Gilliéron gewann den Preis für ein Foto, das er aufnahm, nachdem ein belgischer Bus im Wallis in einem Autobahntunnel verunglückt war. Albertine Bourget hat für den Katalog „Swiss Press Photo 13“ ein Interview mit dem Preisträger geführt, das wir hier publizieren.
© 2013 Albertine Bourget / Swiss Press Photo / Fondation Reinhardt von Graffenried
«Das Menschliche sichtbar machen»
Albertine Bourget: Du gewinnst den Swiss Press Photo Award zum zweiten Mal. Wie fühlt sich das an?
Laurent Gilliéron: Schon vor sieben Jahren hat mir das riesige Freude bereitet. Den Preis zum zweiten Mal zu gewinnen überwältigt mich! Das ist wirklich eine grosse Ehre.
Wie hast du deine Chancen auf einen Gewinn eingeschätzt?
Ich wusste, dass der Unfall eines der wichtigen Ereignisse des Jahres 2012 darstellte und dass das Bild des Jahres immer auch an die Aktualität gebunden ist. Mir aber bewusst, dass auch andere gute Fotografen dabei sind. Manchmal bin ich überrascht vom Entscheid der Jury. Das ich 2005 mit dem Bild von der Strompanne im SBB-Netz gewinnen würde, hätte ich wirklich nicht erwartet.
Die diesjährigen Bilder unterscheiden sich stark von der ruhigen Aufnahme von 2005.
Dieser Aspekt erfreut mich auch. Diesmal handelt es sich um eine einfache, jedoch entsprechend direkte Reportage über ein grosses, aber auch chaotisches Ereignis.
Wo warst du am Abend des Unfalls?
Zu Hause in der Nähe von Lausanne. Abends um 22 Uhr erhielt ich eine SMS von der Walliser Kantonspolizei, dass im Tunnel bei Sitten ein Bus verunfallt sei. Ich konnte meiner Frau gerade noch mitteilen, dass ich nicht vor 2 oder 3 Uhr in der Früh nach Hause kommen würde. Ich wusste nicht, dass ich erst drei Tage später heimkehren würde…
Du wusstest nicht, dass es sich bei den Opfern um Kinder handelte?
Nein. Ich verliess die Autobahn bei Sitten und entdeckte fünf oder sechs Helikopter in der Luft. So viele auf einmal hatte ich noch nie gesehen. Als Agenturfotograf muss ich der Redaktion sofort ein schnelles, erstes Bild schicken. Also fotografierte ich die Helikopter und übermittelte diese Aufnahme.
Warst du der einzige Fotograf vor Ort?
Andrée-Noëlle Pot vom «Nouvelliste», Denis Balibouse von Reuters und Sébastien Feval von der AFP fanden sich auch dort ein. Sie sind gute Freunde von mir. Zusammen warteten wir in der Kälte. Nichts war zu sehen, denn die Toten und Verletzten wurden über einen Notausgang evakuiert.
Habt ihr nicht versucht, in den Tunnel zu gelangen?
Das wäre mir nicht im Traum eingefallen. Nein, nein, das ist nicht unsere Art. Wir warteten und warteten, bis uns so kalt war, dass wir uns bei Andrée-Noëlle Pot zu Hause wieder aufwärmen mussten. Dann wurden wir benachrichtigt, dass es um 6 Uhr morgens eine Pressekonferenz geben würde. Christian Varone, der Kommandant der Walliser Kantonspolizei, erzählte, was im Tunnel geschah. Anschliessend verkündete er die Zahl der Toten: 28, davon 22 Kinder. Da musste ich meine Kamera ablegen.
Ich benachrichtigte meine Redaktion in Zürich und bot zusätzlich Olivier Maire, unseren Freelancer aus Sion, und Salvatore Di Nolfi aus Genf auf. Wir bestanden darauf, in den Tunnel gelassen zu werden. Der Anblick wirkte eher normal, abgesehen davon, dass sich alle Sitze im Bus vorne auftürmten.
Hast du keine Leichen gesehen?
Nein, zum Glück nicht. Ich habe auch schon Fotos von Flugzeugunglücken gemacht, doch bei Keystone fotografieren wir keine Leichen. Diesmal habe ich nichts Schreckliches gesehen, doch viel schlimmer wog die Tatsache, dass es sich bei den Opfern um Kinder handelte. Du stellst dir den Unfall vor und denkst an deine eigenen Kinder. Es ist keine sichtbare Grausamkeit, doch sie ist allgegenwärtig. Dann wurde der Bus abgeschleppt und der Tunnel freigegeben. Und wir arbeiteten weiter. Die Trauer der Familien, die Särge, die Blumen im Tunnel, das alles mussten wir zeigen.
Wie entscheidest du, welches Bild du übermittelst?
Du solltest deinem Urteil vertrauen, denn alles muss sehr schnell gehen. Dazu geht das Bild über Associated Press und EPA in die ganze Welt hinaus. Ich habe wenige Bilder von dem Unglück verschickt. Das Bild vom kleinen Mädchen wurde in der internationalen Presse breit publiziert.
Fühlt man sich nicht ein wenig wie ein Aasgeier?
Das Bild entstand, als die Angehörigen in den Bus steigen sollten, der sie zur Unfallstelle fuhr. Wir waren gut sichtbar auf der anderen Strassenseite. Die Familien hätten sich leicht hinter dem Car verstecken können. Ich versuchte, respektvoll vorzugehen. Dieses Bild mit dem Stofftier und der Blume war sehr stark. Ich hatte auch andere, die ich aber nicht zum Versand ausgewählt habe. Im Gegensatz dazu wusste ich, dass Reporter aus dem Ausland sich als Krankenpfleger verkleidet hatten, um ins Spital zu kommen. Das verstehe ich nicht.
Der Schweizer Presserat rügte die Zeitungen, die Bilder der getöteten Kinder publizierten. Was meinst du dazu?
Ich sehe nicht ein, was das zur Berichterstattung beiträgt. Da spricht vielleicht der Vater in mir. Wir wollen keinen Sensationsjournalismus machen, sondern dem Leser zu verstehen geben, was genau geschah. Die Menschlichkeit in der Tragödie sichtbar machen.
Abgesehen von diesem Drama, welche Ereignisse haben das Jahr sonst bestimmt?
(überlegt) Es gab viele schöne Bilder der grossen Kälte.
So wirkt die Schweiz ruhig und friedlich.
Das kann man so sehen, aber ich renne tagein, tagaus Bildern hinterher. Umso besser, wenn wir von den grossen Katastrophen verschont bleiben, oder nicht? Ich bin kein Kriegsberichterstatter, aber ein Reporter im Rahmen der Schweiz, das gefällt mir. Es muss nur etwas passieren.
Machst du dir Sorgen um die Zukunft der Pressefotografie?
Bilder werden immer gebraucht. Es ist an den Verlegern, den Übergang vom Papier zum Digitalen zu vollbringen und neue Absatzmärkte zu finden. Natürlich ist meine Agentur auch von Kürzungen betroffen.
Stört dich die Mode des Lesers als Reporter?
Im Grunde genommen ja. Gleichzeitig weiss ich, dass wir immer besser und mit einer professionellen Ethik arbeiten.
Einzelne Fotografen weigern sich, am Wettbewerb Swiss Press Photo teilzunehmen, weil sie mit der Wahl der Jury nicht einverstanden sind.
Was denkst du darüber?
Das Siegerbild ist gemäss der Jury das Beste unter den eingeschickten Fotos. Vielleicht gibt es bessere als meine, aber wie sagt man so schön: 100 Prozent der Sieger haben ihre Chance wahrgenommen. Andererseits bin auch ich nicht unbedingt mit der Auswahl einverstanden. Roger Federer und seine Wohltätigkeitsstiftung in Afrika (Siegerserie im Jahr 2010, Anm. d. Red.) haben nichts mit Sport zu tun. Unser Beruf verdient, dass man darüber spricht und der Swiss Press Photo Award ist eine wunderbare Bühne. Ich war vor Kurzem zusammen mit Mark Henley, dem letztjährigen Sieger, zu einer öffentlichen Diskussion vor Hunderten von Zuhörern eingeladen. Swiss Press Photo weckt viel Interesse.
Ein letztes Wort?
Gerne. Ich möchte daran erinnern, dass die Fotos vom Busunglück eine Teamarbeit sind. Ich weckte morgens um 6 Uhr die anderen, ich brauchte sie. Ohne Olivier Maire, ohne Salvatore Di Nolfi, ohne Maxime Schmid und ohne die Unterstützung meiner Redaktion in Zürich wäre ich nicht so weit gekommen.
© 2013 Albertine Bourget / Swiss Press Photo / Fondation Reinhardt von Graffenried
Das Siegerbild von Laurent Gilliéron sowie die weiteren prämierten Fotografien werden vom 19. April bis 30. Juni 2013 im Landesmuseum in Zürich ausgestellt.