Ein Gutmensch ist heutzutage natürlich kein guter Mensch, wie man gutgläubig vielleicht hätte vermuten können. Ein Gutmensch ist – jedenfalls nach Meinung derjenigen, die solche Titel verteilen – so ziemlich das Gegenteil eines konstruktiven, vernünftigen, No-nonsens-Zeitgenossen. Ein Gutmensch ist, gemäss dem inzwischen gängig gewordenen Sprachgebrauch, ungefähr das Gleiche wie ein Dummkopf oder zumindest ein Naivling - einer, der es vielleicht gut meint, aber die wahren Zusammenhänge nicht durchschaut und deshalb mehr Unheil stiftet als dem wirklich Guten dient.
Der neudeutsche Gutmensch ist, um auf das Grundsätzliche zu kommen, ein aktuelles Beispiel von Wortverdrehung oder Umdeutung und zwar in negativem Sinne: Ein aus ursprünglich positiven Elementen geschaffener Begriff (guter Mensch) mutiert in der neuen Zusammensetzung zum Schimpfwort. In diesem Fall ist es das semantische Gegenstück zum Euphemismus, der einen negativen oder jedenfalls unbequemen Sachverhalt durch einen harmloseren, dezenteren Begriff verbrämt, vertuscht oder veredelt.
Für solche euphemistischen Wortverkleidungen gibt es wohl in allen Sprachen eine kaum überblickbare Fülle von Beispielen. Berühmt und berüchtigt geworden sind die sogenannten Kollateralschäden, von denen im neueren Jargon der amerikanischen Streitkräfte dann die Rede ist, wenn es um Zerstörungen und Opfer geht, die man eigentlich nicht hatte treffen wollen. Auch das „Verteidigungsministerium“ ist ja in vielen Fällen ein stark verdrehter Begriff. Früher waren die Grossmächte in diesem Punkt ehrlicher: Sie hatten ein „Kriegsministerium“.
Indessen wäre es abwegig, jede sprachlich verhüllende Wendung immer gleich als bösartiges, verlogenes oder jedenfalls manipulatorisches Tarnmanöver anzuprangern. Wenn es von zwei Menschen heisst, sie hätten zusammen geschlafen, weiss ja jeder geneigte Leser, dass es bei dieser Aussage nicht nur um den Sachverhalt des Schlafens geht. Doch oft liegt gerade der Reiz, die Phantasie anregende Spannung oder die Subtilität einer Formulierung darin, dass ihre Aussage mehrdeutig bleibt. Ebenso wird kein einigermassen einfühlsamer Mensch gleich wegen sprachlicher Irreführung protestieren, wenn er in einer Todesanzeige liest, dieser oder jener Zeitgenosse sei „von uns gegangen“ oder „sanft entschlafen“.
R.M.
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