Denn Moral ist immer doppelt. Indem sie das Gute preist, verdammt sie das Böse. Das Böse gehört demnach ausgerottet - ohne Skrupel und mit Stumpf und Stiel. Deswegen ist die Moral so gewalttätig. Der Soziologe Niklas Luhmann betonte, dass es zur Moral gehören könne, vor der Moral zu warnen. Wie soll das aber gehen? Das liefe auf den Satz hinaus: „Ich weiss zwar, was gut und richtig ist, aber bitte nehmt das nicht zu ernst, denn dann wird es gefährlich.“
Mit „Doppelmoral“ ist natürlich etwas anderes gemeint: Wasser predigen und Wein trinken. Man redet also anders, als man handelt. Und das ficht diejenigen, die diese Doppelmoral praktizieren, nicht an. Auf den ersten Blick scheint der Sachverhalt einfach zu sein. Man sagt „Frieden“, und es ist kein Frieden, wie schon in der Bibel lebhaft beklagt wird. Das ist ein Skandal!
Man kann also Luhmanns Warnung drehen und sagen: Es gehört zur Moral, die falsche Moral zu entlarven. Wohin das führt, erlebt man im zeitgenössischen Theater. Da kann es nicht derb und grob genug zugehen – Schläge, Blut und Exkremente -, um dem Publikum äusserst drastisch vor Augen zu führen, wie verlogen die bürgerlichen Welt ist: Hinter ihrer Fassade gibt es einen Knall nach dem anderen. Pfui! - aber es ist diejenige Welt, in der dasjenige Geld verdient wird, das man für diese Inszenierungen so dringend braucht.
Dass etwas mit der Moral nicht stimmt, wusste übrigens schon Gott. Deswegen hat er Adam und Eva aus dem Paradies gejagt, als die beiden von sich aus Gut und Böse unterscheiden wollten. Recht hatte der alte Herr. In ein Paradies passen einfach keine Moralisten.
Aber was machen wir nun? Wir könnten uns elegant aus der Affäre ziehen, indem wir sagen: Wir mögen die Moral so sehr, dass wir sie gleich doppelt haben wollen. - Aber das nimmt uns natürlich keiner ab. Denn das klingt nach doppeltem Boden. Also sagen wir: Die Moral ist gut, solange man sie nicht zu ernst nimmt, und die Doppelmoral dient der Höflichkeit. Und diejenigen, die das nicht glauben, schicken wir ins Theater.
(S.W.)