Bundestagswahlkämpfe ähnelten in Deutschland jahrzehntelang kriegerischen Schlachten, bei denen es um alles oder nichts ging. Slogans wie „Keine Experimente!“, „Freiheit oder Sozialismus“ markierten den politischen Gegner als grösste Gefahr für das Land.
Und als es 1969 zum Machtwechsel kam, die CDU/CSU erstmals auf den Oppositionsbänken Platz nehmen musste, während der neue Bundeskanzler Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“ wollte, fiel ausländischen Beobachtern auf, dass die Gesichter mancher Politiker im Bundestag sich vor Hass verzerrten, wenn der Gegner das Wort ergriff.
Namen und Emotionen
Es gab Kanzlerkandidaten, deren Namen allein schon die Emotionen hochkochen liessen. Franz Josef Strauss war 1980 dafür das extremste Beispiel. Auf der anderen Seite brachten 1983 die GRÜNEN das bürgerliche Blut in Wallung, weil sie erstmals die Umwelt zum politischen Thema machten und überhaupt einen ganz neuen Politikstil durchsetzen wollten.
Vor ein paar Tagen ist ihr Spitzenkandidat Jürgen Trittin im Rahmen einer Wahlkampagne mit einem Kanu auf der Werra gekentert. Das Bild vom schwimmenden Trittin, gut geschützt durch eine orangefarbene Schwimmweste, tapfer sein Kanu neben sich bugsierend, sagt mehr als tausend Worte.
Peer im Pech
Und Peer Steinbrück, der Spitzenkandidat der SPD? Auf den Wahlplakaten der SPD taucht er nicht auf – höchstens hier und da etwas verschämt mit einem kleinen Bild. Der Slogan der SPD lautet: „Das Wir entscheidet“. Nichtssagender könnte ein Slogan kaum sein, aber das war, als Steinbrück ihn lancierte, nicht einmal das Problem. Denn es stellte sich heraus, dass mit diesem Slogan eine windige Leiharbeitsfirma für sich wirbt. Prompt titelte ein Boulevardblatt im Hinblick auf Steinbrücks Wahlkampfteam: „Zu dumm zum Googeln“
Steinbrück, der „Herausforderer“ der Kanzlerin Angela Merkel, hat seinen Wahlkampf bislang gründlich verstolpert. Am Dienstagabend durfte er 90 Minuten lang in der Talkshow von Sandra Maischberger – über weite Strecken als einziger Gast - auftreten. Prompt wurde ein kurzer Film eingespielt, auf dem zu sehen war, wie Steinbrück bei einer früheren, von der SPD veranstalteten Talkshow in Tränen ausbrach, als seine Frau trotz aller von ihr nicht gewollten Belastungen mit warmen Worten für ihn als Kanzlerkandidaten warb.
Die Geschichte mit dem Schachbrett
Tapfer wehrte Steinbrück alle Versuche Maischbergers ab, ihn zum Eingeständnis der Vergeblichkeit seiner Wahlkampfbemühungen zu bringen. In den letzten Wochen war Steinbrück nur ein Schatten seiner selbst. Bei einer Wahlkampfveranstaltung wurde er ungeniert gefragt: „Kann jemand, der überhaupt kein Glück hat, so wie Sie Herr Steinbrück, Kanzler werden?“ - Trotzig gab dieser ein Ja zur Antwort.
Es gibt Beobachter, die einen wieder erwachenden Kampfgeist bei Steinbrück zu erkennen glauben. Das mag sein, aber er wird nie die kämpferische Statur eines Helmut Schmidt erreichen, der ihn vor ein paar Monaten energisch als Kanzlerkandidaten lanciert hat. Dazu haben die beiden sogar ein gemeinsames Buch publiziert. Aber als ob sich schon damals eine Pechsträhne zeigen sollte, enthielt das Coverfoto dieses Buches einen katastrophalen Fehler: Das Buch heisst „Zug um Zug“, und die beiden sitzen vor einem Schachbrett, jeder hält eine Schachfigur in der Hand. Aber das Schachbrett ist um 90 Grad verdreht, liegt also verkehrt.
"Alternative für Deutschland"
Pech und Pannen nehmen dieser Vorwahlzeit aber nicht allein das Kämpferische weitgehend weg. Was fehlt, ist eine Schlachtordnung mit einem klaren Frontverlauf. Das Elend von Steinbrück besteht ja auch darin, dass er unter Angela Merkel Finanzminister war und die beiden sehr gut miteinander ausgekommen sind. Warum er jetzt unbedingt an ihre Stelle treten muss, liesse sich allenfalls erklären, wenn er zur wichtigsten Frage, dem Euro, eine komplett andere und durchschlagend plausible Alternative hätte. Die hat er aber nicht.
Das wichtigste Kennzeichen dieser Vorwahlzeit besteht im Fehlen sachlicher Alternativen, zumindest bei den grossen Parteien. Nur die „Alternative für Deutschland“ will eine grundlegende Änderung der Politik gegenüber dem Euro. Mit grossen Erwartungen ist diese Partei gestartet, aber sie hat es nicht geschafft, inhaltlich zu präzisieren, wie sie sich einen Ausstieg aus dem Euro konkret vorstellt und wie sie ihn politisch bewerkstelligen will. Vage und widersprüchlich bleiben diesbezüglich die Auskünfte, und so ist es nicht verwunderlich, dass diese Partei in Umfragen bislang nur bei drei Prozent liegt.
Ein bisschen dies, ein bisschen das
Auch die FDP, Koalitionspartner in der jetzigen Regierung, hat kein erkennbares eigenes Profil. Was sich in den vergangenen zwei Jahren eingeprägt hat, sind die Intrigen und Hauskräche. Guido Westerwelle wurde als Parteivorsitzender weggeputscht. An seine Stelle trat eine junge Führungsriege, die aber nicht zu überzeugen vermochte. Daher machte man den an sich schon abgehalfterten Rainer Brüderle zum Spitzenkandidaten. Der hatte aber auch Pech, indem er sich bei einem Sturz auf einer Treppe verletzt hat und kaum öffentlich auftritt. Um so mehr tritt jetzt wieder Guido Westerwelle in Erscheinung. Mit seinen Erfolgen will er Rache üben an jenen, die ihm so übel mitgespielt haben. -Das ist inzwischen der politische Alltag.
Das alles aber erklärt noch nicht den Eindruck, dass das, was bislang als „Wahlkampf“ vorgeführt wurde, lediglich eine Simulation ist. Steinbrück, Trittin, Sigmar Gabriel, Rainer Brüderle tun so, als würden sie gewaltig auf den Tisch hauen, aber ausser Brüderle, der immer wieder die Rampensau macht, wobei man am Ende gar nicht weiss, was er überhaupt gesagt hat, tritt keiner so energisch für oder gegen etwas ein, dass er einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Niemand hat ein Thema, mit dem er sich bis zur Selbstaufgabe identifiziert. - Ein bisschen dies, ein bisschen das, und am Ende, das weiss man doch, kommt sowieso alles anders.
Ideenpiraterie
Für diese Entwicklung mag es verschiedene Gründe geben, aber es gibt eine Protagonistin, die ihr kalt, berechnend und raffiniert vorarbeitet: Angela Merkel. Über Jahre hat sie die Taktik bis zur Perfektion entwickelt, dem politischen Gegner kein Thema zu lassen, mit dem er Stimmen gewinnen könnte. Und sie hat das passende Personal dafür: Ursula von der Leyen, ganz gewiss ein überragender Kopf mit einem gewaltigen Ego, setzt mit viel Energie und Kaltschnäuzigkeit alle möglichen Forderungen um, die ursprünglich von den Sozialdemokraten und Grünen erhoben wurden: von der Kinderbetreuung über die Gleichstellung der homosexuellen Paare bis zur Frauenquote.
Mit ihrer konsequenten Ideenpiraterie paralysiert Angela Merkel nicht nur Teile ihrer Partei. Sie paralysiert damit die Politik überhaupt. Denn sie nimmt ihr die raison d'être: Damit die Demokratie als politischer Wettbewerb um die richtigen politischen Wege und Lösungen funktionieren kann, müssen sich Politiker mit ihren Optionen erkennbar machen. Sie müssen für etwas stehen. Man muss wissen, welche Richtung man wählt, wenn man sich für eine bestimmte Partei oder einen Kandidaten entscheidet.
Der Pudding an der Wand
Im Grunde ist Merkels Verweigerung, Farbe zu bekennen, ein politischer Skandal erster Ordnung. „Mutti wird es schon richten“, ist ihre Botschaft, und jedes Kind weiss, dass Mutti sehr böse werden kann, wenn man ihr in die Kochtöpfe schaut. Konsequent verweigert sie sich grundlegenden Diskussionen, und die Opposition ist zu schwach, um sie ihr aufzuzwingen. „Nageln Sie mal einen Pudding an die Wand“, wurde einst in einer ähnlichen Situation in Bezug auf Ludwig Erhardt gesagt.
Zu Merkels Entlastung liesse sich argumentieren, dass die Zeit der grossen Entwürfe und Richtungsentscheidungen vorbei sei. Abhängigkeiten und Nebenfolgen seien zu gewaltig, und immerhin habe die Kanzlerin mit ihrer mutigen Energiewende gezeigt, dass sie sehr wohl weitreichende Entscheidungen treffen könne. Damit ist aber der Vorwurf, dass sie in Bezug auf den Euro nur kurzfristig und kurzsichtig taktiert und vor allem eine Diskussion über unterschiedliche Konzepte vermeidet, nicht vom Tisch.
Nicht wählen
Auf Seiten der Wähler gibt es zum nicht stattfindenden oder nur simulierten Wahlkampf eine Entsprechung: nicht wählen. Das jedenfalls ist eine Empfehlung, die der von Haus aus sozialdemokratisch orientierte Sozialphilosoph Harald Welzer im Kursbuch 174 (Murmann Verlag) gibt. Dieses Kursbuch trägt den Titel „Richtig wählen“. In seinem Beitrag kommt Welzer zu dem Ergebnis, dass keine einzige Partei derzeit „die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft“ so realistisch betrachtet, wie das ein Teil der Bürger schon tut. Er bescheinigt den Parteien „Illusionismus“ und kommt zu dem Schluss:
„Aus meiner Sicht gibt es kein symbolisch stärkeres Mittel, als sein nicht Einverstandensein mit dem Illusionismus der Parteien durch Vertrauensentzug, also durch Stimmenverweigerung anzuzeigen.“
Es liesse sich ergänzen: Wählerstimmen sind ein Mittel, das Parteien und Politiker brauchen, um ihre Ziele zu verwirklichen. Inzwischen aber ist aus dem Mittel der alleinige Zweck geworden. Politiker wollen so viele Wählerstimmen wie möglich, ohne noch anzugeben, wofür sie diese brauchen - ausser für sich selbst. Deswegen kann es geradezu notwendig sein, die Stimme so lange zu verweigern, bis wieder ersichtlich ist, wozu sie dienen soll.