Und zu Odysseus sprach die funkeläugige Göttin:
„Zeus’ Spross, Sohn des Laertes, erfindungsreicher Odysseus,
halte nun ein und beende den Streit des gleichmachenden Krieges,
dass der Kronide, der weithin donnernde Zeus, dir nicht zürne!“
So sprach Athene, und er gehorchte ihr freudigen Herzens.
Einen Bund für die Zukunft liess nun beide beschwören
Pallas Athene, die Tochter des Zeus, des Trägers der Ägis,
Mentor in allem gleichend, sowohl an Gestalt wie an Stimme.
Odyssee, 24. Gesang, Schluss (1)
Frühmorgens unterwegs Richtung Pfannenstiel beobachten wir vor Kaltenstein auf einer Wiese eine Füchsin mit ihren drei Jungen beim Mäusejagen. Die nahe Schnellstrasse scheint den Familienausflug nicht zu stören. Oberhalb der Forch lassen wir das Auto stehen und wandern durch eine von hohen Baumstämmen gebildete und von Vogelmusik durchflutete Kathedrale zum „Chüelen Morgen“ und weiter in die Senke zwischen Vorder und Hinter Guldenen. Dort wurden vor einigen Jahren das einstige Flachmoor revitalisiert und offene Wasserflächen angelegt.
Doch auch für Morgenidyllen gelten die ehernen Gesetze der Natur. Auf einem Pfahl in der Wiese sitzt ein Bussard. Plötzlich schwingt er sich mit einem eleganten Sprung in die Luft, fliegt einige zehn Meter, verschwindet dann, fast im freien Fall, zwischen den Halmen des hoch stehenden Grases, taucht nach wenigen Sekunden mit einer Maus in den Fängen wieder auf und fliegt zurück zu seinem Beobachtungort. Ein energischer Ruck geht durch seinen Körper, als er die Maus verschluckt. Kurz danach fliegt er mit trägem Flügelschlag dem nahen Walde zu.
In den grössten Teich ist eine kleine Beobachtungsplattform hinausgebaut worden. Die Wasserfläche ist von Wasserpflanzen fast zugewachsen. Enten haben sich ein paar „Strassen“ offen gehalten. Der Erpel in der Mitte des Teiches, den glänzend grün-blauen Kopf halb im Gefieder versteckt, scheint auf der Wasserfläche festgefroren zu sein. Der dichte Pflanzenbewuchs unterdrückt jede Strömung. Nur am Rande des Wassers bewegt sich etwas. Es sind Kaulquappen, welche zwischen den Stengeln der Pflanzen scheinbar ziellos herumschwimmen.
Kaulquappen: Ich sehe das Konfitürenglas vor mir, das ich meiner Mutter im Keller entwendet hatte, um im Rumensee Rossnägel zu fangen. Kindliche Experimente können brutal sein. Nur wenige schafften es bis zur Ausbildung erster Beinansätze, bevor sie eingingen. Bis zur mit Spannung erwarteten Verwandlung in einen Frosch haben sie es nie geschafft.
Das unergründliche Geheimnis der Metamorphose, die verwirrende Unterscheidung zwischen äusserer Form und Identität, hat mich fasziniert und beschäftigt, seit ich mich erinnern kann. Was ist die Identität der Kaulquappe, was diejenige des Frosches? Erkennen sich „befreundete“ Kaulquappen wieder, wenn sie zu Fröschen geworden sind? Und wenn ja, wie? Und wie ist es beim Menschen: Wie erkennt der Neunzigjährige, der im Rollstuhl sitzt und seine Suppe nicht mehr allein essen kann, seinen einstigen Spielkameraden aus dem Kindergarten?
Und plötzlich bin ich in meinen Gedanken überall zugleich, bei der Metamorphose der Kaulquappe, bei Odysseus, der uns während der letzten Wochen vieles über Verwandlung, Wiedererkennung und Identität gelehrt hat, und in unserer ganz besonderen Zeit des Wandels und der Suche nach dem Anschluss an die Normalität von einst, einer Zeit der Wiedererkennung von verloren Geglaubtem.
Als Wiedererkenner und Wiedererkannten erleben wir auch Odysseus am Ende seiner langen Heimfahrt. Abgesehen vom zweiundzwanzigsten Gesang, der vom blutigen Gemetzel erzählt, welches Odysseus und sein Sohn Telemachos mit Hilfe der klugen Athene unter den Freiern anrichten und dabei gleich auch die Ungetreuen unter den Mägden in ihre gnadenlose Rache einbeziehen, abgesehen von dieser Schilderung einer archaischen Gerechtigkeit, die auf uns „Aufgeklärte“ befremdlich wirkt, geht es im letzten Teil der Odyssee um das zentrale Thema von Identität und Erkennung.
Wer ist dieser Odysseus eigentlich, der nach zwanzig Jahren Krieg und Irrfahrt endlich in seine Heimat zurückkehrt und dabei mit Pallas Athenes Hilfe ständig seine Gestalt verändert, den Menschen in Ithaka einmal als Schiffbrüchiger, dann als armer Bettler und kurz darauf als schöner Mann im Glanze seiner vollen Kräfte erscheint? Wie erkennt er nach so langer Zeit die Seinen, seinen Sohn Telemachos, den getreuen Sauhirten Eumaios, seine Gattin Penelopeia und schliesslich seinen Vater Laertes? Und wie erkennen diese ihn, den Heimgekehrten?
Der Altphilologe Daniel Mendelsohn hat in seinem Buch „Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“ (2), das mich vor Monaten zur Lektüre der Odyssee angeregt hatte, das Thema von Wiedererkennung und Identität in der Odyssee anhand seines Verhältnisses zum eigenen Vater so eindrücklich beschrieben, dass meine Frau und ich nach Beendigung der Odyssee sein Buch gleich noch einmal gelesen, ja richtiggehend verschlungen haben.
Zur Erinnerung: Mendelsohn berichtet über seinen Vater Jay, von dem sich der Sohn nie richtig akzeptiert gefühlt hatte. Überraschenderweise will der Vater am Seminar das Sohnes über die Odyssee am Bard College teilnehmen. Jay, der Ingenieur und Mathematiker, sechzig Jahre älter als die andern Studierenden, greift trotz anders lautender Versprechungen, schon bald in eigenwilliger Art in die Diskussion ein, was den Sohn anfänglich irritiert. Gegen Schluss des Seminars, als das Epos über die Wiederbegegnung von Odysseus mit seiner Familie und seinen getreuen Knechten berichtet, entwickelt sich eine interessante Parallele zwischen der Diskussion unter den Seminarteilnehmern und dem Verlauf des Epos, welches in der Wiedererkennungsszene zwischen Odysseus und seiner Gattin Penelopeia seinen berührenden Höhepunkt findet.
Genauso wie Odysseus sich den Seinen nicht zu erkennen gibt, ohne vorher sein Gegenüber geprüft zu haben, bleibt Penelopeia vorerst skeptisch, als ihr Telemachos versichert, der Bettler, mit dem sie spreche, sei in Wirklichkeit Odysseus. Zu ihrem Sohn sagt sie:
„ ... Doch ist’s wirklich Odysseus,
der nach Hause gelangt ist, so werden wir beide einander
uns ganz gewiss noch besser erkennen, denn uns verbinden
Zeichen, die nur wir, verborgen den anderen, wissen.“
Sprach’s; da lächelte er, der göttliche Odysseus,
und zu Telemachos sagte er gleich die gefiederten Worte:
„Lass doch die Mutter nur, Telemachos, mich in den Hallen
auf die Probe stellen; bald sieht sie alles viel klarer ...“
Odyssee, 23. Gesang
Die Kenner der Odyssee wissen, dass es um das nur den Ehegatten bekannte Geheimnis der Konstruktion des Ehebettes geht, welches die Identität von Gatte und Gattin beweist und die beiden schliesslich in die erlösende Umarmung führt.
Mendelsohn fragt seine Studenten, wie Menschen, welche lange getrennt waren, sich gegenseitig zu erkennen vermögen, falls auf die äussere Erscheinung kein Verlass sei – keine abwegige Vermutung, gibt doch Pallas Athene Odysseus immer wieder eine andere Gestalt. Damit meint der Dozent letztlich auch die Frage, was von unserer eigenen Identität in einem langen Leben, während dem sich der eigene Körper stetig verändert, schliesslich bleibt.
Betretenes Schweigen. Wie sollen Zwanzigjährige wissen können, was das Leben mit Körper und Geist anzustellen vermag, das uns in der Erscheinung gegen aussen zu einem andern Menschen zu machen vermag. Und dann, mitten in das lange Schweigen hinein, meldet sich der Vater. Ich zitiere ihn wörtlich aus Mendelsohns Buch:
„Fakt ist, ich bin der Einzige hier, der weiss, wie es ist, wenn man so lange mit jemandem zusammenlebt, dass derjenige gar keine Ähnlichkeit mehr hat mit dem Menschen, mit dem man das gemeinsame Leben angefangen hat. (...) Es ist merkwürdig, aber ich finde diesen Teil des Gedichts sehr realistisch. Es gibt Dinge, die man mit jemandem teilt, keine körperlichen Dinge, sondern private Scherze und Erinnerungen, kleine Dinge, von denen andere nichts wissen.“ – Er bemerkt die fragenden Blicke der Studierenden und sagt dann, in bemüht heiterem Ton, aber etwas verlegen: „Na ja, manchmal ist es schon etwas Körperliches.“
Es muss ein besonderer Moment gewesen sein für Vater und Sohn, was an jenem Tag in einem Seminarraum im Bard College geschah, ausgelöst durch eine dreitausend Jahre alte Geschichte über Wiedererkennung und Einklang (Homophrosyne) zweier Menschen.
Mendelsohn beschreibt den Fortgang dieser Szene so:
Die Studenten schwiegen weiterhin. Was sollten sie auch sagen. Die Ehe meiner Eltern hatte dreimal so lange gedauert wie ihr Leben. Ihre ernsten Gesichter verrieten mir, dass sie beeindruckt waren. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass sie zu ihm aufsahen.
Und dann wurde mir klar, was es mit den magischen Verwandlungen in der Odyssee auf sich hatte. Es geht überhaupt nicht um Magie. Etwas geschieht, jemand spricht, erregt oder mit Autorität – mit „gefiederten Worten“ – und plötzlich sieht man alles anders. Der Betreffende sieht tatsächlich anders aus. In dem Moment, als mein Vater sich wieder zurücklehnte, nachdem er gesagt hatte, dass die Odyssee etwas richtig verstanden habe, dass Paare Geheimnisse haben, die letztlich das Fundament einer Ehe seien, (...) in diesem Moment wurde mir klar, dass er irgendwie grösser und eindrucksvoller aussah, so wie Odysseus grösser und schöner aussieht, wenn Athene will, dass er Erfolg hat. (...)
Soviel über das Geheimnis der Identität, der Wiedererkennung und der gemeinsamen Erinnerung. Die beiden, Odysseus und Penelopeia, haben sich wiedererkannt, Odysseus ist endgültig angekommen. Und jetzt folgt das Teilen des Erlebten, wozu die funkeläugige Athene der rosenfingrigen Eos gebietet, mit ihrem Erscheinen zu warten und so für die beiden die Nacht zu verlängern.
Als nun die beiden in Fülle gekostet die Wonnen der Liebe,
schwelgten sie in den Geschichten, die sie einander erzählten.
Nachtrag: Auf Guldenen hat der Erpel unterdessen seine Spuren hinterlassen. Heute schwamm eine Entenmutter mit ihren elf kleinen Entchen munter über den Teich. Auch das eine Metamorphose.
(1) Zitate aus der Neuausgabe der Odyssee von Homer, übersetzt von Kurt Steinmann mit Illustrationen von Anton Christian, Manesse Verlag Zürich, 2007.
(2) Daniel Mendelsohn: „Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. München: Siedler Verlag, 2019.