Der englische Schriftsteller C. P. Snow erregte 1959 mit einer pessimistischen Theorie grösste Aufmerksamkeit: Wir lebten in zwei grundverschiedenen Kulturen, der technisch-wissenschaftlichen und der geistig-literarischen. Beide Kulturen seien unvereinbar, und nur der technisch-wissenschaftlichen gehöre die Zukunft.
Als technische Produkte haben Motorräder ihre eigene Dynamik. Sie als Bestandteil der Kultur zu betrachten, erfordert einen Perspektivenwechsel. Der geschieht in der Werbung und erst recht dann, wenn das Motorrad zum Thema der Literatur, des Films oder der bildenden Kunst wird. Je nachdem, welche Perspektive gewählt wird, steht mal die Technik oder umgekehrt das gesellschaftliche und kulturelle Bezugssystem im Vordergrund.
In seinem neuesten Buch (1) verbindet Ulrich Hoffmann die technische Perspektive mit der kulturellen. Zu sagen, dass dies einzigartig sei, wäre deswegen nicht ganz zutreffend, weil es zahlreiche Bücher über einzelne Motorradmarken gibt, in denen neben der Technik auch die Ästhetik, das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld zum Thema werden. Ulrich Hoffmann aber gelingt eine Gesamtschau unter Einbezug der wichtigsten Marken Europas, der USA und natürlich Japans.
Da schreibt der Motorrad-Freak, der intime Kenner aller Details der Motorentechnik (2) und zugleich der scharfe Beobachter des kulturellen Wandels. Das Buch bietet einen hervorragenden Überblick von der „Pionierzeit des Motorrads“ bis zur „Schönen neuen Motorradwelt“ unserer Tage. Dieser Überblick entsteht aus der akribischen Beschäftigung mit den technischen Konstruktionen in ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt. Damit ist das Buch für Spezialisten ebenso faszinierend wie für Laien.
Und Ullrich Hoffmann kann erzählen. Wenn er von technischen Entwicklungen erzählt, hat er die Wirtschaft im Blick, und diese bettet er in die politischen und kulturellen Entwicklungen ein. In der „Pionierzeit des Motorrads“ (1885 – 1918) stand die Begeisterung im Vordergrund, ein Mittel gefunden zu haben, das die Mobilität enorm steigerte und verbilligte. Ungeahnte wirtschaftliche Möglichkeiten taten sich auf, und es boten sich zahllosen Tüftlern und Bastlern Chancen, ihre Ideen auszuprobieren. Allein in Frankreich gab es in den 1920 Jahren etwa 1.500 Motorradhersteller.
Das europäische Drama des 1. Weltkriegs hat diese Pionierzeit beendet. Aber mit erstaunlicher Energie und Leidenschaft wurden danach neue Modelle entwickelt, und zahlreiche Marken erlebten ihre Blüte. Ob in England, Frankreich, Deutschland, Italien oder den USA: Es entstand eine unglaubliche Formenvielfalt, und überall wurde fieberhaft an der Verbesserung der Technik gearbeitet.
Schon damals spielten Rennen eine entscheidende Rolle. Denn hier waren die Härtetests, in denen sich neue technische Ideen bewährten oder scheiterten. Diese Bewährungsproben kamen nicht nur der Massenproduktion zugute, sondern waren auch für das Prestige einer Marke entscheidend. Überhaupt war der Rausch der Geschwindigkeit in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg ein kultureller Treibsatz. Der Wettbewerb um die schnellsten und stärksten Maschinen wurde immer internationaler. Dieser Wettbewerb war im wahrsten Sinne des Wortes kulturübergreifend.
Solange die Motorradwerke in Europa gegeneinander konkurrierten und Amerika für die europäischen Anbieter keine Gefahr darstellte, konnten die meisten Unternehmen wachsen. Ulrich Hoffmann verschweigt auch nicht, dass alle grossen Marken enorm vom 2. Weltkrieg profitiert haben. Wie schon im 1. Weltkrieg spielte das Motorrad eine grosse Rolle. Und Marken wie Harley-Davidson oder Triumph konnten nach dem Ende des 2. Weltkriegs mit der Zuverlässigkeit ihrer Technik werben. Das Kriegsmodell von Harley-Davidson wurde zum genaz besonders begehrten Sammlerstück.
Wenn man die zahlreichen und sehr gut zusammengestellten Bilder und Plakate in dem Band anschaut, beschleicht einen gerade in der Frühzeit ein eigentümliches Gefühl. Denn im Rückblick spürt man stärker die Ambivalenz, die im technischen Fortschritt liegt. Die Bilder, die zum Beispiel bei den Rennen und Rekorden von Schorsch Meier aufgenommen wurden, haben auch etwas Unheimliches. Das kann nicht verwundern, denn wenige Jahre später sollte diese Art der Technik, wie so viele andere auch, endgültig ihre Unschuld verlieren.
Schon vor dem 2. Weltkrieg, aber erst recht danach, hatte die Motorradindustrie mit dem Aufkommen des Autos zu kämpfen. Immer mehr verlor das Motorrad seine Bedeutung als billiges und massentaugliches Transportmittel. Um sich weiter behaupten zu können, musste es neu definiert werden. Die Überschrift des Kapitels über die Jahre 1969 – 1985 bringt das schön auf den Punkt: „Vom Easy Rider zum Turbo-Kocher“. Zumindest in Amerika bekam das Motorrad zeitweilig das Odium des Antibürgerlichen – womit übrigens Harley-Davidson zeitweilig schwer zu kämpfen hatte. Umgekehrt wurde die sportliche Seite wurde immer wichtiger.
In den 50er Jahren verschwanden zahlreiche Marken und auch BMW reduzierte die Produktion von Motorrädern auf ein Minimum und bot statt dessen die „Isetta“ an. Als hätte das Auto die Situation nicht schon genug erschwert, erschienen nach 1949 die Japaner auf der Bildfläche. Dieses wieder sehr schön illustrierte und eindrucksvolle Kapitel trägt die Überschrift: „Von Europas Ikonen zum Nippon-Bike“. Detailliert beschreibt Hoffmann, wie die japanische Industrie rasch aus dem Status des Kopisten herauswuchs und neue technische Massstäbe setzte. Und nicht nur technische: Auch das Design hat Massstäbe gesetzt.
Überhaupt das Design. Schön zeichnet Hoffmann den Trend zum verkleideten Motorrad nach. Trocken resümiert er: „Als Honda 1987 mit den neuen Modellen CBR 800 F und CBR 1000 F aufgrund ihres geschlossenen Designs das bikende Volk in mindestens zwei Klassen spaltete, wurde klar, dass sich die Gesellschaft verändert hatte. Technik – jederzeit. Aber sauber und nach Möglichkeit verkleidet sollte sie sein.“ Und er resümiert: „Das Motorradleben wurde einfacher und sauberer – aber auch distanzierter.“ Denn die Verkleidungen und die immer komplexeren elektronischen Steuerungen machten es den „Schraubern“ immer schwerer.
Hoffmann vergisst allerdings nicht zu erwähnen, dass diese neuen Formen auch schon mal als „Joghurtbecher“ bezeichnet wurden. Und weil jeder Trend einen Gegentrend erzeugt, wurden die „Naked Bikes“ immer populärer. Besonders Harley-Davidson konnte davon profitieren, wobei Hoffmann nicht umhin kommt zu bemerken, dass „in Milwaukee die Uhren anders ticken“.
Ein kleines, aber feines Kapitel ist dem Roller gewidmet. Er kam mit der ersten Vespa 1946 auf, aber sein eigentlicher Boom begann 1996. Das hängt in Deutschland mit einer neuen Führerscheinbestimmung zusammen, die Autofahrern das Rollerfahren erlaubte. Eine ähnlich liberale Regelung gibt es auch in der Schweiz. Für kurze Distanzen ist der Roller unschlagbar praktisch und steigert damit die Mobilität. Piaggio hat mit der Vespa eine Stilikone geschaffen, und Honda startete 1986 mit dem CN 250 Helix einen ersten Versuch, den Roller zu einem motorradähnlichen Komfortfahrzeug zu machen. Honda war aber, wie Hoffmann schreibt, seiner Zeit um zwanzig Jahre voraus. Erst jetzt setzt sich der grossvolumige Roller auf breiter Front durch.
Beim Anblick neuer Motorradmodelle drängt sich der Eindruck zunehmender Uniformierung auf. Im Schlusskapitel, „Schöne neue Motorradwelt“ wird aber deutlich, dass dieser Eindruck nur halb richtig ist. Natürlich werden weltweit Formen angeglichen, um nicht zu sagen: kopiert. Aber gleichzeitig findet ein starker Differenzierungsprozess hinsichtlich der Zwecke und Anforderungen, für die ganz unterschiedliche Modelle konzipiert werden, statt. Und immer wieder versuchen die Hersteller, im Rückgriff auf „klassische“ Formen oder in kühnen Designs am Markt Vorteile zu erringen.
Das Buch von Ulrich Hoffman ist so spannend wie das Motorradfahren selbst.
(1) Ulrich Hoffmann, Das Motorrad - Geschichte. Technik. Design -, GeramMond Verlag, München 2012
(2) Ulrich Hoffmann, Das grosse Lexikon der Motorradtechnik, HEEL Verlag, Königswinter 2009