Wer viel Zeitungen liest und häufiger im unendlichen Internet-Kosmos herumturnt, merkt, dass hierzulande das Spannungsverhältnis zwischen den Dialekten und dem so genannten Hoch- respektive Schriftdeutsch - und dessen verschiedenen nationalen Varianten - die Gemüter stark beschäftigt.
Das scheint mir grundsätzlich ein gutes Zeichen. Erstens kann man daraus ableiten, dass offenbar ein beträchtlicher Teil des Publikums sich keineswegs um sprachliche Nuancen, Eigenheiten, Konrtoversen und Stilfragen foutiert, wie das betrübte Kulturpessimisten gerne suggerieren. Zweitens kann man angesichts der intensiven Resonanz dieses Themas vermuten, dass wir insgesamt in einer vergleichsweise glücklichen – oder sagen wir: gut gepolsterten – Gesellschaft leben. Wäre dem nicht so, würde das Thema Schweizerdeutsch/Hochdeutsch auf unserer publizistischen Bestsellerliste etwas weiter nach hinten rutschen
Nun kurz zu einem definitorischen Hinweis im weitläufigen Feld des hochdeutschen Sprachraums. Deutsch, so heisst es in einem Wikipedia-Beitrag zu diesem Kapitel, werde heute weit herum als eine „plurizentristische Sprache“ verstanden und akzeptiert. Der aus Australien stammende Germanist Michael Clyne hat das so beschrieben: „Deutsch, wie auch Englisch, Französisch, Spanisch und zahlreiche andere Sprachen (das Russische gehört nicht dazu) ist eine plurizentristische Sprache, das heisst eine Sprache mit mehreren gleichberechtigten Nationalvarianten.“
Die drei wichtigsten Untergruppen in diesem plurizentrischen deutschen Sprachraum sind: das bundesdeutsche Hochdeutsch (auch kurz Bundesdeutsch genannt; das frühere Phänomen des DDR-Deutsch dürfte inzwischen weitgehend abgestorben sein), das österreichische Hochdeutsch mit seinen Eigenheiten, den Austriazismen, und das in der Schweiz gängige Hochdeutsch mit seinen Besonderheiten, den sogenannten Helvetismen.
Auf diese moderne plurizentrische Betrachtungsweise unseres Sprachraums soll hier vor allem deshalb hingewiesen werden um zu betonen, dass wir Schweizer uns beim Gebrauch der deutschen Hoch- und Schriftsprache die Verwendung von Helvetismen keineswegs abzugewöhnen – oder uns deswegen gar zu schämen – brauchen. Über den bereichernden Stellenwert von Helvetismen im Werk etwa von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt sind schon ganze Dissertationen geschrieben worden. Vor kurzem ist sogar ein eigener Duden-Band über das Schweizerherhochdeutsch erschienen.
Als heiterer Schlusspunkt noch ein Hinweis zur einer kreativen Wortbildung, die im gesamten hochdeutschen Sprachraum problemlos verstanden wird: „Entrüstungsmaschinerie“. Diesen Begriff verwendet der Chefredaktor (Achtung: Helvetismus!) eines helvetischen Wochenblattes, um sich darüber zu entrüsten, dass die ziemlich merkwürdigen Bargeld-Spenden in Millionenhöhe an seine Herzenspartei SVP von andern Zeitungen kritisch beleuchtet werden. Diese Blätter hätten dabei „die branchenübliche Entrüstungsmaschinerie angeworfen“, echauffiert sich der Leitartikler. Das ist ungefähr so, wie wenn sich ein Oberwilderer darüber empört, dass es im Wald so viele Wilderer gibt.
R. M.
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