Nimmt man das analoge und digitale Nachrichtenrauschen der letzten Wochen zum Massstab, wird China in nicht allzu ferner Zukunft nicht nur die Fussball-WM ausrichten, sondern sogar selbst Weltmeister werden. Da ist der Gedanke natürlich nicht mehr fern, dass auch die Fifa bald von einem Chinesen – einem waschechten Kommunisten, igitt! – präsidiert werden wird. Mit unserem Sepp als gut dotiertem Berater natürlich. Das alles mag, wer weiss das heute schon, einmal zutreffen. Zurzeit jedoch dümpelt der Fussball und zumal die chinesische Super League mit ihren sechzehn Teams noch träge dahin. Für Fernsehzuschauer in China sind die europäischen Ligen noch weit populärer und für Wetten einträglicher als das heimische Schaffen.
Mehr Fans im Joggeli als im Arbeiter-Stadion
Zwar hat sich der Sport von den Skandalen der Nuller-Jahre erholt. Damals wanderten der Präsident und Vizepräsident des Chinesischen Fussball-Verbandes sowie mehrere Spieler, Schiedsrichter und Trainer wegen Korruption, Spielmanipulationen und Wettskandalen ins Gefängnis. Heute ist der Fussball mehr oder weniger sauber. Die Fans allerdings sind noch nicht in Massen in den Stadien zurück. Als bekennender FCB-Fan (FC Basel und FC Beijing Guoan) muss Ihr Korrespondent feststellen, dass im Basler Joggeli noch immer mehr Zuschauer die Spiele ihrer Lieblinge bewundern als im Pekinger Arbeiter-Stadion. Insgesamt sind in China die Sportarten Ping-Pong und Basketball halt nach wie vor etwas beliebter als Fussball.
Das wird sich, wenn nicht alle Zeichen trügen, in absehbarer Zeit ändern. Das hat einen Grund. Xi Jinping nämlich ist nicht nur Staats-, Partei- und Militärchef, sondern auch bekennender Fussballfan. In der Schulzeit soll er nicht vor allem Ping-Pong gespielt sondern lieber nach dem runden Leder getreten haben. Selbst Xis Vor-vor-vor-vor-Gänger, der „Grosse Vorsitzende“ Mao Dsedong, soll der Legende nach als „überragender Torhüter“ gewirkt haben. Und überhaupt: den Europäern und zumal den Engländern sei chinesischerseits ein für allemal ins Stammbuch geschrieben, dass bereits vor über 2000 Jahren im Reich der Mitte mit einem Lederball gekickt worden ist und mithin also die Chinesen – wie so vieles, nicht wahr – auch den Fussball erfunden haben.
„Das Volk hat Sehnsucht nach Fussball“
Bereits 2011, ein Jahr vor Machtantritt, formulierte Parteicher Xi seine Fussball-Wünsche: „China soll sich für eine WM qualifizieren, China eine WM austragen und China soll eine WM gewinnen.“ Xi, der für die Nation den „Chinesischen Traum“ ökonomisch, sozial und kulturell formuliert hat, ist sich auch sicher, dass das „Volk Sehnsucht nach Fussball“ hat. Fussball war offenbar auch Thema auf höchster Parteiebene. Die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) jedenfalls forderte die „Wiederbelebung des Chinesischen Fussballs“. Vor einem Jahr dann gaben Partei und Regierung die entscheidende Losung aus: „Eine Wiedererstarkung des Fussballs ist entscheidend auf Chinas Weg zu einer grossen Sportnation.“
Den Worten folgten Taten. Rund 30‘000 Fussball-Internate mit mehreren Hundertausend Schülern wurden gegründet. Das Know-how wird mit hunderten von ausländischen Jugend-Trainern importiert. In Grund- und Mittelschulen steht neuerdings Fussball auf dem Lehrplan. Derzeit ist China noch immer eine Mini-Fussball-Macht und steht auf der Fifa-Weltrangliste im Augenblick auf Rang 82. Erst einmal konnte sich die Nationalmannschaft für eine WM qualifizieren. Es wurde 2002 zur noch heute tief empfundenen „Schmach“ als Gruppenletzter mit 0 Treffern und 9 Gegentoren. Und das ausgerechnet in den Nachbarstaaten Südkorea und Japan. Doch Japan und Südkorea haben es mit ausländischer Hilfe den Chinesen vorgemacht. Heute sind die asiatischen Konkurrenten den Chinesen weit voraus.
Know-How-Transfer
Aber China lässt sich, ganz Xi’s „Chinesischem Traum“ folgend, nicht beirren auf dem Weg zur Fussball-Weltmacht. Auf Xi‘s vielen Ausland-Reisen ist Fussball immer wieder ein Thema. Bei einem Staatsbesuch in Grossbritannien liess er sich beim Premier League Club Manchester City blicken. Kein Zufall, denn eine chinesische Investorengruppe mit dem staatlichen CITIC Capital und der privaten China Media Capital (CMC) stieg mit 377 Millionen Euro oder 13 Prozent der Anteile bei der von Abu Dhabi gesteuerten City Football Group (CFG) ein. Der CFG wiederum gehört Manchester City sowie die Clubs New York City und Melbourne City und teilweise der japanische Verein Yokohoma. Aber auch andere schwerreiche chinesische Unternehmer kaufen oder beteiligen sich an ausländischen Clubs in Spanien, Frankreich oder Grossbritannien.
Wie das CFG-Beispiel zeigt, sind Chinas Unternehmer und Investoren nicht nur weltweit in verschiedenen Industrie-, Agrar- und Dienstleistungsbereichen sehr aktiv. Es geht, wie seit Jahrzehnten jetzt eben auch im Fussball, um Know-How-Transfer. Kein Wunder, denn Chinas Sportindustrie verspricht enorme Chancen. Heute wird das Volumen auf rund 20 Milliarden US-Dollar geschätzt. In zehn Jahren sollen es dann nach amtlichen Schätzungen an die 700 Milliarden sein. Davon werden allein auf den Fussball rund 300 Milliarden Dollar entfallen. China also auch hier bald der weltweit grösste Markt.
„Beste Wachstumschancen“
„Der chinesische Fussball befindet sich in einer entscheidenden Entwicklungsphase mit besten Wachstumchancen,“ sagte Li Ruigang, der Vorsitzende der auch in der Unterhaltungsindustrie tätigen China Media Capital. Li hat sich vor zwei Jahren die Fernsehrechte der chinesischen Super League für acht Milliarden Yuan (umgerechnet 1,25 Mrd Schweizer Franken) bis 2020 gesichert. Zwanzig mal mehr als bis anhin, notabene. Derzeit sind die Clubs der Super League in einem wahren Kaufrausch. In der winterlichen Transfer-Periode werden die chinesischen Clubs mehr Geld auf als die wahrlich auch nicht gerade knausrige englische Premier League.
Neu ist, dass nicht mehr altgediente Kämpfer zum Ende ihrer Karriere für horrende Summen nach China ziehen. Vorbei die Zeiten, als alternde Stars wie Didier Drogba oder Nicolas Anelka sich im Reich der Mitte noch schnell eine goldene Nase verdienten. Anelka soll 300‘000 Dollar verdient haben. Pro Woche und netto. Doch heute ziehen Weltstars in vollem Saft nach China. Eben hat der 29 Jahre alte Kolumbianer Jackson Martinez für 42 Millionen Euro von Atletico Madrid zu Guangzhou Evergrande gewechselt. Er ist nicht der einzige. Der 26 Jahre alte brasilianische Stürmer Alex Teixeira wurde im Februar für eine Summe von 50 Millionen Euro zu Jiangsu Suning transferiert.
Partner Real Madrid
Auch ausländische Trainer sind hoch begehrt und werden mit Fantasiesummen angelockt. Der dem Immobilien-Tycoon Xu Jiayin gehörende Club Guangzhou Evergrande – Landesmeister seit 2011 – beispielshalber beschäftigte schon Weltmeister-Trainer Marcello Lippi oder den Fussballstar Fabio Cannavaro. Auch die Bayerische und Schweizer Trainer-Ikone Ottmar Hitzfeld soll laut „Blick“ von Guangzhou ein saftiges Angebot von 25 Millionen Euro netto erhalten haben. Hitzfeld lehnte laut dem Boulevard-Blatt ab. Seit einem Jahr trainiert Brasiliens Weltmeistercoach Luiz Felipe Solari die millionenschwere Guangzhou-Truppe, an der neuerdings auch Jack Ma, Gründer und Chef des weltweit grössten digitalen Warenhauses, Alibaba, beteiligt ist.
Dort im Süden hat der rührige Immobilien-Milliardär Li auch die grösste Fussballschule der Welt mit 2‘500 Schülern eröffnet. Partner ist Real Madrid. Von dort kommen Trainer, die den chinesischen Assistenz-Coaches vom kleinen Fussball-ABC bis hin zu elaborierten Fussball-Strategien alles mitgeben. Auch in den andern 15 Clubs der Super League ist reichlich ausländisches Personal auf dem Rasen, sei es als hochbezahlte Spieler, sei es als Trainer.
Aber auch in der zweiten chinesischen Liga, der China League One, wird geklotzt. Dort wurde im Winter für Transfers mehr ausgegeben als in der Bundesliga, der französischen Ligue 1 oder der spanischen La Liga. Auch die Nationalelf wurde immer wieder von Ausländern, mit wenig Erfolg, gecoacht. Immerhin wurde China vor sechs Jahren Ostasienmeister und im vergangenen Jahr Zweiter. Derzeit trainiert der Chinese und ehemalige Nationaltrainer und Spieler Gao Hongbo wieder die Nationalelf. Im nächsten Match gegen die Malediven, das versteht sich von selbst, ist im März ein Sieg ein absolutes Muss.
WM 2026?
Wird also China mit soviel Geld, sovielen Talenten und soviel Hoffnung eine Fussball-Supermacht? Cai Zhenhua, Präsident des Chinesischen Fussballverbandes, bleibt trotz Xi Jinpings „Chinesischem Traum“ bescheiden. Mit den richtigen Reformen, meint er, könne innerhalb der nächsten zwanzig Jahre die WM-Teilnahme bis in den Achtelsfinal erreicht und das Fifa-Weltranking auf mindestens Top-30 verbessert werden. Für viele steht aber bereits jetzt fest, das China die WM 2026 ausrichten wird. Das scheint so gut wie sicher, denn das wirtschaftliche Potential ist einfach zu verführerisch.
Bei der einzigen WM-Teilnahme Chinas 2002 hat Ihr Korrespondent trotz der „Schmach“ – wohl wegen der damaligen ökonomischen China-Euphorie – einen chinesischen WM-Titel bis 2018 prognostiziert. Noch einmal lasse ich mich auf die Äste hinaus und träume den „Chinesischen Traum“: spätestens, aber allerspätestens 2038 wird China im Final stehen und – jawoll! – die Schweiz mit 4:3 schlagen. Wetten dass?