Der See lieg spiegelglatt. Helles Grau, dahinter die dunkle Albiskette, die Bäume auf der Krete rot beschienen von der aufgehenden Sonne. Es ist die Stunde der Covid-Risikogruppe, die Zeit, bevor sich Wege und Feuerstellen mit Familien bevölkern, welche mit ihren Kindern für ein paar Stunden dem Home-Office entrinnen.
Wir haben das Auto auf der Küsnachter Allmend stehen gelassen. Wenn es vom Turm der Dorfkirche acht Uhr schlägt, wollen wir zurück sein. Von der Wiese oberhalb des Schiessstandes schaut ein Reh zu uns herüber, noch unsicher, ob es angebracht sei, den reich gedeckten Frühstückstisch der beiden Alten wegen zu verlassen. Behutsam gehen wir dem Waldrand entlang. Plötzlich fällt in geheimnisvollen Hirnwindungen eine Entscheidung: In eleganten, fast gemächlichen Sprüngen strebt das Reh dem Wald zu. In einer Geländemulde taucht ein Bock auf und folgt seiner Gefährtin, etwas ungehalten und widerwillig, wie es scheint.
Im Wald ist das Morgenkonzert im Gange: Die schwatzhaften Distelfinken geben den Ton an. Dazwischen versucht eine Amsel ihre Melodie. Sie lässt sich nicht irritieren vom melancholisch-eintönigen Ruf der Wildtauben oder vom wütenden Gekrächze einer Elster.
Der lange ersehnte Regen hat die Schnecken auf den Waldweg gelockt. Ich frage mich, wo sie die lange Trockenzeit im April verbracht haben. Eine grosse Weinbergschnecke hat sich um ein Stück Kot (Hund oder Fuchs?) geschlungen. Etwas weiter überquert eine dunkelbraune, auffällig lange Nacktschnecke den Weg. Fast wie eine Schlange sieht sie aus. Wenn das nur gut geht mit all den Vögeln.
Am linken Wegrand entdecke ich ein kleines Häufchen frischen Sägemehls, etwas weiter noch eines, und hinter einer Weggabelung einen kleinen Sägemehlkreis. Eine Schnitzeljagd? – Tatsächlich, da gibt es eine geheime Sprache zu entziffern. Die kleinen Häufchen scheinen den geraden Weg zu markieren, die Kreise Abzweigungen.
Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren für meinen Sohn und seine Freunde eine komplizierte Gangsterjagd durch das Küsnachter Tobel organisiert hatte, mit Spezialzeichen, Telefonanrufen und geheimen Auskünften in einigen lokalen Geschäften, deren Personal sich mit Freude an diesem Abenteuer beteiligt hatte.
Doch heute früh geht alles ganz gesittet vonstatten. Unser Ziel ist die Verlobungseiche oberhalb des Gasthofes Blüemlisalp. Für manche ist der Ort ein Kraftzentrum, für andere einfach ein grossartiger Aussichtspunkt, von wo bei gutem Wetter der Blick über den Zürichsee zu Pilatus, Rigi und bis in die Berner Alpen geht. Für mich ist es die Verlobungseiche, weil sich hier, wie ich als Kind viele Male gehört habe, meine Eltern vor mehr als achtzig Jahren die Ehe versprochen hatten, ein Jahr vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.
Unter der Eiche sind ein paar halbierte Baumstämme um eine Feuerstelle gruppiert, einfache Sitzgelegenheiten, auf denen wir in den letzten Jahren oft gesessen und über das Leben nachgedacht haben. Von der nahe Wiese steigt das schon fast patriotische Gebimmel weidender Kühe zu uns herüber. – Wie geht es weiter mit der Welt, wie mit unserem Leben?
Vielleicht hat ja für uns auch jemand eine Schnitzeljagd ausgelegt, nur dass wir sie nicht zu lesen vermögen. Da hatten es die alten Griechen einfacher. Ihnen erschien, in welcher Gestalt auch immer, zur richtigen Zeit ein Gott.
Unsere Gedanken zieht es in die Ferne, über den See zum Tödi und weiter südwärts, wo für einen kurzen Augenblick der Lago Maggiore in der Morgensonne aufblitzt, fliegen sie dem Stiefel Italiens entlang zu den ionischen Inseln und weiter über das griechische Festland zur Ägäis, zu einer Insel namens Ithaka, wo dreiste Freier Telemachos, dem Sohn des Odysseus, auflauern, schon seit Homers viertem Gesang:
Aber die Freier schifften sich ein und befuhren die feuchten
Pfade, sinnend im Herzen, Telemachos jäh zu ermorden.
Noch immer wissen wir, zehn Gesänge später, nicht, ob Telemachos in die Fänge seiner Verfolger geraten ist, ausgerechnet jetzt, da Odysseus dank des energischen Eingreifens der Pallas Athene endlich Kalypso verlassen hat und heimwärts segelt. – Und da sitzt sie plötzlich neben uns unter der Verlobungseiche, die Funkeläugige:
„Seid nicht bange“, sagt sie, „ich hab’s klug gerichtet, Vater und Sohn werden sich nach vielen Jahren bald beim Sauhirten Eumaios treffen.“ Und fügt dann, Schalk in den Augen, hinzu: „Wie ihr Schweizer, die ihr doch Meister seid in Pünktlichkeit und guter zeitlicher Planung, hab’ ich es eingerichtet. Freilich war es gar nicht so einfach, Vater und Sohn, rechtzeitig nach Ithaka zu lotsen, denn die beide neigen dazu, die Gastfreundschaft anderer Völker ausgiebig zu geniessen, vor allem wenn diese mit reichlicher Speise und leicht dahinfliessendem Wein verbunden ist. Daher musste ich nach Lakedaimon eilen, wo Telemachos in Sparta am Hofe von Menelaos und seiner Gattin Helena zu Gast ist. Wer weiss, vielleicht hat es ihm Helena, die Erhabenste unter den Frauen, angetan, deren Schönheit nach ihrem Verrat an Menelaos, als sie mit Paris nach Troja durchbrannte und so einen zehnjährigen Krieg auslöste, nicht gelitten zu haben scheint – genau so wenig wie die Liebe ihres Gatten, der ihr alles verziehen hat. Grosszügig, dieser König von Sparta!“
Nah zu ihm tretend sprach die funkeläugige Pallas:
„Ungut ist’s, weiter, Telemachos, fern von zu Hause zu schweifen,
da du die Güter zurückliessest und die so frechen Gesellen
in deinen Häusern; dass sie dir dort nicht alles verzehren,
wenn sie die Güter verteilt und du dann vergeblich gereist wärest!“
(15. Gesang)
„Gleich wird er,“ fährt die Göttin fort, „bei Eumaios eintreffen, wohin ich schon seinen Vater Odysseus geschickt habe. Ihn habe ich zur Tarnung in einen alten Bettler verwandelt, damit niemand erfährt, dass er heimgekehrt ist, bevor er sich an den dreisten Freiern blutig gerächt hat. Nur sein Sohn soll ihn erkennen. Und für diese ergreifende Szene der Wiederbegegnung von Vater und Sohn nach zwanzig Jahren habe ich Odysseus in einen jungen, schönen und kräftigen Mann verwandelt. Hört selber, was Meister Homer im sechzehnten Gesang Telemachos zu seinem Vater sagen lässt:“
„Anders erscheinst du mir, Fremder, auf einmal als eben noch vorher,
andere Kleider trägst du, deine Haut ist nicht mehr die gleiche.
Wahrlich, ein Gott bist du, wie im weiten Himmel sie wohnen!
Doch sei uns gnädig, damit wir gefällige Opfer dir bringen
und aus Gold gefertigte Gaben; gewähre uns Schonung!“
Ihm antwortete drauf der göttliche Dulder Odysseus:
„Nein, ich bin dir kein Gott! Was vergleichst du mich mit den Göttern?
Sondern ich bin dein Vater, um dessentwillen du seufzend
viele Qualen erleidest und hinnimmst der Männer Gewalttat.“
Also sprach er und küsste den Sohn und liess von den Wangen
Tränen zu Boden fallen, die vorher er ständig verhalten.
Und weil Telemachos an der Identität seines Vater zweifelt – ein uraltes Thema –, fügt Odysseus an:
„Nicht ist es recht, Telemachos, dass du dich über die Massen
wunderst und zweifelst, dass jetzt dein eigener Vater daheim ist;
denn es wird dir hierher kein andrer Odysseus mehr kommen.“
Bin ich eingenickt und habe geträumt? Eben war sie doch noch da, die funkeläugige Pallas, und zitierte Homer: „... denn es wird dir hierher kein andrer Odysseus mehr kommen.“ Sagte es und verschwand. Unter uns glitzert im Morgenlicht der Zürichsee, nicht die Ägäis.
Als wir später auf einem andern Weg zurückgehen, entdecke ich, dass der Schnitzeljäger – oder war es Pallas Athene? – für schlechte Spurenleser mit viel Humor und Fantasie eine falsche Fährte ausgelegt hat, welche die Unaufmerksamen in die Irre führen soll. Nach gut einem halben Kilometer prangt schliesslich mitten auf dem Weg ein grosses Sägemehl-T, macht dem Irrgeleiteten eine lange Nase und schickt ihn zurück zur verpassten Wegverzweigung! – Erinnert das nicht auch ein bisschen an das, was uns ein kleines Virus in diesen Tagen lehrt?
Zitate aus der Neuausgabe der Odyssee von Homer, übersetzt von Kurt Steinmann, mit Illustrationen von Anton Christian, Zürich: Manesse Verlag, 2007.