Für gewöhnliche Zuschauer der 99. Zeremonie der Kranzniederlegung am Grab des unbekannten Soldaten unter dem Pariser Triumphbogen ist die Place Charles-de-Gaulle (früher: Place de l’Étoile) weiträumig abgesperrt. Die Zugangsschleusen für das „Public Viewing“ via Grossleinwand und zu den Champs-Élysées, woher der Staatspräsident anfährt, sind streng überwacht. Polizeifahrzeuge blockieren überall die sternförmig angelegten Zugangsstrassen und ihre breiten Trottoirs. Die Terroranschläge der letzten Jahre zwingen zu extremen Vorsichtsmassnahmen für einen Anlass, der auch, und gerade für das breite Publikum abgehalten wird.
Der Grosse Krieg
Aber niemand protestiert. Bei leichtem Nieselregen ist die Stimmung freundlich, man unterhält sich mit seinen Nachbarn. In der Warteschlange vor dem Metalldetektor fragt der Knirps hinter mir seinen Grossvater, wer denn eigentlich gestorben sei. Dieser erklärt, sein Urgrossvater sei zwar zweimal verwundet worden, aber schliesslich 1918 doch lebend aus dem „Grossen Krieg“ zurückgekehrt. Der Kranz sei für die Unzähligen, welche weniger Glück gehabt hätten. Ein kurzes Sirenengeheul des Fahrzeugtrosses der amerikanischen Botschaft neben uns gibt Anlass zur Erklärung der Rolle der USA, deren Kriegseintritt vor 100 Jahren die endgültige Wendung zugunsten der Alliierten bedeutete.
Präsident Macron hat etwas Verspätung auf den Fahrplan, da er zuvor dem wieder eröffneten „Musée Clemenceau“ einen Besuch abstattete. Georges Clemenceau, „der Tiger“, war Arzt, Journalist, zusammen mit Emile Zola („J’accuse“) antiklerikaler Verteidiger von Alfred Dreyfus im grössten Justizskandal Frankreichs und von 1906 bis 1909 und von 1917 bis 1920 Premierminister. Im völligen Gegensatz zum anderen damaligen Helden Frankreichs, Maréchal Philippe Pétain, bleibt Clemenceau eine französische Lichtgestalt. Pétain verkörpert das Vichy-Frankreich und wurde später wegen Hochverrats verurteilt und völlig entehrt.
... und seine Folgen
Clemenceau trat bei den Friedensverhandlungen von Versailles für eine strenge Bestrafung Deutschlands ein. Die Franzosen hatten dem Erzfeind eben das Elsass entrissen. Die relative ruhigen 20er und die bewegten 30er Jahre folgten, mit dem schrecklichen Ende, das man kennt. Trotz der gegenseitigen und allgemeinen Versicherungen damals, dass dies der „Krieg zum Ende aller Kriege“ gewesen sei. Entscheidend dafür war unter anderem, dass die institutionellen Voraussetzungen zum Friedenserhalt nur unzureichend geschaffen worden waren. Auf globaler Ebene scheiterte der Völkerbund, auch wegen des zunehmenden Isolationismus wichtiger Akteure, so der USA. In Europa nahm populistischer Nationalismus überhand speziell bei den Kriegsverlierern Italien und Deutschland, welcher in verbrecherischen Faschismus und Nazismus mündete.
Europa heute
Wie verschieden das heutige Europa sich darstellt, zeigte sich besonders klar anlässlich der Eröffnung am 10. November einer französisch-deutschen Gedenkstätte am Hartmannswillerkopf mit symbolischer Umarmung der Präsidenten Macron und Steinmeier. Ein Hügel in eben diesem Elsass nur, auf der französischen Seite des Rheins, unweit von Basel gelegen, wo aber während des ersten Weltkriegs Zehntausende französischer Poilus und deutscher Landser sinnlos „nationalistischer Ehre“ geopfert wurden. Ein Besuch ist lebhaft zu empfehlen, über das relativ kleine Museum hinaus kann man sich in den Überresten der Schützengräben beider Seiten relativ frei bewegen. Dies nicht im Sinne von Schlachtfeldtourismus, sondern als lebendige Geschichtslektion.
Die EU als Lektion für Europa ...
Die EU ist die institutionelle Ausformung, dass Europa aus seiner Geschichte gelernt hat. Anstelle nationalistischer Alleingänge ist der Zwang zum oft mühsamen, aber letztlich allgemein akzeptierten Multilateralismus getreten. Der garantiert, dass Europa sich zwar langsam, aber stetig und voraussehbar in Richtung gemeinsamer demokratisch (europäisches Parlament) und rechtstaatlich (Europäischer Gerichtshof) überprüfter Ziele bewegt. Die sich bereits abzeichnende politische und wirtschaftliche Katastrophe, auf welche Grossbritannien seit seinem Brexit-Entscheid zutreibt, ist das jüngste Beispiel eines sinnlos gewordenen nationalen Alleingangs.
... und die Welt
Die EU hat ihre Probleme mit Immigration von ausserhalb des Kontinents, fiskalischer Vereinheitlichung, Separatismus und autoritären Potentaten in Ungarn und Polen. Gegen aussen verhärtet sich die Auseinandersetzung mit dem unter Putin stetig aggressiver werdenden Russland. Ein Krieg auf dem europäischen Kontinent steht aber nicht bevor.
Anlass zur Sorge um die weitere Ausbreitung des kriegerischen Flächenbrandes gibt vielmehr der Mittlere Osten. Dort tritt der Thronfolger Saudi-Arabiens immer unvernünftiger auf; er will offenbar in der ewigen, innerislamischen Auseinandersetzung zwischen Sunna und Schia eine Entscheidung gegen den Erzfeind Iran erzwingen. Dies mit militärischen Mitteln wie in Jemen, mit wirtschaftlicher Abschnürung wie gegen Katar und mit schwerster innenpolitischer Einmischung, wie eben durch die Geiselnahme des libanesischen Premierministers. Trump fällt als Mediator aus, da er eindeutig Partei ergriffen hat für das sunnitische Saudi-Arabien. Für ihn hat es Präsident Macron übernommen, eben in Riad und bald in Teheran, die bärtigen Hitzköpfe auf die unabsehbaren Folgen einer weiteren Ausweitung ihrer Fehde hinzuweisen.
Meldet sich Amerika ab?
Noch schneller als befürchtet wird sich Europa auch mit dem Grossraum Asien-Pazifik zu beschäftigen haben. Nachdem sich Xi Jinping am Parteikongress zum unbeschränkten Kaiser von China mit mittelfristig globalem Anspruch hat krönen lassen, befasst sich Trump auf seiner gegenwärtigen Asientour ostentativ mit bilateraler Aussenwirtschaftspolitik. Wie eingangs erwähnt, haben die USA ein erstes Mal globale Verantwortung übernommen bei Kriegseintritt 1917. 100 Jahre später scheint Trump sein Land wieder abzumelden. Da bleibt primär Europa und die EU, um die der bisherigen internationalen Ordnung zugrundeliegenden Werte zu verteidigen.