Als die Preisträger bei der Verleihung in Bern am 12. April im Stadttheater im Rahmen eines feierlichen Abends der Reinhardt von Graffenried Stiftung antraten, wurde der Präsident der Jury, Ignaz Staub, gefragt, was denn den Unterschied der professionellen Pressebilder zu den Fotos der Gelegenheitsfotografen ausmache.
In seiner kurzen improvisierten Antwort verwies Staub auf die Professionalität: Berufsfotografen handelten im Auftrag. Entsprechend routiniert und versiert seien sie. Aber, so müsste man ergänzen, es gibt keine klare Schranke zwischen dem Profi und dem Laien wie in anderen Berufen. Wie lassen sich mittels der Bilder selbst die Trennlinien ziehen?
Wer durch die Ausstellung im Landesmuseum Zürich, die am vergangenen Freitag eröffnet wurde und bis zum 30. Juni 2013 gezeigt wird, geht, sieht zunächst einmal eine insgesamt beeindruckende Darstellung unseres Alltags und herausragender Ereignisse des Jahres 2012. Diese Bilder sind Teil unserer Alltagskultur. Um das zu unterstreichen, hängen die Fotos nicht nur wie Kunstwerke an den Wänden, sondern werden auch auf Leuchtkästen präsentiert – als wäre man in einer Bildredaktion.
Das erzählende Medium
Die meisten Bilder wirken technisch makellos. Das wiederum ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit, weil professionelle Kameras Probleme, mit denen Fotografen in der Vergangenheit zu kämpfen hatten, gar nicht mehr aufkommen lassen. Dadurch entsteht allerdings ein merkwürdiger Widerspruch: Professionalität wird durch den Einsatz professioneller Kameras erreicht. Diese Kameras aber erleichtern das Fotografieren ganz enorm, indem sie dem Fotografen viele technische Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Könnte damit nicht auch ein Laie gute Ergebnisse erzielen?
Natürlich. Entsprechend kann technische Perfektion allein kein hinreichendes Kriterium für die Professionalität eines Bildes sein. Welche anderen Kriterien aber erlauben es zum Beispiel einer Jury wie der vom „Swiss Press Photo Award“, Wertungen für die Vergabe von Auszeichnungen vorzunehmen?
Fotografie ist ein erzählendes Medium. Deswegen sind Fotografen gut beraten, wenn sie sich eines Themas annehmen, das entweder neu ist oder Interesse und sogar Anteilnahme auslöst. So hat die Jury eine Fotoserie über jugendliche Drogensüchtige ausgezeichnet und eine über die Asylanten. Eine andere beeindruckende Serie handelt von einem Gefängnis – mit Schwarzweissfotos. Damit kommt schon das zweite Kriterium in den Blick: Das Thema muss fotografisch überzeugend dargestellt werden. Was aber heisst das?
Die Diskussion darüber währt fast so lange wie die Fotografie selbst. Henry Cartier-Bresson prägte das Wort vom „entscheidenden Augenblick“. Er meinte damit den Moment, in dem das Ganze einer Geschichte, einer Konstellation oder Situation verdichtet zum Ausdruck bringt. Das setzt voraus, dass der Fotograf sehr genau versteht, was er da gerade fotografiert. Sonst wird er den entscheidenden Augenblick nicht erkennen.
Der Ausdruck von Henry Cartier-Bresson birgt die Gefahr der Banalisierung. Er kann so missverstanden werden, dass es sich dabei um etwas Spektakuläres oder irgendwie Sensationelles handelt - oder um ein Sujet für Paparazzi. Es geht aber um etwas viel Subtileres, das sich auch mit Serienbildschaltung nicht einfangen lässt.
Das Titelbild des vorzüglichen Kataloges zum „Swiss Press Photo 13“ stammt von Michael Buholzer und zeigt Roger Federer, wie er sich während eines Trainings von einer Wespe attackiert fühlt. Dieses Bild hat den ersten Preis im Bereich Sport bekommen. Handelt es sich hierbei um den „entscheidenden Augenblick“? Zweifellos hat der Fotograf eine skurrile Situation festgehalten. Aber je länger man das Bild betrachtet, desto mehr fragt man sich, ob es mehr ist als ein zweifellos gelungener Gag.
Ob ein Fotograf sein Thema wirklich erfasst, zeigt auch die Wahl der Perspektive. So hat der Fotograf Chris Iseli die letzte Fahrt des Zuges „Talgo“, der zwischen Zürich und Barcelona verkehrte und der Konkurrenz durch die Billigflieger zum Opfer fiel, durch Bilder dokumentiert, deren Perspektiven die ganze Melancholie zum Ausdruck bringen: Ein Bediensteter allein im langen Gang, während draussen die Landschaft vorbeizieht; die Füsse eines anderen Bediensteten an einer Türschwelle des Zuges am leeren Bahnsteig.
Die Komposition des Bildes
Ein weiteres Kriterium für ein gutes Pressefoto springt beim Rundgang durch die Ausstellung gleich ins Auge: die Komposition, die Verteilung von Formen und Farben. Aber auch diese Kriterium trifft nicht auf alle ausgestellten Bilder zu, denn da sind andere Merkmale wichtig. Aber manche Bilder wurden ganz sicher aufgrund ihrer Komposition ausgewählt, zum Beispiel der Kampf um Ölfelder zwischen dem Südsudan und der Republik Sudan von Dominic Nahr, vgl. Abb. oben.
Bei dem Versuch, dem Wesen der guten Pressebilder auf die Spur zu kommen, wird man den Katalog wieder und wieder durchblättern – und Antworten bei den Porträts finden. Ein gutes Porträt enthält „den entscheidenden Augenblick“ in dem Sinne, dass es etwas Unverwechselbares vom Porträtierten zum Ausdruck bringt. Dazu muss der Fotograf die Perspektive, den Abstand, das Licht wählen und er kann durch Arrangements eine zusätzliche Deutung der Persönlichkeit zum Ausdruck bringen. Und das alles kann nur gelingen, wenn wenigstens für die Zeit der Aufnahmen eine persönliche Beziehung hergestellt worden ist.
Mit einzelnen Porträts stösst die Pressefotografie an die Bereiche des künstlerischen Ausdrucks. Pressefotografie aber, da waren sich die Vertreter der Jury, der Stiftung und auch die Kuratorin des Landesmuseums, Ricabeth Steiger, einig, ist von der Fotografie als Kunst zu unterscheiden. Auch das aber ist eine alte Diskussion. So wird man unter den Gründern und Mitarbeitern der Fotoagentur Magnum einige Fotografen finden, deren Bilder der Kunst zugerechnet werden.
Wie vielschichtig dass Verhältnis auch heute ist, zeigte sich bei der Preisverleihung und bei der Eröffnung der Ausstellung im Landesmuseum, an der auch Michael von Graffenried teilnahm. Er bezeichnet sich selbst als Fotokünstler und hat mit seinen Arbeiten weltweite Beachtung gefunden und die höchsten Auszeichnungen erhalten, die die Welt der Fotografie zu vergeben hat. Viele seiner Bilder aber greifen aktuelle politische Themen auf, und können nur mit den aktuellen Bezügen wirklich verstanden werden.
Die Fotografie ist nicht nur vielschichtig, sondern sie kann auch zu unbeantwortbaren Fragen führen. Das zeigen die Bilder von Laurent Gilliéron, „Swiss Press Fotograf des Jahres 2012“. Er wurde am 13. März 2012 zum Unfall eines Busses in einem Tunnel nahe Siders im Wallis gerufen. 22 Kinder kamen bei diesem Unglück ums Leben. Gilliéron hat seine Bilder mit ästhetischem Empfinden und Respekt aufgenommen. Doch auch er entgeht nicht der Problematik der Ästhetisierung des Schreckens. Das ist unausweichlich und es bleibt eine Frage – auch die Frage an uns als Betrachter: Sind wir mehr als blosse Zuschauer?
So lässt sich die Ausstellung im Landesmuseum als Beitrag zur Alltagskultur sehen, sie steht im Zeichen der beachtlichen Fotosammlungen des Museums und sie ist ein unverzichtbarer Stein des Anstosses für unsere Auseinandersetzung mit den Bildern, die uns die Fotopresse Tag für Tag präsentiert.