Von 1898 bis 1902 arbeitet der deutsche Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929), ein Renaissance-Spezialist, der über Sandro Botticelli doktoriert hat, am Deutschen Kunsthistorischen Institut in Florenz. Ihn interessiert etwas, das in seinem Fach kaum Beachtung findet: der Alltagsbezug der Kunst. Der schöngeistigen Verherrlichung der Renaissance begegnet er mit Geringschätzung; ihre Adepten nennt er wenig schmeichelhaft «Übermenschen in den Osterferien».
Der einer Hamburger Bankiersfamilie entstammende Warburg forscht nach handfesten Bedeutungen und Werten, die den Werken in der Renaissancezeit zukamen. Er studiert deshalb Motive und Einflüsse der Auftraggeber, untersucht die Umstände der Entstehung von Artefakten und stellt Werkaufträge vermögender Personen in den Zusammenhang mit deren Geschäfts- und vor allem Investitionstätigkeit. So gewinnt er einen neuartigen Blick für die zuvor vom Geniekult des 18. und 19. Jahrhunderts geprägte Vorstellung der Renaissance.
Hereinbrechende Sinnenfreude
Übergangszeiten sind kunst- und kulturhistorisch besonders ergiebig. So ist es nicht verwunderlich, dass Warburgs Interesse sich auf den Grenzbereich zwischen der spätmittelalterlichen Kunst und jener der Frührenaissance richtet. Bei Ghirlandaios Tornabuoni-Fresken in Santa Maria Novella kommt alles zusammen, was ihn fasziniert.
Der Bankier Giovanni Tornabuoni (1428–1497) war ein Aufsteiger im Florentiner Stadtstaat. Seinen enormen Reichtum münzte er zielstrebig um in gesellschaftlichen Rang und politische Macht. Eines der entscheidenden Mittel hierzu war die öffentlich sichtbare Förderung von Kunst. Der Auftrag an Ghirlandaio zur Ausmalung der Hauptchor-Kapelle in der Dominikanerkirche Santa Maria Novella war lediglich eines der zahlreichen Investments in seine persönliche PR. Für Giovanni Tornabuoni ging die Rechnung auf: Er erreichte die ranghöchste Position der Signoria und war als Gonfaloniere di Giustizia Staatsoberhaupt der Republik und Oberkommandierender der Streitkräfte.
Die Fresken der Capella Tornabuoni erinnern noch an die statische Ästhetik des Spätmittelalters. Doch die fromme Enge wird an einzelnen Stellen aufgebrochen, exemplarisch im Bild «Die Geburt Johannes des Täufers». Hier kommt ganz rechts eine Gestalt hereingeweht, die von einer anderen Welt zu sein scheint. Traditionell wurde sie als Magd gedeutet, doch Warburg ist damit nicht einverstanden. Er nennt sie die «Nympha», was im Altgriechischen eine Braut oder einfach eine junge Frau meint, in der Mythologie aber eine Naturgöttin, die der Erotik, Sexualität und Fruchtbarkeit zugeordnet ist und oft als Begleiterin höherer Gottheiten wie Dyonisos oder Aphrodite auftritt.
In der Tat: Für eine Magd ist die Figur zu selbstbewusst, zu elegant, zu exquisit gekleidet im flatternden weissen Gewand mit der Goldborte am Halsausschnitt und den goldenen Armreifen. So schreitet keine Dienerin. Wir sehen vielmehr eine noble Besucherin, die den Früchtekorb auf dem Kopf und der Korbflasche in der Linken als ihre Gastgeschenke zum Ereignis der Geburt hereinträgt – ein Auftritt, dessen Lebensfreude und Sinnlichkeit in dem etwas betreten wirkenden Damenkränzchen von Mutter, Dienerin, Hebamme, Amme und Gratulantinnen fast schon deplatziert anmuten könnte.
Ghirlandaios Nymphe steht für das Hereinbrechen von etwas Neuem in die zur Schau gestellte steifleinene Wohlanständigkeit des florentinischen Grossbürgertums. Der Maler propagiert mit dieser Figur das Rinascimento einer Antike, deren Signatur nicht – wie der vor 300 Jahren geborene Johann Joachim Winckelmann gemeint hatte – «edle Einfalt und stille Grösse» war. Warburg verwirft diese klassische Idealisierung der Antike und folgt Ghirlandaios Begeisterung für eine damals wiederentdeckte Kunst, die Affekt, Bewegung und frei entfaltete Menschlichkeit ins Zentrum stellt.
Warburgs Antike – wie auch deren Spiegelung in der italienischen Renaissance – ist nicht statisch und erhaben, sondern dramatisch, gefühlsgeladen, tragisch, lebensbejahend, erotisch, heiter, düster. Sie kennt das Massvolle und Masslose, den ungezügelten Affekt und die Affektbeherrschung.
Demgegenüber lässt mittelalterliche Kunst das Aufwallen von Gefühlen nur unter der Kuratel christlicher Zwecke zu. Sie zeigt Leiden und Freude, Kampf und Barmherzigkeit stets in verkündigender Absicht. Diese Kunst will immer der Andacht und Glaubensfestigung der Betrachter dienen. In der Rückkehr der affektiven, freien Antike sieht Aby Warburg eine epochale Wende, einen Durchbruch der Kunst zur Humanität. Er feiert in seiner Hochschätzung der Renaissance die Wiederkehr des Paganismus, der wie Ghirlandaios verführerische Nympha in die starre Ordnung des Mittelalters einbricht.
Der Pakt der Warburg-Brüder
Wer ist dieser Aby Warburg? Geboren als ältester Sohn einer wohlhabenden Hamburger Bankiersfamilie, widersetzt er sich der sowohl grossbürgerlichen wie konservativ-jüdischen Erwartung an den Erstgeborenen, in die väterlichen Fussstapfen zu treten. Der nächstjüngere Bruder Max erinnert sich an Abys Ausscheren: «Als ich zwölf Jahre alt war, machte mir Aby den Vorschlag, dass ich ihm sein Erstgeburtsrecht abkaufen solle; nicht etwa für eine Linsensuppe, sondern gegen meine Verpflichtung, ihm immer seine Bücheranschaffungen zu bezahlen. Ich war ein Kind, und der Vorschlag erschien mir ausgezeichnet: Das Geschäft vom Vater würde doch gewiss genug abwerfen, um mich Schiller, Goethe und vielleicht auch noch Klopstock kaufen zu lassen. Wir haben den Pakt feierlich mit einem Händedruck besiegelt. Dieser Vertrag war wohl der leichtsinnigste meines Lebens; freilich habe ich ihn nie bereut.»
Der junge Aby Warburg mutet seiner Familie und besonders seinem Bruder Max einiges zu. Er schlägt nicht nur die Bankierskarriere aus, sondern setzt sich auch offen vom jüdischen Glauben ab. Und mit dem Verkauf des Erstgeburtsrechts – Max vergleicht ihn mit der etwas anders gelagerten biblischen Erzählung von den Brüdern Jakob und Esau mit dem sprichwörtlichen Linsengericht zum Erbtausch – hat er dem jüngeren Bruder tatsächlich etwas eingebrockt! Selbstverständlich haben weder Aby noch Max bei dem kindlichen Deal eine Vorstellung von den Konsequenzen. Aby wird nämlich nicht etwa zum Hobby-Büchersammler, sondern er legt zielstrebig die legendär gewordene Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) an, die bei seinem Tod auf über 60’000 Bände angewachsen ist und in einem eigens dafür gebauten und von der Familie einträchtig bezahlten Bibliotheksgebäude untergebracht ist.
Denkraum der Besonnenheit
Die stetige Zurücksetzung durch den die Gesellschaft verseuchenden Antisemitismus weckt Aby Warburgs Widerstandsgeist. In seiner KBW sieht er das Laboratorium eines offenen Kulturverständnisses, einen «Denkraum der Besonnenheit», wie er sein Werk auch nennt. Das Institut ist ein klarer Gegenentwurf zu Nationalismus und völkischem Denken. Seine (überwiegend jüdischen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die an der KBW Studierenden sprechen von ihr als einer «festen Warburg» – in launiger Anspielung auf Luthers inzwischen völkisch vereinnahmte «feste Burg». Es geht dem Gründer um die Suche nach einer nicht auf nationale Identität, sondern auf das Allgemeine ausgerichteten Humanität. Kunst und Kultur sollen als zivilisatorische Kräfte den immer mächtigeren destruktiven Strömungen entgegenwirken.
Der Erste Weltkrieg wirft Aby Warburg in eine tiefe Verstörung, die sich als schwere psychische Erkrankung äussert. Fünf Jahre verbringt er in psychiatrischen Kliniken, zuletzt im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen, wo er vom Psychiater Ludwig Binswanger behandelt wird. Mit der in der Klinik entstandenen ethnologischen Studie «Schlangenritual» über die Hopi-Indianer, die er 25 Jahre zuvor in den USA einige Monate lang hat besuchen können, gewinnt er seine Arbeitsfähigkeit zurück. Der kanonisch gewordene schmale Band fokussiert auf die Erkenntnis, dass die Fähigkeit zum Umgang mit Symbolen für jede menschliche Kultur essentiell ist.
Unterwegs zu einer visuellen Enzyklopädie der Affekte
Symbole haben starke affektive Gehalte, und so wundert es nicht, dass Warburg eine Verbindung zu seiner Renaissance-Antike-Konzeption sucht. Er strebt eine generalistische Sicht der Gefühlsäusserungen im Medium der Kunst an. Zielstrebig sammelt er neben Büchern auch reproduzierte Artefakte, in erster Linie Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Architekturen, aber auch Münzen, Briefmarken, Werbematerial und andere alltägliche Bildträger.
Dabei kommt ihm zustatten, dass die Technik der Bildreproduktion zu dieser Zeit bereits enorme Fortschritte gemacht hat. Mit den von ihren Kontexten gelösten und auf ähnliche Formate gebrachten Bilddokumenten schafft Warburg sich ein Instrumentarium für ein in der Kunstwissenschaft ganz neuartiges Forschen am Phänomen Bild. Es nimmt in gewisser Weise die poststrukturalistische Methode der Dekonstruktion vorweg. Durch vergleichende Anordnung werden die Bildinhalte von den ihnen zugeschriebenen Bedeutungen abgelöst und auf das konkret Dargestellte reduziert.
Mit seinem Versuch einer neuartigen Kunsttheorie befindet Aby Warburg sich in weglosem, nicht kartographiertem Gelände. Er experimentiert mit verschiedenen Kombinationen und Anordnungen der Reproduktionen, wobei er noch nicht mal genau weiss, was er demonstrieren will. Ihm schwebt eine Art Enzyklopädie der bildlichen Affektdarstellungen vor, wobei er die Hypothese einer visuellen Universalsprache der Gefühlsäusserungen verfolgt.
Ab etwa 1927 verdichtet sich der Suchprozess zu einem Verfahren, Gruppen von Bilddokumenten auf 120 mal 150 Centimeter grossen schwarzen Panels anzuordnen, um Beziehungen und Entwicklungen einer Bildgrammatik der Affekte herausarbeiten zu können.
Der Bildatlas Mnemosyne
1929 stellt Warburg mit seinen Mitarbeitern der KBW eine Serie von 63 Panels mit knapp tausend Bildern zusammen. Er betrachtet sie als Entwürfe für eine Publikation in Buchform. Arbeitstitel: «Bilderatlas Mnemosyne». Das griechische Wort steht für «Erinnerung» und ist in der Mythologie der Name jener Göttin, welche die Mutter aller Musen ist.
Diese Serie von 1929 ist die letzte Fassung jenes Projekts, mit dem Warburg die Bildcodes einer universellen Palette menschlicher Regungen entschlüsseln wollte. Der Bilderatlas ist sein eigentliches Lebenswerk. Er bleibt ein Fragment voller Rätsel – und wird nach Warburgs Tod zum Phantom, denn der Bilderatlas ist nicht nur unvollständig und unfertig, er bleibt auch für lange Zeit verschwunden und geistert fortan als Gerücht durch die Fachwelt.
Nach Warburgs Tod im Jahr 1929 arbeitet das KBW-Team in seinem Sinne weiter; die Bibliothek ist längst zu einer kunst- und kulturhistorischen Forschungsstätte internationalen Ranges geworden. Bei der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ist sie sogleich akut gefährdet, denn es steht vor aller Augen, dass die KBW dem völkischen Ungeist frontal entgegensteht. Ihr weiteres Ergehen ist einer der raren Glücksfälle unter den Schicksalen kultureller Einrichtungen in der NS-Zeit. Dem handstreichartigen Handeln der KBW-Mitarbeiter und der klugen Unterstützung der Hamburger Oberschulbehörde ist es zu verdanken, dass nicht nur die gefährdeten Personen, sondern die gesamte Bibliothek 1933 rechtzeitig nach London ins Exil entkommen. Die KBW besteht und lebt dort bis heute als «The Warburg Institute» als Teil der University of London.
Die 63 Panels des «Bilderatlas Mnemosyne» von 1929 jedoch sind verschollen. Nach dem Krieg werden verschiedene Versuche zu deren Rekonstruktion unternommen. Das Interesse ist riesig, denn der «Iconic Turn» – die Verlagerung der Geisteswissenschaften «vom Weltbild zur Bilderwelt» (Bazon Brock) – hat inzwischen eine theoretische Basis für Warburgs bahnbrechende experimentelle Forschungen geschaffen.
Wiedergefundene Originaldokumente
2012 beginnt ein neues Kapitel in der Erforschung von Warburgs verschollenem Bilderatlas, das zu einem spektakulären Erfolg führt. Die Version von 1929 ist fotografisch dokumentiert; die entsprechenden Glasnegative werden entdeckt. Doch die damals zur Bestückung der Panels verwendeten Bilddokumente gelten als verloren. Bis die Kuratoren Orberto Ohrt und Axel Heil auf die Idee kommen, im 400’000 Bilder umfassenden Archiv des Warburg Institute in London zu suchen. In jahrelanger Arbeit gelingt es, fast alle der auf den Glasnegativen festgehaltenen 971 Bilddokummente aufzuspüren. So können Warburgs Panels von 1929 mit den originalen Materialien rekonstruiert werden. Die wenigen fehlenden Stücke werden durch Äquivalente ersetzt.
Die 63 originalen Warburg-Tafeln des «Bilderatlas Mnemosyne» sind zurzeit im Museum «Haus der Kulturen der Welt» (HKW) in Berlin ausgestellt. Allerdings ist das Museum wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Es bietet jedoch im Internet virtuelle Besichtigungen und diverse Video-Informationen an. Als Ausstellungskatalog hat der Kunstverlag Hatje Cantz die Tafeln in einem übergrossen Buch (45 x 61 cm) in hervorragender Qualität reproduziert.
Aby Warburgs Lebenswerk ist damit 91 Jahre nach seinem Tod endlich zugänglich. Obschon sein Ansatz dem akademischen Denken über Kunst und Kultur nicht mehr so fremd ist wie in den 1920er-Jahren, scheint «Mnemosyne» dem Nachdenken über Bilder noch immer ein paar Schritte voraus zu sein. Im März 2021 soll der Kommentarband zum Bilderatlas erscheinen. Man darf gespannt sein, wie weit Warburgs Werk dann entschlüsselt sein wird.