„Wenn ich eine Geschichte erzähle, dann erzähle ich eine blinde Geschichte. Hätte ich sie verstanden, müsste ich sie nicht erzählen.“ Alexander Kluge sagte das kürzlich in einem Interview. Man kann es googeln und lesen. Einer der hellsichtigsten Literaten, Filmkünstler, Kulturunternehmer, wachgehalten von dem, was sich nicht einfach ergibt.
Hier wird von Büchern die Rede sein, auch vom Lesen in allerlei Formen. Der Versuch einer blinden Erzählung, in Mäandern. Nicht nur weil ich seit mehr als 50 Jahren jeden Tag mit einem Buch beginne, meist nicht mit dem vom Morgen davor; und die Schlaflosigkeiten mit einem anderen Buch abfedere. Eher: weil das Statistikprogramm meines Laptops neuerdings nachweist, dass ich mich in den Stunden dazwischen kaum mehr auf Papier bewege. Dabei weiterlesend.
Heute zum Beispiel den blinkfrischen Satz des New Yorker Journalistik-Professors und Medienkritikers Jay Rosen, mit dem er den Zeitungsverlagen seines Landes zu einem entschlossenen Weggang vom Print rät: „I know of no evidence to show that young people are picking up the print habit.“
The print habit. Immer endet für irgendeinen fortschwimmenden Menschenschwarm eine Epoche. „Die Stille der Welt vor Bach“: Lars Gustafssons genialer Gedichttitel, der einer Welt nachdachte, in der die Schlittschuhläufer noch keine Triosonate in D, noch kein Wohltemperiertes Klavier gehört hatten. Die Schlittschuhstille der Welt vor Bach. Derzeit sind‘s die papiergewohnten Leser, die das Ende einer Epoche beklagen.
Die Veränderung zieht am Teppich unter den Füßen des Buchblätters in mir, und wenn ich nicht aus Nabokovs Gedicht wüsste…
(Nabokov? Das war der Mann, den die Nobelpreis-Jury übersah; macht aber nichts. Und der als Sechzigjähriger seine Medienphobie so formulierte: „I pride myself on being a person with no public appeal. I have never been drunk in my life.“ Welches stille Training das „never been drunk“ grundierte, ließ sich bis vor kurzem nur in einem wenig bekannten Buch nachlesen. Geschrieben hat es Bernard Pivot, Literaturkritiker und der erste fernsehtüchtige Vertreter dieser (einst) hochangesehenen Profession in Frankreich.
Er blickte darin auf seine Sendereihe „Apostrophes“ zurück, die 15 Jahre lang Literatur und überhaupt das Vergnügen am Lesen und Denken vorgeführt hatte, mit Eleganz und Neugier und sehr weit ab von den deutsch-aggressiven Mustern, die später Reich-Ranicki und sein Quartett jenseits des Rheins etablierte.
In der Startphase war Pivot das Unerwartete gelungen: Vladimir Nabokov vor die Kamera zu bekommen. Die Sendung bleibt das einzige längere Filmdokument des Großmeisters, der 75-jährige Nabokov in seinem vorletzten Lebensjahr. Er hatte es der Welt damals gerade noch einmal mit einem komplexen Roman gezeigt („Ada oder Das Verlangen“).
Zu den Abmachungen vor der TV-Aufnahme gehörte – abgesehen von vorformulierten Fragen, abgelesenen Antworten und einem urinoir portatif –, dass Pivot hin und wieder die Frage zu stellen hatte: „Encore un peu de thé, Monsieur Nabokov?“. Dann goss er aus der Teekanne einen edlen Whisky nach. Seit ein paar Monaten lässt sich die Kurzfassung dieser Erinnerung auch bei youtube anschauen – Bernard Pivot, hèlas, ist nun seinerseits im Alter des interviewten Nabokov.)
Also. Wenn ich nicht aus einem Nabokov-Gedicht wüsste, dass die Rückseite des Teppichs wenigstens so rätselhaft schön sein kann wie die oberflächig sichtbaren Muster: dann könnte es zum Fürchten werden. Ein Szenario scheint auf: In wenigen Jahren werden Verleger, Buchhändler, Verlagsvertreter – ehrenwerte Berufe seit mehr als 100 Jahren –, zu einer geschützten Art gehören.
Die Verleger werden sich vielleicht eher um die Implementierung ihrer E-Books mit immer gewagteren Videos kümmern, aus den Tarzan-Romanen wird sich der Lendenschurzträger in 3D schwingen, von Jane ganz zu schweigen; die Buchhändler werden sich, in kleineren Läden, Zuverdienste in Papeterie oder Feinkost suchen; nur in größeren Städten werden sich interessante Läden halten, deren Sortimenter Lesestoff noch wirklich sortieren.
Lesestoff, der in kleinen Auflagen gedruckt wird, entsprechend teuer. Wer am papiergestützten Lesen festhält, Bücher anfassen will vor dem Kauf (hineinlesen könnte man auch im Netz…) wird dorthin fahren. Wie wir heute schon hunderte Kilometer zu reichhaltigen Haushaltswarengeschäften zurücklegen.
PS. Das Internet ist erst in seinen Kinderschuhen. Nabokovs Gedicht ist dort nicht zu finden. Nicht gratis. Es stand, als ich mir‘s abschrieb und natürlich von Hand, in einem entlegenen Zeitschriften-Aufsatz, und beginnt so: „In this life, rich in patterns (a life/ unrepeatable, since with a different/ cast, in a different manner, / in a new theater it will be given...“; die artistische Teppich-Metapher, in der die Muster des eigenen Lebens anschaulich werden, kommt ein paar Zeilen später. Dass man diesen Teppich so falten können müsste: „as to make the design of today coincide / with the past, with a former pattern“.
Das Design des neuen Lesens ist ohne die Passung mit dem bisherigen nicht recht zu bekommen.
Bücherborderline_02: Über einen Ball, der geschlagen ist, darfst du niemals nachgrübeln.