Letzten Samstag demonstrierten in Warschau rund 50’000 Personen. Auch in andern Städten kam es zu Demonstrationen. „Bronimy konstytucje“, verteidigen wir die Verfassung oder „Warschau ist nicht Budapest“ skandierten Demonstranten während des Protestmarsches in der Hauptstadt.
Am Sonntag marschierten etwa gleich viele Anhänger der Regierungspartei PiS durch Warschau, in einem Meer von polnischen Nationalflaggen, anlässlich des „Marsches der Freiheit und der Solidarität.“
Umstrittener Geheimdienstchef wird Minister
Erst vor sieben Wochen hatte die rechtsnationale PiS, die Partei Recht und Gerechtigkeit, die stark polarisierten Parlamentswahlen gewonnen. Mit 37 Prozent der Stimmen erreichte sie die absolute Mehrheit (vgl. Journal21 vom 27. Oktober). Parteichef und Big Boss Jaroslaw Kaczynski versprach zwar die Opposition zu respektieren, fuhr aber schon von Beginn weg einen harten Konfrontationskurs.
Besonders umstritten waren Massnahmen und Gesetzesänderungen im Justizbereich. Für Irritation sorgte bereits die Begnadigung von Mariusz Kaminski, eines ehemaligen Geheimdienstchefs. Dieser war von einem Gericht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden und noch vor der Berufungsverhandlung von Präsident Duda begnadigt worden. Diese sehr unkonventionelle Massnahme des ebenfalls aus der PiS stammenden Präsidenten ermöglichte es, Kaminski zum Minister zu machen und zwar ausgerechnet mit der Funktion, die verschiedenen Geheimdienste zu koordinieren.
Verfassungskrise
Von einer Farce zu einer veritablen Verfassungskrise entwickelte sich die Neubestellung von fünf Richtern des Verfassungsgerichtes. Das Verfassungsgericht hat eine sehr wichtige Funktion, indem es neue Gesetze wegen Verfassungswidrigkeit ausser Kraft setzen kann. Seine Zusammensetzung ist deshalb von grosser Bedeutung
Das alte Parlament hatte im Eilverfahren noch fünf Richter gewählt, dabei zwei „auf Vorrat“. Deren Amtsantritt fiel nämlich erst in die Zeit des neuen Parlaments. Damit wollte sich die alte Mehrheit angesichts einer drohenden Niederlage absichern – eine auf wackligen Füssen stehende Massnahme. Es wurde denn auch Klage vor dem Verfassungsgericht eingereicht.
Das neue Parlament verabschiedete dann ein Gesetz, das die vorherige Wahl der Richter einfach annullierte und Neuwahlen ansetzte. Dies wurde von der Opposition umgehend vor dem Verfassungsgericht angefochten. Präsident Duda vereidigte in einer Nacht-und-Nebelaktion die neu gewählten Richter, die aber aufgrund der hängigen Klagen ihr Amt nicht antreten konnten.
Entscheid gegen Richterwahl auf Vorrat
Das Verfassungsgericht entschied nun in zwei Urteilen über die Klagen. Ohne hier auf die komplizierten Details einzugehen, war die Schlussfolgerung eindeutig. Die Wahl der drei Richter, deren Amtsantritt noch in die Laufzeit des alten Parlamentes fiel, wurde als rechtens anerkannt, die Wahl der andern zwei nicht.
Das Urteil tritt aber erst in Kraft, wenn es von der Regierung publiziert worden ist. Das wurde bisher nicht getan. Zudem wurde die Legitimität des Urteils in Zweifel gezogen, da es nur von fünf statt den statutarisch festgelegten neun Richtern gefällt worden sei. Die Richter können ihr Amt auch erst antreten, wenn sie vom Präsidenten vereidigt worden sind. Eine solche Absicht hat Präsident Duda aber nicht erkennen lassen.
Proteste gegen Politisierung der Justiz
Diese Verfassungskrise bildete den Hauptanlass der Protestdemonstrationen vom Samstag, bei denen alle Oppositionsparteien, von linken bis rechtsliberalen Gruppierungen, mitmarschiert sind. Der PiS wird vorgeworfen, die Verfassung auszuhebeln, da sie ein bindendes Urteil des Verfassungsgerichtes nicht anerkennen wolle. Dahinter wird ein strategisches Interesse gesehen, das Verfassungsgericht unter Kontrolle zu bringen.
Dass die PiS generell eine vermehrte Kontrolle der dritten Gewalt – der Justiz –anstrebt, darauf weisen eingeleitete Massnahmen wie auch Äusserungen von Kaczynski hin. Auch die vierte Gewalt, vor allem die öffentlichrechtlichen Medien, sind im Visier. Viele Chefs und kritische Journalisten dürften demnächst ihre Jobs verlieren.
Bröckelnde Zustimmung zu Kaczynski
Und wie reagiert die breite Bevölkerung auf den Kurs der neuen Machthaber und die verschärfte Polarisierung? Umfragen zeigen, dass die negativen Einschätzungen von Präsident und Regierungschefin deutlich zugenommen haben; sie übertreffen die positiven Bewertungen. Allerdings würde die PiS eine Parlamentswahl immer noch gewinnen, wenn auch nur noch mit gut 30 Prozent.
Wer glaubte, dass Kaczynski sich deshalb kompromissbereiter zeigen könnte, wurde schon am Sonntag eines Besseren belehrt. Am Marsch der Freiheit und der Solidarität bekundeten die Anhänger der PiS der Regierung und dem Präsidenten ihre Unterstützung. Kaczynski verschärfte in seiner Ansprache den Ton massiv. Er attackierte die Demonstranten vom Vortag scharf und bezeichnete auch das gegenwärtige Verfassungsgericht als Bastion des alten Regimes, dessen Zusammensetzung geändert werden müsse.
Kaczynski hat sich anscheinend entschieden, seine Ziele möglichst rasch und ohne Rücksicht auf Verluste zu realisieren. Wahrscheinlich rechnet er damit, dass die angekündigte Umsetzung von versprochenen sozialen Verbesserungen wie Kindergeld und höhere Steuerfreibeträge sich bald positiv für die PiS auswirken. Die Opposition ihrerseits wird den jetzigen Mobilisierungseffekt verstärken wollen. Polen geht unruhigen Zeiten entgegen.