Vor einigen Monaten ist die grundlegend überarbeitete BMW R 1200 GS auf den Markt gekommen. GS steht für „Gelände“ und „Strasse“. Diese Reiseenduro mit ihren Verkaufsrekorden gilt als Massstab für Maschinen, die sich für die ganz grosse Fahrt auch auf holprigstem Untergrund eignen. Daher löst sie Träume aus. Ihre Form betont die technische Überlegenheit, ist aber nicht nüchtern, sondern enthält einige Elemente, mit denen Designer Unsterblichkeit erlangen möchten. Was die Fans begeistert, finden andere einfach nur hässlich, insbesondere das Teil, das unter dem Scheinwerfer hervorragt und der Maschine den Spitznamen „Schnabeltier“ eingetragen hat.
Schaut man sich auf den Strassen um oder blättert man in den Motorradzeitschriften, so fällt an den modernen Maschinen mit ihren Verkleidungen und windschlüpfigen Formen eine gewisse Monotonie auf. Wie bei so vielen Produkten, die sich auf einem weltweiten Markt behaupten müssen, scheinen die die Formen austauschbar zu sein. Das ist kein Wunder. Schliesslich arbeiten die Ingenieure weltweit an denselben Problemen, und die Designer orientieren sich tendenziell an dem, was bislang erfolgreich war.
Es scheint, als wäre die Formenvielfalt vor allem in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wesentlich grösser gewesen. Weil es in dieser Zeit in den Industrieländern Tausende von Anbietern und Tüftlern gab, wurde zum Teil waghalsig mit Technik experimentiert, wobei auch sehr originelle Formen entstehen konnten. Die Vielfalt ging im Laufe der Jahrzehnte aber zugunsten erfolgreicher Trends weitgehend verloren.
Seit gut 30 Jahren wächst aber die Vielfalt der Maschinen. Man könnte von „funktionaler Differenzierung“ sprechen. Ständig werden ganz unterschiedliche Modelle für ganz verschiedene Zwecke entwickelt. Da gibt es das leichte Motorrad für Anfänger, das wendige Funbike, das Offroad-Motorrad, es gibt Allrounder, schwere Tourenmaschinen und nicht zu vergessen: „Sportler“- und „Supersportler“ - im Grunde reine Rennmaschinen. Man muss nur einmal den Gesamtkatalog von BMW durchblättern, um sich eine Vorstellung von dieser Vielfalt zu machen.
Trotz dieser Vielfalt der Funktionen scheint alles irgendwie in Standardformen gegossen zu sein. Und es gibt den Trend zum aggressiveren Design: schlitzäugige Scheinwerfer, die der Front etwas Drohendes geben, sie fast zu einer bösartigen Fratze machen; hoch über das Hinterrad geführte von den Fachleuten scherzhaft „Bürzel“ genannte verlängerte Sitzbänke; kantige Tankformen.
Seit Jahren aber zeichnet sich dazu ein Gegentrend ab: die Rückkehr zu „klassischen“ Formen. Und in diesem Jahr haben sich noch mehr Hersteller auf Modelle besonnen, die sie schon früher in ihren Programmen hatten und nun mit neuer Technik wieder anbieten. Das Ganze läuft unter dem Stichwort „retro“. Was retro ist, muss man nicht erklären. Viel schwieriger aber wird es, wenn man wissen will, was mit „klassisch“ genau gemeint ist.
Auf den ersten Blick ist es einfach. Immer dann, wenn ein Motorrad auftaucht, das nicht modern verkleidet ist – böse Zungen bezeichnen modern verkleidete Maschinen als „Joghurtbecher“ - wird vielen Betrachtern warm ums Herz und sie sprechen von „klassisch“. Ausgelöst wird diese Emotion durch die Tatsache, dass bei älteren Maschinen noch alle oder die meisten Bauteile einzeln und zumeist abgegrenzt zu sehen sind: Rahmen, Sattel, Motor, Getriebe, Räder, Scheinwerfer und so weiter. Und die Räder mit den dünneren Reifen geben den Maschinen einen gemächlicheren Ausdruck.
Im landläufigen Wortgebrauch ist „klassisch“ also eng mit „früher“ verbunden. Es sind eben Maschinen „von früher“, die nostalgische Gefühle wecken. Die Bruchlinie zwischen „modern“ und „klassisch“ bei Motorrädern liegt in den 1980er Jahren, als die Anbieter auch aufgrund des japanischen Einflusses immer mehr dazu übergingen, die Maschinen zu verkleiden und die Bauelemente stärker miteinander zu verbinden.
Aber meinen wir mit „klassisch“ wirklich nur Motorräder von früher? Oder spielt da noch etwas anderes hinein? Gibt es etwas, wodurch das Alte erst klassisch wird? Diese Frage ist mehr als eine theoretische Spielerei. Denn wenn man sie hart genug stellt, blicken wir tiefer in unseren eigenen inneren Kanon von Formen und Idealen.
The Art of the Motorcycle
Wann ist eine Form klassisch? Das Guggenheim Museum hat 1998 in New York, 1999 in Chicago und Bilbao eine Ausstellung gezeigt, in der man dieser Frage nachgehen kann: „The Art of the Motorcycle“. Vom Anfang der Entwicklung kurz vor 1900 bis zum Jahr 1998 wurden aus Europa, den USA und Japan Motorräder zusammengestellt, die in den Augen der Kuratoren so etwas wie Kunst darstellen. Kunst? Man kann es auch einfacher sagen: Es sind Formen, die auf ihre Weise eine Vollkommenheit haben wie sonst nur Kunstwerke. Wer in einem der heute noch antiquarisch zugänglichen Kataloge blättert, wird wieder und wieder auf Formen und Details stossen, die auf ihre Weise Meisterwerke sind.
Für einen Laien, also für jemanden, der weder ein Kenner des Designs noch der Motorradentwicklung ist, handelt es sich bei diesen Empfindungen eher um Intuitionen. So richtig begründen kann er das nicht. Als die Zeitschrift „Motorrad Classic“ Ende 1987 gegründet wurde, hat der Verhaltensforscher und Motorradexperte Bernt Spiegel Folgendes dazu bemerkt: Klassisch sei etwas, das zu einer gegebenen Zeit den Zustand der Vollkommenheit erreicht habe, sich dann aber aus sich selbst heraus nicht mehr weiterentwickeln konnte.
Diese Definition löst mehrere Rätsel auf einmal. Sie beantwortet die Frage, warum uns das Klassische berührt – von klassischer Musik und Dichtung bis hin zu einer Wagenfeld-Lampe. Sie macht klar, dass das Klassische jeweils ein Endpunkt einer Entwicklung ist, indem sie sie in ihre vollkommenste Form bringt. Und sie zeigt, dass das Klassische mehr ist als nur das Frühere.
Die Vielfalt Europas
In Bezug auf Motorräder denken Laien beim Klassischen ans Design. Kenner, Experten und Freaks haben aber noch etwas anderes im Auge: technische Details. Eine bestimmte Art des Antriebs - die Kardanwelle - oder ein Detail beim Motor - die Königswelle - können die Kenner auch heute noch entzücken. Es ist wie bei den Uhren: Quarzuhren gehen zwar genauer, aber mechanische Werke vermitteln ihren Trägern eine andere Beziehung zu ihrer Uhr und, wer weiss, vielleicht auch zur Zeit. Aber auch bei den technischen Details gilt die Einsicht von Bernt Spiegel: Irgendwann ist etwas in sich Vollkommenes erreicht. Es lässt sich im Grunde nicht mehr weiterentwickeln. Ganz andere Konzepte ersetzen es.
Um dem, was wir mit klassisch meinen, näher zu kommen, ist Europa ein idealer Standort. Denn hier wurden in ganz verschiedenen Ländern mit ihren unterschiedlichen Kulturen Motorräder entwickelt. Wir können also in der "klassischen" Vergangenheit unterschiedliche Ausprägungen des "Klassischen" oder auch nur des Früheren sehen. Das schärft die Urteilskraft.
Inzwischen gibt es eine reichhaltige Literatur, die Einblicke in die unterschiedlichen Marken und die sie prägenden Kulturen gibt. Dabei fällt zunächst einmal auf, dass am Anfang die Techniker über die Formen bestimmten. Das, was wir heute Design nennen, drängte sich erst in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts in den Vordergrund. Dennoch gab es schon lange vorher das, was das Guggenheim-Museum als Kunst des Motorrads ausstellte.
Träume und ästhetisches Empfinden
Wie entstand diese Kunst und woran zeigt sie sich? Beim Betrachten der Motorradmodelle der früheren Jahrzehnte fallen drei Merkmale auf: Einmal sind es Details, die entzücken. Das können die Instrumente wie der Tacho sein, Uhren, aber auch die Form eines Scheinwerfers. Bei den Instrumenten spielt auch die Anordnung eine grosse Rolle: am Lenker, vor dem Lenker, auf dem Tank? Wie werden die Instrumente und Schalter zueinander in Beziehung gesetzt. Je genauer man hinschaut, desto klarer wird, dass die Motorräder nicht irgendwie zusammengeschraubt wurden, sondern dass auf die Gestaltung der Formen grosser Wert gelegt wurde. In vielen Fällen mögen es Techniker gewesen sein, die ihrem ästhetischen Empfinden – und ihren Träumen - Ausdruck verliehen haben.
Als zweites lassen sich markenspezifische Grundlinien erkennen. Jede Marke hat ihre Handschrift, mal mehr, mal weniger ausgeprägt und im Laufe der Zeit durchaus veränderbar. Betont wurde der eigene Stil auch durch spezifische Farben. Zum Stil einer Marke gehörte auch die Plakatwerbung, und man kann sich gut vorstellen, wie schon in früheren Zeiten die verschiedenen Abteilungen aufeinander eingewirkt haben: Welche Form, welche Farbe, welche Details kommen gut an, welche werden eher belächelt?
Als Drittes lassen sich an den unterschiedlichen Motorradmarken die Einflüsse der Landeskultur erkennen. Französische Motorräder – leider gibt es die heute ausser einigen Rollermodellen nicht mehr – sehen eben irgendwie französisch aus, ein italienisches hat Italianità und ein englisches Motorrad wirkt eben „britisch“. Wie dieser Gesamteindruck jeweils genau zustande kommt, ist eine interessante Frage.
Ebenso aufschlussreich wie erstaunlich ist die Tatsache, dass einige japanische Motorräder, die seit den 1960er Jahren den europäischen und amerikanischen Markt eroberten, heute ebenfalls als Klassiker gelten. Das gilt für technische Lösungen, aber auch für ihre Formen. Den Japanern ist es gelungen, aus den europäischen und amerikanischen Vorbildern Elemente neu zu kombinieren und weiterzuentwickeln. Dabei sind eigene Kreationen von grosser Schönheit entstanden. Wie schrieb schon Egon Fridell in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“? Ohne Plagiat gibt es keine Kreativität und mithin auch keine Kultur.
In Deutschland wiederum hatte sich für die Frage nach dem Klassischen eine höchst interessante Konstellation ergeben: BMW und das Bauhaus. An dieser Konstellation kann man etwas ablesen, was als Hintergrund für Fragen in Zusammenhang mit anderen Ländern dienlich ist. In den 1920er Jahren nämlich versammelten sich Künstler und Architekten um Walter Gropius in Weimar, denn dort hatte er 1919 die Kunstschule „Staatliches Bauhaus“ gegründet. Ihr Ziel war es, Formen ohne Schnörkel zu entwickeln, die der neuen industriell geprägten Zeit den passenden Ausdruck verliehen. Es ging um Schlichtheit und um die Reduktion auf das Wesentliche. - Auch das ist es, was Klassik ausmacht.
Im Jahre 1923 stellte BMW das erste Motorrad vor, die R 32. Es sah aus, als käme es direkt aus einem Bauhaus-Atelier. Tatsächlich hatte es aber der Ingenieur Max Fiz geschaffen. Ganz sicher war er zumindest atmosphärisch vom Bauhaus beeinflusst, oder anders gesagt: Bauhaus lag in der Luft. Man kann daran sehen, wie der Zeitgeist auf die Formgebung wirkt.
Bis heute hat BMW Motorrad den Boxermotor mit seiner in Längsrichtung eingebauten Kurbelwelle beibehalten. Ansonsten hat sich BMW seit Beginn der 1990er Jahre vollständig von der Form von 1923 emanzipiert. Anders als bei zahlreichen anderen Marken erinnert heute kein BMW-Motorrad mehr an die ersten Modelle. Statt dessen geschah etwas höchst Seltsames. Im Jahr 1997 wurde ein Modell vorgestellt, dass die wachsende Nachfrage nach Cruisern bedienen und vor allem: den schweren Maschinen von Harley-Davidson Paroli bieten sollte. Damit verblüffte BMW Motorrad die Fachwelt. Soviel „Grove“ hatte man der Marke nicht zugetraut, schreibt Ulrich Hoffmann.
Das Modell machte auch deswegen rasch Karriere, weil es im James-Bond-Film, „Der Morgen stirbt nie“, vorkam. Auf seine Weise war es das, was man sich unter „klassisch“ vorstellt, aber es war nicht klassisch. Denn es bezog sich nicht auf die Klassiker, die BMW Motorrad selbst geschaffen hatte. Nach wenigen Jahren wurde dieses anfangs höchst begehrte und erfolgreiche Modell nicht mehr nachgefragt und aus dem Programm genommen. - Man mag spekulieren, ob es daran lag, dass es kein „wirklicher“ Klassiker war. Und es stellt sich die Frage, warum die Ingenieure von BMW sich nicht auf die eigene Klassik beziehen wollten oder konnten.
Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass bezogen auf Klassik Harley-Davidson und BMW Motorrad den denkbar stärksten Gegensatz bilden. Während Harley-Davidson mit einer einzigen Ausnahme die eigene Tradition fortentwickelt, geht BMW immer den neuesten Weg und setzt Massstäbe. Die eigene Klassik ist buchstäblich vergangen. Ob aus den neuen Modellen je Klassiker werden, lässt sich noch nicht beurteilen. Wir können uns schliesslich nicht selbst über die Schulter gucken. Und wir wissen nicht, was später einmal über das gesagt wird, was heute als der letzte Schrei gilt. Dazu kommt eine Besonderheit, die es zur "Zeit der Klassiker" im Motorradbau nicht gab:
Die meisten grossen Marken bieten verstärkt Modelle im Retro-Look an. Man lässt die Vergangenheit wieder aufleben, kleidet sie aber in modernste Technik. So werden zwei Bedürfnisse befriedigt: die Sehnsucht nach den klassischen Formen und der Wunsch nach technischer Vollkommenheit und Komfort. Keine Automarke bietet das.