Der Schriftsteller Ludwig Hohl (1904-1980), Geheimtipp in einem kleinen Kreis von Kennern, geriet kurz vor und nach seinem Tod in den Fokus eines flackernden Interesses, worauf sein Name wieder erlosch. Jenes Zwischenspiel der Aufmerksamkeit verdankte er hauptsächlich Alexander J. Seilers filmischem Porträt «Ludwig Hohl – ein Film in Fragmenten» (1982). Seiler prägte das Bild des verarmten Dichters und Denkers in der Genfer Kellerwohnung, der zwischen Stapeln von Notizheften und an Wäscheleinen gehängten Blättern unentwegt seine Texte umarbeitet und so mit seinem Werk ringt.
Monument des Scheiterns
Von Ludwig Hohl hat gerade ein Buch wirklich Bestand: «Die Notizen», 1936 abgeschlossen, ab 1944 erstmals erschienen. Die gut achthundert Seiten bestehen aus numerierten Stücken von wenigen Zeilen bis einigen Seiten Länge. Sie stehen in keinem fortlaufenden Zusammenhang und sind lose zu Themen gebündelt. Das Buch mit dem schönen Zusatztitel «Von der unvoreiligen Versöhnung» ist gewissermassen das vorzeitig abgeschlossene Werk eines Lebens, eigentlich aber auch das faszinierende Monument eines Scheiterns. Hohl hat sich erst nach langen Kämpfen mit der fragmentarischen Form seines Schreibens angefreundet.
Zum Werk und zur Person Ludwig Hohls hat die Berner Literaturwissenschafterin und Psychologin Anna Stüssi einen völlig neuen Zugang gebahnt. Ihre Hohl-Biographie der entscheidenden Jahre 1904 bis 1937 leuchtet die verschlungenen und oft genug dramatischen Pfade der Entstehung von Hohls Schriften aus. Der Untertitel «Unterwegs zum Werk» trifft wörtlich und in doppeltem Sinn zu. Zum einen beschreitet das Buch einen Weg zur biographischen Entschlüsselung und literarischen Würdigung vor allem des Hauptwerks «Die Notizen». Zum anderen gelingt es Anna Stüssi, in der Kette von schriftstellerischen, zwischenmenschlichen und materiellen Krisen, die Hohls Leben kennzeichnet, eine innere Folgerichtigkeit – oder eben: einen Weg – im Hinblick auf die endlich gefundene Fragmentform des Hauptwerks herauszuschälen. «Die Notizen» sind in geradezu bestürzender Weise Ausfluss und Spiegel eines gescheiterten Schriftstellerlebens. Zugleich ist das Werk lesbar als Widerschein der gebrochenen Wahrheit und verborgenen Schönheit in der Vita seines Autors.
Das Wahre und Schöne? Ist das nicht die falsche Etage? Das mag so scheinen. Die Biographin jedenfalls macht keinen Hehl daraus, dass Hohl eine schwierige Figur ist, zu der sich empathische Nähe nicht so leicht einstellen will. Anna Stüssi hat in der Auseinandersetzung mit Hohls Leben und Werk ein hartes Stück Arbeit geleistet im Bemühen, diesem sich dauernd entziehenden, diesem ewig ausweichenden und ständig abtauchenden Menschen gerecht zu werden. Die Autorin war als Psychotherapeutin kaum weniger gefordert denn als Germanistin.
Doch die Plackerei führte zu staunenswerten Ergebnissen. Gerade indem nichts beschönigt wird an diesem ziemlich elenden Leben und dessen doch recht schmalen künstlerischen Ertrag, kommt die Biographin einer exemplarischen Künstlerexistenz auf die Spur. Es ist Hohls unbedingter Wille zum Werk, der eben doch tief beeindruckt, seine rigorose Ernsthaftigkeit in der Suche nach – und hier sind die grossen Begriffe am Platz – dem Schönen und Wahren. Der Autodidakt Hohl findet seine Vorbilder bei keinen Geringeren als Spinoza und Lichtenberg sowie beim späten Goethe, und er entdeckt in der Neuseeländerin Katherine Mansfield (1888-1923) die Schriftstellerin, die das von ihm Gesuchte zur Meisterschaft gebracht hat.
Von der Biographie zum Roman
Es ist diese doppelte Leistung der Entschlüsselung eines Such- und Schaffensprozesses wie auch eines menschlichen Dramas, die dieser Hohl-Biographie neben dem wissenschaftlichen Wert ganz beiläufig auch noch die Qualität eines Romans verleiht. Jedenfalls kann man das Buch gleichzeitig als beides lesen. Indem Anna Stüssi die Aufgabe des Biographierens nicht nur archivarisch und literaturwissenschaftlich, sondern auch erzählerisch bewältigt, greift sie über das Leben dieses Individuums und seinen künstlerischen Werdegang hinaus. Hohl wird in ihrer Schilderung präzise situiert und narrativ verwoben in familiären Konstellationen, in Milieus, Landschaften, Städten, Freundschaften, Liebesgeschichten. Seine geistigen Umfelder erscheinen nicht als Kulissen und Staffage. Sie fungieren auch nicht als blosse Zulieferer von Erklärungen. Was Anna Stüssi zeigt, sind vielmehr sorgfältig ausgeleuchtete Lebens- und Kulturwelten. Sie entwickelt den Stoff in einer Weise, dass man zuzuschauen meint, wie sich Hohls Charakter formt, wie er sich löst und verhärtet, sich aufrappelt und wieder fallenlässt. Vor dem Leser entsteht nicht bloss das Bild, sondern tatsächlich der Roman des prototypischen Bohémien-Künstlers, der seine Wege und Irrwege im Europa der Zwischenkriegszeit gegangen ist.
Die acht Jahre Lebenszeit, welche die Autorin in das Biographieprojekt investierte, machen sich bemerkbar in der Gründlichkeit und Nüchternheit der Auseinandersetzung mit Hohl. Der Protagonist ist gleichermassen faszinierend als Typus wie als Person. In beides gibt Anna Stüssi einen so noch kaum gesehenen Einblick, weil sie Hohl samt seinem Umfeld versteht, aber weder ihm selbst noch der Bohême als solcher auf den Leim kriecht. Anna Stüssi hebt ihren Helden nicht aufs Piedestal, sondern weckt unser menschliches und literarisches Interesse. Und in dieser Doppelung ist die Beschäftigung mit Ludwig Hohl ein Gewinn.
Anna Stüssi: Ludwig Hohl. Unterwegs zum Werk. Eine Biographie der Jahre 1904 bis 1937, Wallstein Verlag, Göttingen 2014, 400 S., CHF 40.00