Sonntag, der 30. Juni, ist der erste Jahrestag der Herrschaft von Präsident Mursi. Einige der ägyptischen Revolutionsaktivisten wollen auf diesen Tag hin für eine Petition 15 Millionen Unterschriften sammeln. Die Petitionäre fordern die Absetzung Mursis und neue, freie Präsidentenwahlen. Zu den Initianten der Petition gehören Hamada al-Masri, Haytham al-Hariry, Farida al-Shubashi (die letzte ist eine bekannte Schriftstellerin).
Die Zahl von 15 Millionen wurde angestrebt, weil Mursi vor einem Jahr von 13,2 Millionen Ägyptern gewählt worden war. Am 30. Juni soll die Petition in einer Grossdemonstration dem Vorsitzenden des ägyptischen Verfassungsgerichtes überreicht werden. Die Aktivisten und Oppositionsführer wollen den höchsten Richter auffordern, vorübergehend selbst das Präsidentenamt zu übernehmen und umgehend Neuwahlen zu organisieren.
Forderung nach Neuwahlen
Um die vielen Unterschriften zu erhalten, führen die Revolutionsgruppen, unterstützt durch die säkularistischen Oppositionsparteien, seit zwei Monaten eine Werbekampange durch. An vielen Orten werden an öffentlichen Veranstaltungen Unterschriften gesammelt. Mursis Gegner verfügen offenbar in fast allen Quartieren der grossen Städte sowie auch auf dem Land über lokale Aktionskomitees. Auch Private sammeln Unterschriften. Am 21. Juni hiess es am Hauptquartier der Kampagne, die 15 Millionen Unterschriften seien erreicht.
Gleichzeitig erklärten die wichtigsten Parteikoalitionen der vielen säkularistischen Oppositionsparteien, sie stünden hinter der Aktion. Auch sie fordern einen Rücktritt Mursis und Neuwahlen. Die wichtigste dieser Koalitionen ist die Nationale Rettungsfront. Ihr gehören, neben vielen andern, die drei bekanntesten Politiker der Opposition an, und zwar jeder mit seiner eigenen Partei: Baradei, Hamdi Sabbahi und Amr Mousa. Neben der Rettungsfront gibt es noch eine zweite, kleinere Koalition von Linksparteien.
Die erste gemeinsame Aktion der Opposition
Die Anti-Mursi-Aktion hat immer mehr Anhänger gewonnen. Der koptische Papst hat ausdrücklich erklärt, den Kopten sei es erlaubt, an diesen Aktivitäten teilzunehmen. Es ist zum ersten Mal, dass sich die ägyptische "säkularistische" Front zu einer gemeinsamen Aktion zusammenfindet, wenn man von mehr oder weniger umfassenden Strassendemonstrationen und Strassenkrawallen absehen will.
Allerdings ist man auch diesmal nur gegen etwas, nämlich gegen die Herrschaft Mursis. Man verlangt seinen Rücktritt und Neuwahlen. Doch ein positives, gemeinsames Programm besteht nach wie vor nicht. Die politischen Pläne der drei bekanntesten Oppositionspolitiker sind, soweit man sie überhaupt kennt, sehr unterschiedlich, ja gegensätzlich.
Reaktion der Muslimbrüder
Mursi und seine Anhänger haben natürlich auf Kampagne der Opposition reagiert. Die Muslimbrüder und ihre Freunde, im wesentlichen ein Teil der salafistischen Islamistenparteien (nicht alle von ihnen arbeiten mit den Brüdern zusammen), sind in der Lage, ebenfalls grosse Massen zu mobilisieren. Sie haben dies mehrmals bewiesen.
Mursis Anhänger haben inzwischen eine eigene Unterschriftenkampagne gestartet. Ihr Ziel ist es, sieben Millionen Unterschriften zusammenzubringen. Mit ihrer Petition verlangen sie, dass Mursi an der Macht bleibt.
Mursi selbst erklärte, das Vorgehen der Opposition sei „undemokratisch“. Es sei unvereinbar mit der demokratischen ägyptischen Verfassung. Diese allerdings wird von der Opposition abgelehnt und bekämpft. Die nächsten regulären Präsidentenwahlen wären 2016 vorgesehen.
Zusammenstösse schaden der Regierung
Es kam verschiedenen Ortes zu tätlichen Zusammenstössen zwischen Pro-Mursi- und Anti-Mursi Demonstranten, obwohl die Organisatoren und politischen Lenker beider Fronten immer wieder betonen, ihre Seite täte alles, um Gewalt zu vermeiden. Wenn es doch dazu käme, sei die andere Seite schuld.
Für die Regierungsseite ist es wichtig, ihre Anhänger von Gewaltakten abzuhalten - wichtiger als für die Opposition. Denn die Regierung ist für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung verantwortlich. Sie hat auch die schwierige, ja gegenwärtig wohl unlösbare Aufgabe, die ägyptische Wirtschaft wieder voranzubringen. Strassenunruhen sind ein Haupthindernis für ihre Wiederbelebung. Die Opposition kann ihrerseits von Unruhen profitieren, weil sie bewirken, dass die Regierung weitgehend handlungsunfähig bleibt. Doch auch sie muss fürchten, dass "die Strasse" oder auch "die Wirtschaft" plötzlich völlig ausser Kontrolle geraten und das Land ins Verderben stürzen könnten.
Gewaltlosigkeit ist gefordert
Dies führt dazu, das beide Seiten "Gewaltlosigkeit" predigen. Doch die Regierungsseite geht deutlich vorsichtiger mit der Mobilisierung ihrer Anhänger um als die Opposition. Die Regierung hat mehrmals "ihre" Massen aufgefordert, nicht zu demonstrieren. Sie führt ihre Aktionen an Orten durch, die weit weg von den Hochburgen ihrer Gegner liegen. Ausserdem steht natürlich der Regierung die Polizei zur Verfügung, um Ausschreitungen der Gegenseite einzudämmen.
Am vergangenen Freitag haben die Muslimbrüder und ihre Verbündeten unter den Salafisten zu einer Grossdemonstration "für Gewaltlosigkeit" aufgerufen. Sie ging in Kairo tatsächlich gewaltlos über die Bühne, doch in Alexandrien und in mehreren Städten des Deltas kam es zu Zusammenstössen mit Sympathisanten der Gegner. Mehrere Personen wurden verletzt. Mit einiger Besorgnis blicken beide Seiten auf den 30. Juni. Wenn sich solch riesige Massen in Bewegung setzen, ist immer alles möglich, auch Ausschreitungen.
Die Zeit spielt gegen Mursi
Was das Verfassungsgericht tun wird, wenn es die Petition erhält, ist ungewiss. Die hohen Richter, die 2011 das gewählte Parlament auflösten, könnten wahrscheinlich auch Vorwände finden, um die Präsidentenwahl als nichtig zu erklären. Doch ob und wann sie das tun werden, ist völlig unklar.
Man kann vermuten, dass sie zuerst im Verborgenen und vielleicht über Mittelsleute mit den Militärs darüber sprechen. Jedenfalls werden sie es nicht eilig haben, auf die Petition einzugehen. Sie wissen, die Zeit spielt gegen Mursi. Wenn er länger Präsident bleibt, wird er noch mehr Feinde auf sich ziehen, weil er dafür verantwortlich gemacht werden wird, dass die ägyptische Wirtschaft leidet und mit ihr die gewaltigen Massen der ägyptischen Mittel- und Unterschichten.
Verantwortlich für den Gefängnisausbruch
Ein Schlaglicht darauf, wie es zwischen Mursi und der ägyptischen Gerichtsbarkeit steht, wirft das Gesuch eines Richters von Ismailiya, Khaled Mahgoub. Er hat Interpol aufgefordert, die vermutlich Verantwortlichen für den Gefängnisausbruch im Gefängnis von Wadi Natroun vom 30. Januar 2011 festzunehmen. Die Revolution in Ägypten hatte am 25. Januar begonnen.
Der Richter nannte namentlich vier Personen, die laut seinen Untersuchungen verantwortlich seien. Sie gehörten, wie er darlegte, Hizbullah, Hamas und al-Qaeda an. Doch der Richter erklärte auch, nach seinen Erkenntnissen habe der Gefängnisausbruch mit der Hilfe von aussenstehenden Gruppen stattgefunden, "unter ihnen Hamas, die al-Qasam Brigaden, Hizbullah und die Muslimbruderschaft. Bei dem Gefängnisausbruch konnten 11‘161 Gefangene fliehen, elf Menschen starben“.
Der Richter nannte zwei angebliche Muslimbrüder bei Namen, die "Werkzeuge gebrauchten, um das Gefängnis aufzubrechen", und er forderte, dass diese zwei zur Verantwortung gezogen würden.
Einer der Gefangenen war Mursi
Unter den Gefangenen, die so befreit wurden, befand sich in Ward No. 3, Gefängnis 2, Muhamed Mursi, der gegenwärtige Präsident, zusammen mit anderen hohen Chargen der Muslimbrüder, die heute in Amt und Würden stehen.
Mursi persönlich telefonierte sofort nach seiner Befreiung dem Fernsehsender al-Jazeera und schilderte seine Lage. Am gleichen Tag verbreiteten Al-Jazeera und die Nachrichtenagentur Reuters die Nachricht von der „Befreiung der Muslimbrüder“.
Die Episode zeigt deutlich, dass die ägyptischen Richter mental in der Vorrevolutionszeit verankert sind. Sie können sich auf die Gesetze berufen, die seither unverändert geblieben sind. Das Parlament, das sie hätte ändern können, haben sie aufgelöst. Mursi seinerseits tut, was er kann, um die "Richter Mubaraks" abzusetzen und seine eigenen einzusetzen. Dadurch macht er sich natürlich bei den sich im Amt befindlichen Richter besonders unbeliebt.