Patrick Cockburn legt die erste zusammenfassende Darstellung der Geschehnisse vor, die zur Gründung des «Kalifates» oder «Islamischen Staates» führten *. Dieser erstreckt sich zur Zeit über Nordostsyrien und Nordwestirak und dominiert ein Gebiet am mittleren Euphrat und Tigris, das ungefähr 300’000 Quadratkilometer umfasst, allerdings zu grossen Teilen Wüste.
Drei Millionen auf der Flucht vor dem IS
Die beiden Hauptstädte sind Raqqa am Euphrat in Syrien und Mosul am Tigris im Irak. Etwa zehn Millionen Menschen lebten vor den Kriegshandlungen in diesen Gebieten. Wie viele von ihnen den Islamischen Staat fluchtartig verlassen haben, ist schwer abzuschätzen, es dürfte sich mindestens um eine gute Million im Irak und um zwei Millionen in Syrien handeln.
Patrick Cockburn, der für den «Guardian» und den «Independent» in Grossbritannien schreibt, ist Augenzeuge der Entstehung des Islamischen Staates (IS) gewesen. Er hat über die letzten Jahre aus Syrien, sowohl dem Herrschaftsgebiet der Regierung wie dem des Widerstandes, und aus dem Irak berichtet. Das Innere des IS kennt auch er nur vom Hörensagen, etwa aus den Berichten der Entflohenen, weil dort nur den eigenen Propagandisten, keinen fremden Journalisten, zu «informieren» gestattet ist. Ausländische Berichterstatter sucht IS festzunehmen. Sie werden entweder ermordet oder als Geiseln behandelt und gegen Millionenbeträge freigelassen.
Am Beginn die amerikanische Irak-Invasion
Die Entstehung des Islamischen Staates geht auf den Eingriff der Amerikaner im Irak zurück. Dieser war es, der al-Kaida ermöglichte, aus ihren pakistanischen und afghanischen Zufluchtsorten heraus eine Präsenz im Irak zu gründen. Vor den Amerikanern gab es eine solche im Irak nicht. Mosul und die anderen Städte der arabischen und sunnitischen Iraker wurden zu Zentren des Widerstands gegen die amerikanische Invasion. Die kurdischen Gebiete in Nordostirak blieben stets ausgenommen.
Unter der amerikanischen Besatzung vermischten sich in den sunnitisch-arabischen Territorien ehemalige Truppen und Offiziere Saddams, die von den Amerikanern fristlos entlassen worden waren, mit islamistischen Kämpfern. Ad-Duri, einer der Vizepräsidenten Saddams, auf dessen Kopf die Amerikaner 12 Millionen ausgesetzt hatten, ohne seiner je habhaft zu werden, gründete die Nakschabandi-Armee, die noch heute von Mosul aus und in Diyala operiert.
Saddams beide Söhne wurden von den Amerikanern in Mosul aufgespürt und in Kämpfen erschossen. Die Nakschabandi sind ein strenggläubiger Sufi-Orden, der sich mit dem Wahabismus Saudi-Arabiens ausgesöhnt und verständigt hat. Wenn der Nationalismus versagt, kann im islamischen Raum die islamische Solidarität an die Stelle der nationalen treten. Auch sie kann als ein gemeinsamer Nenner wirken, der Gemeinschaften, über die Familien- und Stammessolidaritäten hinaus, zusammenschliesst. Was ad-Duri offenbar wusste und praktizierte.
Doch neben seiner Formation und anderen Zusammenschlüssen der entlassenen irakischen Soldaten und Offiziere fanden sich islamistische Gruppen zusammen unter dem Markenzeichen von al-Kaida und mit dem Ziel, Widerstand gegen die amerikanische Besetzung zu leisten. Der aus Jordanien stammende islamistische Aktivist Abu Musab al-Zarqawi, wurde zum Anführer einer der radikalsten Gruppen des nordirakischen islamistischen Widerstandes, der sich auf al-Kaida berief. Er hatte seine Gruppe ursprünglich «Tawhid wa Jihad» genannt, dann wurde sie «al-Kaida im Irak», später nach Differenzen mit der Kaida Führung «Islamischer Staat im Irak», noch später, nachdem der Aufstand in Syrien ausgebrochen war, «Islamischer Staat in Syrien und im Irak» (ISIS) und am Ende, nach der Einnahme von Mosul, der «Islamische Staat» oder das «Kalifat».
Verteufelung der Schiiten als Strategie
Es war Zarqawis Idee und die gewisser radikaler Prediger aus Jordanien, auf die er sich berief, den Schiismus zu einem Hauptfeind des sunnitischen Islamismus zu erklären. Dies war von besonderem Gewicht im Irak, weil die Schiiten mehr als die Häfte der irakischen Bevölkerung ausmachen. Viele Schiiten, geleitet von den einflussreichsten ihrer Gottesgelehrten, waren bereit, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten und dabei auf das Ziel eines demokratischen Staates hinzusteuern. Sie rechneten damit, dass echte Wahlen ihrer Gemeinschaft die Mehrheit und damit die führende Position in einer irakischen Demokratie verschaffen würden.
Zarqawi seinerseits ging darauf aus, die theologischen Unterschiede und die politischen Gegensätze zwischen den beiden Religionsgemeinschaften zu vertiefen und mit dem Mittel der Mordanschläge unter ihnen Hass zu säen. Die Kämpfe zwischen den beiden islamischen Konfessionen ermöglichten ihm und den Seinen, als Anführer und Vorhut der Sunniten gegen die schiitischen Feinde aufzutreten und dadurch Einfluss unter den irakischen Sunniten zu gewinnen.
Dem amtierenden Kaida-Chef, Ayman al-Zawahiri, erschien die Hetze gegen die irakischen Schiiten, die Zarqawi betrieb, übertrieben. Die Stossrichtung von al-Kaida sollte nach seinen Plänen gegen den von Amerika angeführten Westen gelenkt werden, nicht gegen die Mitmuslime schiitischer Konfession. Zawahiri verwarnte Zarqawi, und erklärte ihn schliesslich als nicht mehr zur Kaida gehörig, als er sich nicht von der Schiitenhetze abbringen liess.
Wahabitischer Schiitenhass
Doch Zarqawi konnte mit der Sympathie Saudi-Arabiens rechnen. Die wahabitische Lehre, die das saudische Islamverständnis bestimmt, stand von Beginn an den Schiiten feindlich gegenüber. Dem Begründer ihrer Doktrin, dem Gottesgelehrten Ibn Abdul Wahhab (gestorben 1793), galten sie als «Polytheisten» wegen ihrer Verehrung der zwölf Imame, die in der Tat den Schiiten heilig sind.
Frühe wahabitische Kämpfer aus Arabien, schon damals unter der politischen Führung des Fürstenhauses Saud, haben im Jahr 1801 das schiitische Heiligtum von Kerbela im Irak geplündert, viele der Bewohner massakriert und die schiitischen heiligen Stätten zerstört – sehr zum Entsetzen der sunnitischen Staatsmacht der damaligen Zeit, des osmanischen Sultans von Istanbul, der in der Folge für die Bestrafung der Wahabiten sorgte.
Später hat der Erdölreichtum die saudische Macht und mit ihr den Einfluss ihrer Islamvariante, des Wahabismus, gewaltig gefördert. Ihre theologisch begründete Abneigung gegen den Schiismus erhielt neue Nahrung, als in Iran 1979 Khomeini zum Durchbruch kam und dort einen islamischen Staat schiitischer Färbung schuf.
Die saudische Herrschaft in Arabien erblickte in ihm eine machtpolitische Bedrohung. Sie unterstütze deshalb Saddam Hussein im Irak in seinem achtjährigen Krieg gegen Iran (1980-88). Als Saddam 2003 zu Fall kam und in Bagdad unter der amerikanischen Besetzung ein von Schiiten geleiteter Staat entstand, sahen die Saudis dies als eine gesteigerte Bedrohung. Zur Zeit Saddams war die irakische Armee ihr bester Schutz gegen die iranische Macht gewesen.
Die Saudis entschieden sich, als Vormacht aller Sunniten gegen die Gefahr anzukämpfen, die in ihren Augen durch die iranisch-schiitische Expansion entstanden war. In saudischer Sicht drohen alle schiitischen Araber sich unter iranischer Führung gegen die arabischen Sunniten zu erheben. Saudi-Arabien selbst beherbergt eine schiitische Minderheit, die in der Region der wichtigsten Fördergebiete des saudischen Erdöls lebt.
Ein erster schiitisch-sunnitischer Untergrundkrieg
In der Tat gelang es Zarqawi und seinem Nachfolger, Abu Hamza al-Muhajer mit dem Kriegsnamen Abu Omar al-Bagdadi, einen blutigen Bürgerkrieg zwischen den irakischen Schiiten und Sunniten zu entfesseln. Er wurde 2007 und 2008 in den gemischten Gebieten, wo bisher Schiiten und Sunniten friedlich zusammengelebt hatten, rücksichtslos ausgetragen. Die wichtigsten der gemischten Gebiete waren Bagdad und die konfessionell gemischte Provinz im Nordosten der Hauptstadt, Diyala.
Zarqawi erlag 2006 einem amerikanischen Luftschlag. Doch seine anti-schiitische Aktivität wurde von seinem Nachfolger weitergeführt. Auch dieser wurde von den Amerikanern in einem Angriff auf seinen Unterschlupf im April 2010 getötet. Der nächste Nachfolger wurde Abu Bakr al-Bagdadi, eigentlich Ibrahim Badri aus Samarra, der gegenwärtige Kalif Ibrahim. Er besitzt ein Doktorat in Islamischen Studien von der Universität Bagdad und hatte vor seiner Ernennung zum Chef seiner Kampfgemeinschaft als der Vorsitzende des islamischen Aufsichtsausschusses der islamistischen Widerstandsgruppe Zarqawis gedient.
Neue Kraft durch den Aufstand in Syrien
Die Amerikaner und die mit ihnen verbündeten sunnitischen Stammesführer der sogenannten «Sahwa» drängten die Kampfgruppe Zarqawis und seiner Nachfolger zurück, konnten sie aber nie vollständig ausschalten. Ihre Kämpfer erlangten Machtzuwachs durch die Ereignisse im Nachbarland Syrien. Sie konnten auf die syrische Seite der Grenze übergreifen und erhielten zu diesem Zweck Gelder aus Saudi-Arabien, wahrscheinlich anfänglich staatliche und private Geldsummen, später – nach 2013 – vermutlich nur noch private.
Patrick Cockbrun weist darauf hin, dass die Amerikaner den Saudis nach dem Terroranschlag von New York freie Hand liessen, obwohl sie selbst versuchten, Kapitalflüsse an al-Kaida zu unterbinden. Nicht einmal in den amerikanischen Krieg gegen al-Kaida wurden die Saudis miteinbezogen. Bekanntlich wurden zwanzig Seiten des offiziellen Berichtes über die Terroranschläge vom 11. September 2001 als Geheimsache erklärt und nie veröffentlicht. Es besteht Grund zu der Annahme, dass diese Seiten oder Teile von ihnen sich mit dem saudischen Beitrag zu den Mordanschlägen von New York befassen.
In Syrien war es die Formation des Abu Bakr al-Bagdadi, die von der saudischen und der aus den Golfstaaten stammenden Finanzierung am meisten profitierte. Ziel für Saudi-Arabien war, Bashar al-Asad zu Fall zu bringen, um auf diesem Weg die alte Allianz zwischen Syrien und Iran zu beenden, die seit der Zeit Khomeinis besteht. In saudischen Augen ist dies eine schiitische Allianz, weil sie die alawitische Gemeinschaft, auf welche die alawitische Asad-Familie sich stützt, als schiitisch einstufen.
In Wirklichkeit begann die Allianz als ein politisches Bündnis gegen den gemeinsamen Feind beider Staaten, Saddam Hussein. Sie erhielt später einen schiitischen Akzent durch den Umstand, dass die Achse zwischen Iran und der schiitischen Hizbullah in Libanon über Syrien verläuft. Hizbullah ist in der Tat eine schiitische Partei und Kampfgemeinschaft. Ihre Basis bilden die schiitischen Libanesen. Hizbullah wurde 1982, im Jahr der israelischen Invasion Libanons, anfänglich mit Hilfe der iranischen Revolutionswächter, ins Leben gerufen.
Nusra-Front, gegründet von ISIS
Die syrisch-islamistische Kampfgruppe der Nusra-Front wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 2011 als die syrische Zweigstelle der irakischen Kampfgruppe al-Baghdadis gegründet. Sie begann ihre Aktivitäten mit Bombenanschlägen in Damaskus und anderen Ortes. Bombenanschläge sind eine hochentwickelte Spezialität des anti-amerikanischen und dann gegen die schiitische Regierung von Bagdad gerichteten sunnitisch-irakischen Widerstands resp. Terrorismus.
Im Januar 2012 trat die Nusra-Front durch ein Video zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Sie wurde schon bald zu einer der aktivsten und erfolgreichsten Kampfgruppen gegen das Asad-Regime. Mit dem Geld und den Waffen aus Saudi-Arabien und aus den Golfstaaten strömten ihr auch die Kämpfer zu. Im Februar 2013 gab Abu Bakr al-Bagdadi eine Erkärung ab, in der er die Nusra-Front aufforderte, sich seiner Führung zu unterstellen. Er berief sich dabei auf deren ursprüngliche Gründung durch ISIS.
Doch der Anführer der Nusra-Front, Abu Mohammed al-Golani, weigerte sich, Abu Bakr als Chef anzuerkennen. Der Streit gelangte vor Zawahiri, und dieser entschied nach einem vergeblichen Schlichtungsversuch, die Nusra-Front habe in Syrien zu kämpfen, die Formation Abu Bakr al-Bagdadis, die nun unter dem Namen ISIS lief (Islamischer Staat im Irak und in Syrien), solle für den Jihad im Irak zuständig sein. Abu Bakr wollte sich diesem Entscheid nicht fügen, und es kam daher zu einem Bruch zwischen ihm und der Kaida-Führung. Schon damals argumentierte al-Bagdadi, die kolonialen Grenzen zwischen Syrien und dem Irak sollten für Muslime nichts bedeuten.
Die Abspaltung der Nusra-Front
Es gab keine doktrinären Unterschiede zwischen den Islamisten der Nusra-Front und des ISIS. Beide strebten einen islamischen Staat unter der Scharia an, so wie sie diese sahen. Doch die Strategie beider Gruppen war unterschiedlich. Die Nusra-Front suchte in erster Linie das syrische Asad-Regime zu Fall zu bringen, der islamische Staat sollte nach dessen Sturz in Syrien gegründet werden. ISIS hingegen ging darauf aus, möglichst bald einen «Staat» zu schaffen, der als der Kern des angestrebten islamischen Staates dienen könnte.
Als während des Jahres 2012 die islamistischen Kampfgruppen, gemeinsam und mit gegenseitiger Unterstützung, bedeutende Fortschritte in den syrischen Ostgebieten am Euphrat und jenseits des Euphrats machten, nützte ISIS dies aus, um sich ein Herrschaftsgebiet zu sichern. Raqqa, die einzige Provinzhauptstadt im Besitz der Opposition, wurde gemeinsam von ISIS, Nusra-Front, zahlreichen anderen ebenfalls islamistisch ausgerichteten Gruppen sowie von Teilen der nicht-islamistischen Freien Syrischen Armee (FSA) eingenommen.
Doch nach der Eroberung operierte ISIS zielbewusst so, dass er die anderen Kampfgruppen aus Raqqa vertrieb und dort ein Herrschaftsmonopol für sich selbst einrichten konnte. Die anderen Gruppen gingen darauf aus, dem Kampf gegen Damaskus Priorität zu gewähren. ISIS gab dem Aufbau eines eigenen Herrschaftsgebietes im fernen Osten Syriens den Vorrang, wobei ohne Zweifel die Tatsache mitwirkte, dass ISIS aus dem Irak stammte und immer auch seine Position im östlichen Nachbarland Syriens im Auge behielt.
Schonte Damaskus ISIS?
Wie weit die Gerüchte der damaligen Epoche zutrafen, nach denen die syrische Luftwaffe ISIS und seine Kasernen schonte und in erster Linie die anderen Kampfgruppen bombardierte, ist nicht mit Gewissheit feststellbar. Doch ist deutlich, dass ISIS Damaskus in doppelter Hinsicht diente: einerseits, um die syrische Propaganda zu bestätigen, nach welcher Syrien zum Opfer von ausländischen Terroristen geworden sei, und andrerseits, indem der Streit zwischen den beiden effizientesten Flügeln des islamistischen Widerstandes, zwischen Nusra-Front und ISIS, Damaskus nur nützen konnte.
Dieser Streit wurde ab Dezember 2013zu einem Krieg im Kriege, als offene Kämpfe zwischen ISIS und den anderen ebenfalls islamistischen syrischen Kampfgruppen ausbrachen. ISIS sah sich gezwungen oder veranlasst, seine Positionen westlich von Aleppo zu räumen und sich nach den östlichen Teilen Syriens, Euphrattal und Jezira, abzusetzen. Dies erschien zuerst als ein Rückschlag für ISIS, erwies sich jedoch später als ein strategischer Rückzug. Er erfolgte, weil al-Bagdadi stets seine Position im Irak neben den syrischen Kämpfen im Auge behielt, und weil seine Formation dort aktiv blieb, zunächst in erster Linie mit Bobenanschlägen.
Diskriminierung der Sunniten im Irak
Die politische Lage im Irak entwickelte sich zugunsten von ISIS, und zwar so sehr, dass sie dem Islamischen Staat, nach seiner Förderung durch die syrischen Kämpfe, einen weiteren Machtzuwachs bringen sollte. Dies kam zustande durch die allzu einseitig schiitisch ausgerichtete Politik des irakischen Minsterpräsidenten Nuri al-Maliki.
Maliki, selbst ein Schiite und einst tragendes Mitglied der schiitischen Untergrundopposition gegen Saddam, stützte sich auf die irakischen Schiiten und verdächtigte die irakischen Sunniten des Terrors und Widerstandes gegen seine Regierung. Dies traf teilweise zu, galt jedoch ursprünglich nur für einen kleinen Teil der irakischen Sunniten.
Die Machtposition der Schiiten in den Armee- und Sicherheitskräften, die al-Maliki fördete – und mit ihr die Gelegenheit, die Erdölrente des Staates in ihre eigenen Kanäle zu lenken – sowie wachsende Diskriminierung gegen Sunniten, sogar gegen sunnitische Würdenträger in der Regierung und unter den Regierungsmitgliedern, trieben die Sunniten zunächst zu gewaltfreien Demonstrationen in Ramadi und anderen Zentren des irakischen Sunnismus.
Explosive Spannungen im Irak
Diese Dauerdemonstrationen blieben ohne Wirkung auf die Regierung. Sie begannen im Dezember 2012 und endeten am 30. Dezember 2013 damit, dass das grösste der Protestlager in Ramadi von den als schiitisch eingestuften Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst wurde. Schon zuvor, am 23. April 2012, war es in dem Flecken Hawija zur Gewalt gekommen, wo die Sicherheitskräfte mindestens 42 demonstrierende Personen erschossen hatten.
Dies hatte zu weiteren tödlichen Zusammenstössen in mehreren anderen sunnitischen Ortschaften geführt – stets vor dem Hintergrund von blutigen Bombenanschlägen in Bagdad und im irakischen Süden, die sich primär gegen schiitische Ziele richteten. Bis Ende April wieder teilweise Ruhe eintrat, waren mehrere hundert Todesopfer zu beklagen.
Im Juli 2013 gelang es ISIS, die irakischen Gefängnisse von Taji und Abu Ghraib zu stürmen und über 500 Gefangene zu befreien. Viele davon waren alte Kämpfer des sunnitischen Widerstandes. Durch doppelte Selbstmordanschläge, einer kurz nach dem anderen, wurden die Gefängnistore aufgebrochen, und die Sturmtruppen von ISIS konnten dann eindringen.
Nach der Auflösung des Protestlagers in Ramadi am Jahresende 2013 erschienen die ersten Bewaffneten auf den Strassen. Dies waren wahrscheinlich mehr Stammesleute als ISIS-Kämpfer. Doch auch die oben erwähnte Nakschabandi-Armee al-Duris spielte eine Rolle. Für ISIS dürfte die gewaltsame Auflösung der Protestlager und der Beginn des bewaffneten Widerstandes, der auf sie folgte, ein Hinweis darauf gewesen sein, dass die sunnitische Bevölkerung des Nordwestirak für einen Aufstand gegen Bagdad und die dortige schiitisch dominierte Regierung reif geworden war.
ISIS schritt im Januar 2014, unterstützt von sunnitischen Stammesleuten, zur Besetzung der zwei wichtigsten Städte, Fallouja und Ramadi, der an Syrien angrenzenden irakischen Wüstenprovinz Anbar. Der irakischen Armee gelang es trotz mehrer Offensiven nicht, die Aufständischen aus den beiden Städten zu vertreiben. Trotz dieser Lage wurden im April Parlamentswahlen durchgeführt; die aufständische Provinz Anbar wurde weitgehend davon ausgenommen. Maliki gewann die Wahlen, jedoch nur mit einer relativen Mehrheit. Auch nach diesen Wahlen konnten die ISIS-Kämpfer und ihre Verbündeten sich in den beiden Städten halten. Die Armee beschoss sie von aussen, doch sie konnte sie nicht erobern.
Zusammenbruch der Armee in Mosul
Im Juni darauf gelang es dann den ISIS-Kämpfern – es sollen bloss etwa 7’000 gewesen sein – überraschend, Mosul einzunehmen und im Gefolge fast alle der sunnitischen Städte Nordwestiraks Iraks zu besetzen. Die Stadt Mosul war seit der amerikanischen Zeit ein Sammelpunkt für alle Kräfte des sunnitischen Widerstandes gegen die Amerikaner und später gegen die von ihnen eingesetzte Maliki-Regierung gewesen.
Eine lange Reihe von kleineren islamistischen Kampfgruppen, zusammen mit Stammesleuten und mit ehemaligen Offizieren und Soldaten Saddam Husseins, die sich in Mosul konzentriert hatten, halfen ISIS bei der Überrumpelung der in der Stadt stationierten irakischen Truppen. Die hohen Offiziere der neu gebildeten irakischen Streitkräfte waren die ersten, die ihre Uniformen auszogen und in die nahegelegenen kurdischen Gebiete flüchteten. Der Gouverneur der Stadt und ihrer Provinz folgte ihnen. Die Soldaten, ohne Führung, ohne Befehle und mit unzureichender Munition und Nahrung, taten das gleiche.
Korrupte irakische Streitkräfte
In Gesprächen mit hohen Offizieren darüber, wie dieses Debakel geschehen konnte, erhielt Cockburn die Antwort: «Korruption, Korruption, Korruption!» Er beschreibt, was diese Korruption für die mit Milliardenbeträgen von den Amerikanern aufgestellte und ausgerüstete Armee bedeutete. Die oberen Offiziersstellen waren käuflich. Man musste Hunderttausende oder Millionen von Dollars hinlegen, um sie zu erhalten. Einem Offizier, der einwandte, er besitze nicht soviel Geld, wurde erklärt, er solle es auf der Bank aufnehmen. Einmal führender Offizier, werde er keine Schwierigkeit haben, die Schuld mit Gewinn abzutragen.
Dies geschah (und geschieht möglicherweise noch immer), indem die Offiziere grössere Zahlen von Soldaten deklarierten, als wirklich Dienst taten. Die Unkosten für die Scheinsoldaten sackten sie ein. Das gleiche geschah mit den Lieferungen für die Truppen – Nahrung, Munition, Kleidung und so weiter –, die auf amerikanisches Anraten hin über private Lieferfirmen abliefen. Erpressungsmanöver an Strassensperren und in Gefängnissen, primär gegenüber Sunniten, wurden auf niedrigerer Stufe von Soldaten und Unteroffizieren durchgeführt. Die sie deckenden Offiziere kassierten ihre Anteile.
Ein weiterer Faktor, der zur Unfähigkeit der Streitkräfte beitrug, war die Entfernung von fähigen sunnitischen Offizieren aus der Armeeführung, weil Maliki ihnen misstraute. Er ersetzte sie durch seine schiitischen Anhänger, ohne gross nach ihren militärischen Qualifikationen zu fragen. Hauptsache war ihre Loyalität gegenüber dem Maliki-Regime.
Maliki selbst hatte nach den Wahlen von 2009 als sein eigener Verteidigungsminister und Innenminister gewirkt, weil, wie er erklärte, andere geeignete Personen nicht gefunden werden konnten. Später hatten enge Vertraute des Ministerpräsidenten diese Ministerposten bezogen. Die Geheimdienste und Sondertruppen waren jedoch unter Malikis direkter Aufsicht geblieben. Sie dienten regelmässig dazu, sunnitische Würdentrager, die zu Beginn im Rahmen der Regierungskoalition Maliki unterstützt hatten, auszuschalten. Auch die Justiz zeigte sich dabei Maliki gegenüber hörig.
Eroberung Nordwestiraks durch ISIS
ISIS konnte nach dem Schlag gegen Mosul im Juni und Juli rasch nach Süden vorstossen und dabei fast alle Städte bis kurz vor Bagdad in seine Gewalt bringen. Samarra blieb der Regierung erhalten, und von Samarra aus versuchte die Armee Tikrit zurückzuerobern. Dies scheint nach mehreren Offensiven und einigen voreiligen Siegeserklärungen misslungen zu sein. Die Streitkräfte sahen sich zu einem Rückzug aus der Umgebung von Tikrit gezwungen. In Diyala erreichte ISIS die Provinzhauptstadt Baaquba, doch konnte er sich dort nicht halten.
Angesichts der Bedrohung der Hauptstadt schritt die schiitische Gemeinschaft unter Ermunterung durch ihre Gottesgelehrten zur Mobilisierung schiitischer Milizen. Sie bewaffneten sich, und einige von ihnen wurden den offiziellen Streitkräften zu Hilfe gesandt. Andere übernahmen die Überwachung der verbliebenen gemischten Gebiete und der schiitischen Heiligen Stätten.
Bagdad war durch den ersten schiitisch-sunnitischen Bürgerkrieg in den Jahren 2007 und 2008 aus einer gleichmässig gemischten zu einer überwiegend schiitischen Stadt geworden. Die verbliebenen Sunnitenviertel gerieten nun unter Verdacht, heimliche Zellen von ISIS-Anhängern zu bergen. Dies führte dazu, dass mehrmals Sunniten von Schiiten erschossen wurden. Auch gefangene Sunniten in den Gefängnissen von Taji und Abu Ghraib sollen ermordet worden sein, als die Gefängniswächter aus Furcht vor den heranrückenden ISIS-Truppen abzogen.
Kirkuk wird kurdisch
Die irakischen Kurden nützten den Umstand, dass die irakischen Streitkräfte auch Kirkuk räumten, um die seit Jahren umstrittene Erdölstadt und ihre Ölfelder zu besetzen und sie dem kurdischen Hoheitsgebiet einzuverleiben, wie dies seit Jahrzehnten ihr Traum gewesen war. Ihre Führung erklärte, dies sei notwendig geworden, um zu vermeiden, dass Kirkuk in die Hände von ISIS falle.
Auch andere den offiziellen kurdischen Provinzen vorgelagerte Gebiete, in denen kurdische Mehrheiten leben, wurden den Autonomiegebieten mit der gleichen Begründung einverleibt. Die unter kurdischer Verwaltung und dem Schutz der kurdischen Truppen stehenden Gebiete wuchsen dadurch um vierzig Prozent. Der Präsident des kurdischen Teilstaates forderte vom kurdischen Parlament in Erbil die Vorbereitung eines Plebiszits über die volle Unabhängigkeit des nun erweiterten kurdischen Staates. Ob es dazu kommt, bleibt noch abzuwarten.
Am Sonntag wurde gemeldet, dass ISIS die kurdischen Peschmerga gezwungen hatte, sich aus zwei Städten nordwestlich von Mosul, an der Strasse zur syrischen Grenze zurückzuziehen, die von den Kurden besetzt worden waren, Sanjar und Zumar. In Sanjar lebt die besondere Religionsgemeinschaft der Yeziden. Schon früher waren Teile der turkmenischen Schiiten, die in Tell Afar wohnten, ebenfalls nördlich von Mosul, vor IS nach Sanjar geflohen. Sie hatten dort auf den Schutz der kurdischen Truppen gezählt. Nun mussten sie, zusammen mit den Yeziden von Sanjar weiter fliehen. Für IS sind sowohl die Schiiten wie die Yeziden des Todes würdig. 200’000 Menschen sollen sich nun auf der Flucht befinden. Dies ist die erste Niederlage, welche IS den kurdischen Kämpfern beibrachte.
Staatszerfall als Zukunftsperspektive?
Ebenso ist zur Zeit ungewiss, ob der Irak in seine drei Bestandteile auseinanderfällt: in den sunnitischen Nordwesten in Verbindung mit dem syrischen Nordosten unter ISIS, in ein künftiges Kurdistan, und in einen südlichen Teil von Bagdad stromabwärts. Dies hängt zunächst davon ab, ob die offiziellen Streitkräfte von Bagdad und ihre schiitischen Hilfsmilizen den Nordwesten zurückerobern können oder nicht. Der Beobachter vor Ort, Patrick Cockburn, vermutet, dass sie dazu nicht fähig sein werden. Andere Beurteilungen gehen dahin, dass der islamische Staat sich seinerseits als unfähig erweisen werde, auf mittlere Frist die weiten Gebiete zu regieren, die er zurzeit mit Gewalt beherrscht.
Systematisch geübte brutale Gewalt zur Abschreckung aller, die nicht blinden Gehorsam leisten, ist zum wichtigsten Herrschaftsinstrument von IS geworden. Die als hoch professionell geltende Propaganda der Kampfgruppe unterstreicht die Gewalt und scheut sich nicht, die Geköpften und die Erschossenen in Bildern von professioneller Qualität übers Internet vorzuführen. Manchmal ist sogar von Kreuzigungen die Rede. Nicht nur die Ungehorsamen und Aufbegehrenden sind nach IS des Todes würdig; es genügt, Schiite zu sein oder anderen für die IS als unorthodox geltenden Religionsgemeinschaften anzugehören, wie die oben erwähnten Yeziden.
Vertreibung der Christen aus Mosul
Die im Raume von Mosul seit dem Beginn der Christenheit lebenden Angehörigen christlicher Kirchen wurden aufgefordert, sich entweder zum Islam zu bekehren, oder sich als Gemeinschaft zweiten Ranges den Muslimen des Islamischen Staates zu unterstellen unter Bezahlung von Sondersteuern, oder schliesslich ihre Heimstätten unter Zurücklassung all ihrer Habe zu verlassen. Im Falle, dass sie keinen der drei zur Wahl gestellten Wege einschlagen, droht ihnen «das Schwert».
Sie scheinen überwiegend den dritten Weg ergriffen und ihre Häuser geräumt zu haben. Diese fielen IS anheim. Die Unterstellung der Christen und Juden als zweitrangige Gemeinschaften unter die islamische ist die im islamischen Mittelalter nach Massgabe der Scharia geltende Regel. Sie wurde in der Praxis je nach Herrscher und herrschenden Umständen sehr unterschiedlich gehandhabt.
IS sucht nun die Theorie der Scharia in eine eng eingeschränkte und unter allen Umständen geltende Praxis umzusetzen. Dies kann in der Gegenwart nur gelingen unter dem Druck äusserster Brutalität und der durch sie verbreiteten Furcht. Um diese aufrecht zu erhalten, muss wahrscheinlich beständig Blut fliessen. Der «Kalife» Abu Bakr wird nichts dagegen einzuwenden haben. Es wird ihm zur Festigung seiner Macht sogar notwendig und willkommen sein.
Doch auf mittlere Frist wird sich ein Hindernis einstellen. Wieviele Menschen werden unter diesen Umständen im Islamischen Staat leben können und leben wollen? Die «mittelaterlichen» Herrschaftsmethoden dürften zu einer «mittelalterlichen» Wirtschaft führen, und eine zentrale Frage wird sein, auf welchen Wegen und wie lange eine solche «mittelalterliche» Wirtschaft ein modern ausgerüstetes Heer finanzieren und tragen kann. Die Macht von IS hängt gegenwärtig alleine von der Macht der Gewehre ab.
Die Fehler der westlichen Politik
Die Darstellung Cockburns über die Genese von IS geht auch ausführlich auf die Ketten von Fehlern der Aussenwelt ein, die zu dem heutigen Resultat führten. Er sieht den Ursprung der Unheilskette in dem illegal, durch Regierungsbetrug gegenüber dem eigenen Volk angefachten amerikanischen Krieg gegen den Irak und in der Unfähigkeit der Amerikaner, die von ihnen verheissene Demokratie im Irak in die Wege zu leiten. Dies führte zur Wucherung der islamistischen Ideologie im Irak.
Weiter benennt Cockburn die in Syrien begangenen Fehler. Sie lagen in der Fehleinschätzung der Position der Asad-Regierung. Im westlichen Ausland herrschte die Annahme vor, die sunnitische Mehrheit der Syrer werde im Zuge des Aufstandes gegen Asad das Regime zu Fall bringen und den Rücktritt Asads erzwingen. Gleichzeitig erwartete die syrische Opposition, anfangs gewaltlos, dass die westliche Aussenwelt ihr zu Hilfe eilen und den Sturz des Machthabers herbeiführen werde, wie dies ja in Libyen geschehen war.
Auch Libyen war jedoch eine Fehlrechnung, wie sich später herausstellte. Der Sturz Ghaddafis im August 2011 führte nicht wie erwartet zur Demokratie. Die bewaffneten Milizen, die gegen Ghaddafi gekämpft hatten, und andere bewaffnete Gruppen, die sich aus den Waffenlagern Ghaddafis bedienten, ergriffen die tatsächliche Macht. Sie weigern sich, den gewählten Regierungen Gehorsam zu leisten, und sie benützen ihre Waffenmacht zusehends, um Kämpfe gegeneinander zu führen und dadurch das Land gegen den Willen der immensen Mehrheit seiner Bevölkerung in einen Bürgerkrieg zu reissen.
Kein zweites Libyen in Syrien
Dieses Debakel in Libyen trug seinerseits dazu bei, einen Eingriff der Nato Mächte in Syrien zu verhindern, wie ihn gerade die «gemässigten» Kräfte des syrischen Widerstandes, lies FSA und syrische Exilregierung in Istanbul, erhofft und erwartet hatten. Sogar die Giftgasangriffe im Umfeld von Damaskus, die von den USA öffentlich als «Rote Linie» bezeichnet worden waren, führten nicht zu einem westlichen Eingriff. Ein russischer Schachzug verhinderte dies, zusammen mit der Kriegsmüdigkeit der Aliierten.
Die islamistischen Kräfte in Syrien, besonders die radikalsten unter ihnen, hatten sich organisiert, ohne auf die Hilfe der westlichen Welt zu zählen. Sie vermochten dies auf Grund der saudischen Hilfe und jener aus den Golfstaaten. Diese wiederum floss reichlich aufgrund der saudischen Fehde gegen Iran. Diese Fehde bewirkte wiederum, dass Iran Damaskus aktiv unterstützte.
Und es gab eine dritte Ebene der Stellvertreterkriege in Syrien. Sie spielte sich auf der Achse des wiederbelebten Kalten Krieges zwischen den USA und Russland ab. Damaskus als Verbündeter Russlands profitierte davon.
Aussicht auf chaotische Zukunft
Nach der Einschätzung Cockburns ist Damaskus heute daran, langsame Fortschritte gegen den tief gespaltenen Aufstand zu machen. Die Langsamkeit geht darauf zurück, dass Damaskus nur über wenige einsatzfähige Kampftruppen verfügt und diese schonen muss. Daher verfolgt das Regime eine langsame Taktik der Belagerung der städtischen Hochburgen des Widerstandes aus der Ferne mit Artillerie und Bombardierungen, die manchmal Monate, manchmal Jahre lang dauert.
Diese Taktik führt natürlich zur Zerstörung der belagerten Städte und Ortschaften, einer nach der anderen, und zum Tod oder zur Flucht ihrer zivilen Bevölkerungen. In der jüngsten Zeit ist es in einigen Fällen zu Verhandlungen zwischen Belagerern und Belagerten gekommen, die zu kapitulationsartigen Kompromissen führten. Etwa freier Abzug der letzten Kämpfer des Widerstandes mit ihren individuellen doch ohne die schweren Waffen. So wurden Leben auf beiden Seiten geschont. Cockburn führt dies auf die Kriegsmüdigkeit beider Gegner zurück.
Er erwartet, dass die Damaskus-Regierung schwerlich in der Lage sein wird, die Teile im fernen Osten des Landes zurückzuerobern, die sich heute vor allem in Händen von IS befinden. Doch er warnt, dass auch unvorhersehbare Entwicklungen eintreten könnten.
Maliki als zweifelhafte Schlüsselfigur
Im Irak ist trotz dem Wahlsieg Malikis vom vergangenen April noch keine Regierung zustande gekommen. Maliki besteht darauf, dass er die neue Regierung bilden will. Doch viele Kritiker, auch unter den irakischen Schiiten, werfen ihm vor, er sei verantwortlich für die Kriegserfolge von IS. Ohne seine diskriminierende Politik gegenüber den Sunniten wären sie nicht zustande gekommen. Die USA haben erklärt, sie könnten dem Irak nur dann entscheidend zu Hilfe kommen, wenn das Land eine Regierung erhalte, die auch die irakischen Sunniten mit einbezöge.
Auch die sunnitischen Verbündeten von IS sind der Ansicht, Malikis Politik habe sie auf die Seite von IS getrieben. Je schärfer IS seine Politik zur Verwirklichung eines blutrünstigen Schariastaates akzentuiert, desto weniger wohl fühlen sich diese Verbündeten. Abu Bakr al-Bagdadi hat bereits im Namen des Kalifates den Treue-Eid und unbedingten Gehorsam sowie die Abgabe ihrer Waffen von ihnen gefordert.
Falls Maliki die nächste Regierung in Bagdad zu bilden vermag, wird dies einen Abfall der Verbündeten von IS unwahrscheinlich oder gar unmöglich machen. Wenn Maliki gehen sollte, wäre hingegen eine Versöhnung der nicht-islamistischen Sunniten mit der Regierung von Bagdad eher denkbar. Eine solche Versöhnung würde dem Kalifat den Boden unter den Füssen wegziehen.
* Partick Cockburn: The Jihadis Return. ISIS and the New Sunni Uprising, OR Books, New York and London 2014