unterstellt würde – derart desillusioniert ist die Bevölkerung angesichts des autoritären Gebarens und der Korruption der kurdischen politischen Elite. Wie auch in der restlichen irakischen Öffentlichkeit hat selbst im kurdischen Kontext die Orientierung an ethnischer Zugehörigkeit an Glanz verloren. Die Vorstellung des Staates als Repräsentation einer ethnisch oder konfessionell definierten Nation neigt sich ihrem Ende entgegen.
Dieser Text ist zuerst im Blog der Schweizerischen Gesellschaft Mittlerer Osten und islamische Kulturen (SGMOIK) erschienen.