Es sei eine „Verhöhnung der Begriffe“ schimpft ein empörter Leserbriefschreiber in der NZZ, wenn Teilnehmer an der „Occupy Paradeplatz“-Demonstration behaupteten, „der Kapitalismus“ sei schuld an der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise. Denn diesen pauschalen „Kapitalismus“ gebe es nirgends auf der Welt. Die Schweiz sei eine „soziale Marktwirtschaft“, nicht mehr und nicht weniger.
Der Schreiber hat nicht unrecht. Der Begriff Kapitalismus hat in öffentlichen Diskussionen zwar heutzutage wieder hohe Konjunktur, doch was genau damit gemeint wird, ist bei näherem Zusehen oft schwierig zu ergründen. Der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, mit seinen 92 Jahren inzwischen zu einer Art Übervater unter allen Meinungsmachern der deutschen Medienszene geworden, hat in einem Gespräch mit dem Historiker Fritz Stern festgestellt, das Wort Kapitalismus sei ja ein marxistischer Begriff und könne zu Irrtümern Anlass geben. Jedenfalls sei etwa das deutsche Wirtschaftssystem kein kapitalistisches, sondern „es ist zu einem grossen Teil Wettbewerb und Marktwirtschaft, zu einem andern Teil Wohlfahrtsstaat“.
Mit dieser Definition werden viele Kapitalismus-Kritiker natürlich nicht einverstanden sein. Schmidt schliesst übrigens selber den Gebrauch des Kapitalismus-Begriffs nicht aus, aber er versieht ihn mit einem Zusatz. In seinem neuesten Interview mit dem „Spiegel“ spricht er vom „Raubtierkapitalismus“. Da wird für den geneigten Leser schon etwas klarer, was damit gemeint ist. Vielleicht sollten sich die Demonstranten der „Occupy“-Bewegung davon ein Beispiel nehmen.
Und wie steht es eigentlich mit dem Begriff „Staatskapitalismus“ chinesischer oder nordkoreanischer Prägung? Ist das vielleicht ein besserer Kapitalismus als das von den Marxisten gemeinte Kampfwort? Oder ist das nur ein anderes Etikett für den Begriff Sozialismus, der ja gemeinhin heissen soll, dass die Verfügungsgewalt über Kapital und Produktionsmittel primär beim Volk oder beim Staat (wiederum so ein problematisches Begriffspaar, das dringend nach genauerer Definition ruft) liegt?
Doch auch mit den andern grossen Worten des politischen und ökonomischen Diskurses wie Freiheit, Liberalismus oder Konservatismus steht es mit der inhaltlichen Präzision nicht besser. Sie werden ja nach Perspektive, Gusto und Kalkül für höchst unterschiedliche Ziele, Tatbestände und Argumente in Anspruch genommen.
Deshalb der Ratschlag: Vorsicht und Skepsis beim Umgang mit grossen Worten, auch wenn sie von den Matadoren im öffentlichen Meinungsstreit noch so gerne in Stellung gebracht werden.
R.M.
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