Es sei denn, man wird auf etwas gestossen, das man eigentlich nicht so schrecklich gerne wissen möchte. In der alten deutschen Sprache gab es dafür die Wendung: „Ich entdeckte ihm ...“ Das war hin und wieder der Beginn einer Tragödie. Aber in unserer Zeit ist die Grundstimmung des Wortes „entdecken“ durch und durch positiv.
Das Überraschende, das Unkalkulierbare des Entdeckens kann nur erleben, wer aufbricht, wer etwas wagt und vielleicht noch gar nicht recht erklären kann, was er sucht. Das ist der Grund dafür, dass manche, denen später Denkmäler als „Entdecker“ gesetzt worden sind, zu Lebzeiten als Spinner oder zumindest als Sonderlinge abgetan wurden. Weg und Abweg sind eben schwer zu unterscheiden.
Das schönste Beispiel dafür bietet die Geschichte vom "Lachen der Thrakerin“ in der Antike. Diese Dame lachte über einen Philosophen, der nachts, die Augen auf den Sternenhimmel gerichtet, umherging und prompt in eine Grube fiel. Allerdings war der nicht so weltfremd, wie die Magd glaubte. Er entdeckte nämlich einen – vermeintlichen – Zusammenhang zwischen Sternenkonstellation und Wetter, erkannte, dass dieses Jahr die Getreideernte sehr gut ausfallen würde, kaufte alle Getreidemühlen auf und wurde reich.
Inzwischen sind wir alle zu Entdeckern geworden. Das verdanken wir der Werbung. Es gibt kaum noch einen Werbetext, der ohne das Wort "entdecken" auskommt: „Entdecken Sie ...“ - den neuen Duft , das neue Auto, Stockholm oder die Schweiz. Oder, noch aktueller: „Entdecken Sie eine Vielzahl von möglichen Landausflügen in verschiedenen Anlaufhäfen auf Ihrer Luxus-Kreuzfahrt.“
Das ist nicht etwa üble Manipulation, das ist vollendete Höflichkeit. Kein Werber würde zu uns sagen: „Zum Teufel, nun kaufen Sie endlich das, was wir Ihnen mit viel Mühe und Geld vor Ihre trüben Augen gestellt haben!“ Statt dessen sagt er: „Wie klug Sie doch sind, unser Angebot zu entdecken.“ Wer wollte da kein Entdecker sein?
S.W.
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