Technische Entwicklungen zerstören alte Formen. Was nicht mehr zweckmässig ist, wandert ins Museum. Das Neue übt eine unwiderstehliche Faszination aus. Alte Formen wecken ein anderes Gefühl: Nostalgie. Man sehnt sich irgendwie zurück, aber mit einem Fuss bleibt man in der Gegenwart. Man kann auch vom Luxus der Sentimentalität sprechen. Zwischen der Faszination des Neuen und der Nostalgie gibt es etwas Drittes: das Klassische.
Was aber ist klassisch? Auch hier kann man mit einer einfachen Antwort weit kommen: Klassisch ist das, was überdauert. Das sind jene Gedichte, Kompositionen, Gemälde und Gebäude, vor denen man auch heute noch innerlich den Hut zieht. Da ist ein Nagel auf den Kopf getroffen worden. Deswegen ist das Klassische schlicht und nie schwülstig. Es gehorcht strengen Gesetzen, die wir heute oft gar nicht mehr kennen, aber von denen wir spüren, dass es sie gab und dass sie richtig waren.
Als die ersten Motorradmodelle entwickelt wurden, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, dass es sich hierbei um Freizeitgeräte handeln könne. Motorräder waren Transportmittel. Die ersten Modelle erzählen von der Idee, buchstäblich besser voran zu kommen, indem man einen Motor zwischen zwei Rädern platziert. Als die Davidson-Brüder zusammen mit ihrem Jugendfreund Harley 1903 in Milwaukee ein Motorrad entwarfen und in einer Bretterbude zusammensetzten, waren sie nicht allein. Einige hundert, wenn nicht tausend andere Tüftler waren in den USA und in Europa dabei, dem Traum des Fahrens ohne Muskelkraft auf zwei Rädern Gestalt zu geben.
Der grosse Vorteil der damaligen Zeit bestand darin, dass Technik noch nicht abstrakt war. Man konnte jedes einzelne Teil sehen. Man konnte sinnlich nachvollziehen, wie die verschiedenen Teile zusammenwirkten und dafür sorgten, dass sich das Fahrzeug in Bewegung setzte. Es waren geradezu zärtliche Gefühle, die die Mechaniker und die Fahrer für ihre Maschinen empfanden. Denn sie konnten spüren, riechen, hören, wenn etwas mit der Schmierung, dem Gemisch oder der Zündung nicht stimmte. Sie litten mit, wenn die Maschine zu heiss wurde, zu klopfen anfing oder das Ventilspiel zu stramm eingestellt war.
Es ist bezeichnend, dass grosse Teile der Epochen von Harley-Davidson (HD) ihre Namen von der Form der jeweiligen Zylinderköpfe haben: Flathead, Knucklehead, Panhead, Shovelhead. Auch andere technische Eigenheiten wurden zu Leitbegriffen von Modellreihen: Die verdeckte Anordnung der sonst sichtbaren Federung für das Hinterrad ergab die bis heute gepflegte Modellreihe „Softail“. Und als HD anderen Herstellern folgte und 1965 endlich den ersten elektrischen Anlasser einbaute, geschah dies natürlich in einem pompös danach genannten Modell: Electra Glide. Sie ist unter dieser Bezeichnung immer noch ein markanter Teil der Modellpalette. - Natürlich verfügen heute alle Maschinen von Harley-Davidson über elektrische Anlasser.
Aber das Aufkommen der Electra Glide zeigt eine charakteristische Schwierigkeit von Harley-Davidson. HD war Pionier, hat Hunderte anderer Produzenten überlebt und hat weltweit Massstäbe gesetzt. Aber immer wieder wurde Harley-Davidson von den Japanern, den Italienern, Engländern und Deutschen überholt. Es war so, als ob die ausländischen Konkurrenten mit grosser Leichtigkeit jene Schulaufgaben machten, von denen man in Milwaukee nicht einmal die Aufgabenstellung wahrgenommen hatte.
Statt dessen pflegte Harley-Davidson das selbst entwickelte Klassische. Nur ein Beispiel: Die auch heute noch sehr populäre Sportster wird seit 1957 in einer gleichen Grundform gebaut. Natürlich hat sich die technische Ausstattung ganz enorm verändert. Und bis auf eine Ausnahme folgen alle anderen Modelle von HD Vorbildern, die seit Jahrzehnten in immer neuen Varianten die eigene Geschichte fortschreiben.
Deswegen hat Harley-Davidson das Image des etwas Behäbigen, etwas Gravitätischen. Aber da gibt es noch die andere Seite, die aggressive. Die Hells Angels bevorzugen bis heute die Harley-Davidson. Und nahezu jeder erinnert sich an den Film Easy Rider von 1969. Waren da nicht Hippies unterwegs, die das mit Drogenhandel ergatterte Geld in den Tanks ihrer Maschinen versteckten? War das nicht alles sehr arrogant? Und wenn man heute Bilder von einem der zahllosen Treffen von Harley-Davidson-Fahrern mit ihren Tausenden von Teilnehmern sieht, sind das Gesellschaften, die nicht unbedingt auf Multi-Kulti machen.
Kürzlich zeigte sich die rechtskonservative Sarah Palin auf einer Harley-Davidson – als Sozia. HD ist eher ein republikanisches als ein demokratisches Fahrzeug, verkörpert es doch den rückwärtsgewandten „American Dream“. Brock Yates, Autor von „Outlaw Machine“, attestiert HD sogar „unververfrorenen Hurrapatriotismus“. Spricht „Easy Rider“ nicht dagegen? Überhaupt nicht. Man beachte die amerikanische Flagge, die auf den Benzintanks aufgemalt war.
Die Hells-Angels, die „Outlaws“, überhaupt die „Rocker“ waren zu einem guten Teil ehemalige Soldaten, die sich nicht recht in die Nachkriegsordnung fügen konnten. Nationalismus und Rebellion vertragen sich zumindest in Amerika ganz ausgezeichnet. Und während die Hippie-Generation aus gut nachvollziehbaren Gründen gegen den Vietnamkrieg rebellierte, hatte sich HD in zwei Weltkriegen bei den Militärs einen erstklassigen Ruf erworben. Im Ersten Weltkrieg lieferte HD 20 000 Motorräder, im Zweiten Weltkrieg 90 000.
Bleibt zu erwähnen, das HD in den USA auch von der Polizei genutzt wurde und wird – das jedenfalls hat sie mit den Hells Angels gemeinsam. Und für die heldenhaften Feuerwehrleute vom 11. September 2001 hat HD ein Sondermodell kreiert. Ist es diese Verwurzelung in den tiefsten amerikanischen Traditionen, die die enorme Faszination der Harley-Davidson-Modelle ausmacht?
Brock Yates macht darauf aufmerksam, wie paradox die Entwicklung verlaufen ist. Ab den 70er Jahren bis Ende der 80er war der Ruf der Marke durch die „Hells Angels“ und „Outlaws“ und eine immer schlechtere technische Qualität -„Manufaktur für schlechte mechanische Scherze“ - ruiniert. Harley-Davidson stand vor dem Aus. Ende der 80er Jahre aber wurde die Marke von jungen Aufsteigern entdeckt, und dank eines neuen Managements, die die Tradition und diesen Trend geschickt zu nutzen wusste, kam es zu dem Aufschwung der Marke.
Kein Europäer kauft eine Harley nur wegen des amerikanischen Traums. Aber er kauft klassisch gewordene Formen, die genauso wie Coca Cola oder die Filme aus Hollywood ihre Wurzeln in Amerika haben. Seit Juni 2007 ist HD in der Schweiz die Nr. 1. In Deutschland nimmt sie hinter BMW auch einen Spitzenplatz ein.
Es sind die Formen, die die Europäer überzeugen. Woher sie ihre Überzeugungskraft nehmen, lässt sich nicht bündig erklären. Im strengen Sinne gibt es keine „Philosophie“ von Harley-Davidson, auch wenn in den Prospekten dieses Wort immer mal wieder auftaucht. Damit ist dann etwas gemeint, das man vage als Lebensgefühl umschreiben kann. Und es gibt zahlreiche Bildbände, in denen die Formen immer wieder herausgearbeitet und herausgestellt werden. Das entbehrt nicht der Logik des Erfolgs: Das wirklich Gelungene bedarf keiner Erklärungen, sondern spricht für sich selbst. Nicht umsonst werden die Modelle von Harley von anderen Herstellern recht häufig „nachempfunden“.
Wie überzeugend ist die Technik von HD jetzt? Auch heute wird man problemlos Maschinen von anderen Herstellern finden, die bequemer, leichter zu handhaben und auch sicherer sind. Aber die Ingenieure in Milwaukee haben in den vergangenen Jahren den Anschluss an die modernen Standards gefunden. Und was Kenner so begeistert: In ihren technischen Konzepten bleiben sie den Grundideen der vergangenen hundert Jahre treu. Deswegen sind die Harleys auf ihre Weise materialisierte Meditationen über einmal entwickelte technische Lösungen. Die damit verbundene Stringenz teilt sich unterschwellig auch den Laien mit.
Was beim Fahren der verschiedenen Modelle verblüfft, ist das jeweils völlig unterschiedliche Fahrgefühl: Die Sportster ist seit jeher agil, fast schon nervös und reizt immer wieder dazu, ihre Schräglagenfreiheit bis zum Aufsetzen auszunutzen. Die neue Sportster XL1200X Forty-Eight vom kommenden Modelljahr 2012 fühlt sich im ersten Moment leichtgängig wie ein Fahrrad an. Dass sie genauso viel wiegt wie die anderen Sportster-Modelle, nämlich um die 260 Kilogramm, überspielt das neue Konzept mit dem kleinen Tank für Leute, die nur mal bis zur nächsten Eisdiele fahren wollen, das aber effektvoll.
Ganz anders wirken wiederum die Softtails und die Dynas. Diese Maschinen vermitteln beim Fahren ein unglaubliches Sicherheitsgefühl. Und dabei sind sie kaum weniger agil als eine Sportster. Aber wenn man auf ihnen fährt, gerät man eher ins Meditieren und hat nicht das Bedürfnis, immer wieder die beachtliche Durchzugskraft des Motors einzusetzen.
Die schweren Reisemaschinen sind ein eigenes Kapitel. Hier zählt die Gemächlichkeit. Wenn der Weg das Ziel ist, wie gern gesagt wird, darf er auch etwas länger dauern. Harley-Davidson ist nirgends so klassisch wie gerade hier. Der Motorradjournalist Walter Wille von der FAZ hat kürzlich dafür die Worte gefunden: „Eine Road King wäre ein feines Erbstück. Glatt könnte man auf die Idee kommen, sich eine zu besorgen. Sie irgendwann - „Pass gut drauf auf!“ - dem Sohn weiterzugeben, der sie seinem Sohn überträgt. Und so weiter.“ (FAZ vom 2. August 2011)
Mit der V-Rod hat Willi Davidson, Enkel des Firmengründers und „das Design-Genie der Familie“ (Brock Yates), im Jahre 2002 einmal gezeigt, dass seine Ingenieure auch ganz neue Wege gehen können. Eine neue Form und ein wassergekühlter Motor, an dem auch Entwicklungsingenieure von Porsche mitgewirkt haben, üben eine Faszination aus, die wieder einmal klar macht, wie emotionsgeladen das Motorradfahren eigentlich ist. Diese Maschine ist ein „Cruiser“, also weder sportlich noch auf längere Reisen abgestimmt. Der Radstand ist lang; entsprechend gewöhnungsbedürftig ist das Fahren enger Bögen. Aber .... Der Motor erzeugt ein sonores Grundgeräusch, leiser als bei den meisten anderen Harleys. Dreht man etwas energischer den Gasgriff, ertönt ein dunkles Knurren, und das Motorrad verwandelt sich schlagartig in ein Katapult. Fatal ist, dass sich diese Maschine im Kopf regelrecht festkrallt.
Was ist Faszination? Dem Rätsel auf der Spur zu sein, heisst noch nicht, es zu lösen. Aber es gibt Hinweise. So fällt auf, dass Harley-Davidson eine Marke ist, die zunehmend von Frauen entdeckt wird. Die Marketingleute sind natürlich clever genug, diesen Trend nach Kräften zu verstärken. So gibt es inzwischen regelmässig „Ladies Days“, also „Events“ speziell für Frauen. Erste Fahrten sollen sie zu künftigen Kundinnen machen. Das Ganze wäre von vornherein aussichtslos, wenn es nicht einen Funken gäbe, der vorher schon übergesprungen ist.
Also lässt ich sagen: Es gibt eine Faszination von HD, die auch auf Frauen wirkt. Da Frauen mehrheitlich weniger an technischen Details interessiert sind, muss es an dem Charme der Modelle liegen, die immer noch etwas verkörpern, das mit Träumen zu tun hat. Auch Männerträumen: Motorradfahrerinnen wirken sehr elegant. Auf allen Motorrädern.
Quellen:
The Harley Davidson Motor Co. Archiv Kollektion. Fotos von Randy Leffingwell, Texte von Darwin Holstrom, Vorwort von Bill Davidson, Delius-Klasing-Verlag, 2009
Das Harley-Davidson Jahrhundert, hg. von Darwin Hostrom, Delius-Klasing-Verlag, 2003
Hugo Wilson, Harley-Davidson. Modellgeschichte eines Klassikers, coventgarden, deutsche Ausgabe: Dorling Kindersley Verlag GmbH, 2006