«Das ist amtlich» ist ein schöner Satz. Selbst Beamte können irren, aber man kann davon ausgehen, dass man sich auf ihre Auskünfte verlassen kann. Die korrekte Zeitangabe, das richtige Vermessen eines Grundstücks, exakte Gewichts- und Inhaltsangaben, das alles gehört zu den Fundamenten des Funktionierens unserer Gesellschaft.
Genau wie der Libor, die Kennzahl, nach der sich alle Banken der Welt richten, wenn sie wissen wollen, zu welchen Zinsen sich Finanzhäuser gegenseitig Geld ohne Sicherheiten leihen. Im Gegensatz zu Meter, Kilo oder Liter handelt es sich hier aber nicht um eine fixe Masseinheit, sondern der Libor wird Tag für Tag neu festgelegt.
Massloses Vertrauen
Jeden Tag um punkt 11.00 Uhr Londoner Zeit telefonieren sich insgesamt 20 Grossbanken zusammen. Jede gibt den von ihr für einen Interbankkredit verlangten Zinssatz an. Der Witz dabei: Ihre Auskunft beruht auf ihrem Wort, nicht etwa auf Zahlen. Aufgeschlüsselt auf die wichtigsten Weltwährungen wie Dollar, Euro und Yen. Dann werden die obersten und untersten 4 Angaben gestrichen und aus den verbleibenden mit etwas Rechnerei der allgemeingültige Zinssatz, abhängig von verschiedenen Laufzeiten, bekanntgegeben: Heutiger Libor ist 2,5 Prozent für Tagesgeld, zum Beispiel.
Das ist dann amtlich. Das ist sozusagen der Urmeter, der zehmillionste Teil der Strecke vom Pol zum Äquator. Das Litermass der Finanzgeschäfte. Da niemand eigenhändig einen Meter nachmessen oder einen Würfel mit einer exakten Kantenlänge von 10 cm herstellen kann, vertrauen wir der amtlichen Festlegung, dem Eichmass. Und vertrauen wir der korrekten Verkündung des täglichen Libor. Im zweiten Fall ein schwerer Fehler.
Wozu der Beschiss?
Was hat eine Bank von der Manipulation des Libor? Ganz einfach: Wenn sie eine zu niedrige Zinszahl nennt, kann sie sich billiger Geld leihen. Da sind selbst Stellen weit hinter dem Komma entscheidend, wenn es um die virtuelle Welt von Derivatgeschäften von über 600 Billionen Dollar geht, die zu 90 Prozent mit geliehenem Geld betrieben werden. Und es hat die Nebenwirkung, dass Gläubiger, die auf dem Libor beruhend der Bank Geld geliehen haben, auch weniger Zinsen bekommen. Das Gleiche gilt natürlich auch für alle weiteren Kreditgeschäfte, deren Verzinsung auf dem Libor beruht. Deshalb ist der Libor sozusagen der Heilige Gral aller Geldgeschäfte, das Urmass. Aber das ist noch nicht die vollständige Vermessung des Abgrunds.
Organisiertes Verbrechen
Wenn ein einziger Eichmeister an seinen Gewichten gefeilt hat, dann kann er eher schnell durch einen Vergleich mit den Gewichten anderer Eichmeister des Betrugs überführt werden. Deshalb kann auch nicht eine einzige Bank, die aktuell im Feuer stehende Barclays, betrogen haben. Sondern es muss eine stillschweigende oder sogar offene Absprache unter allen, zumindest den meisten bestanden haben.
Selbst weitere Marktteilnehmer wie grosse Hedgefonds müssen gemerkt haben, dass der verkündete Libor mit dem Marktgeschehen bei Zinsen nicht wirklich übereinstimmen kann. Aber auch Profis schreckten vor der Vermutung zurück, dass da mit krimineller Energie und organisiert beschissen wird. Das wäre ja so, wie wenn der Urmeter in Paris insgeheim auf 99 cm abgefeilt worden wäre. Eigentlich unvorstellbar.
Risikoabwägung
Eine Bank kann Falschgeld herstellen. Geldwäscherei betreiben. Ihre Bilanz fälschen. Kundenguthaben verzocken. Überrissene Kommissionen verlangen. Letzteres tut sie sowieso, aber alles andere sind kriminelle und meistens früher oder später bei einer Kontrolle auffliegende Delikte. Also mit nicht viel weniger Risiko verbunden, als es ein Bankräuber in Kauf nimmt. Wenn ein Kunde 100 Franken am Bankschalter abheben will und eine 90-Frankennote plus einen Zehner bekommt, dann ist es ziemlich offensichtlich, dass hier etwas nicht stimmt. Aber der Libor, der Massstab für alles im Zinsgeschäft, funktioniert anders. Deshalb hat es auch so lange gedauert, bis die schon seit Jahren betriebene Manipulation aufflog.
Und jetzt?
Rücktritte, Strafen, bedauernde Geräusche, Verfehlungen von Einzelnen, Versagen der Kontrolle, nichts gewusst haben, grosses Geloben, dass das nie mehr passieren werde und könne, das wäre Business as usual. Das reicht in diesem Fall aber nicht. Wer sich dazu verabredet, das Eichmass für Zinsgeschäfte zu manipulieren, ist nicht nur ein Verbrecher. Er ist Mitglied des organisierten Verbrechens. Und diese Organisation muss zerschlagen werden.