Wir haben uns an eine merkwürdige Brechung in unseren Wahrnehmungen gewöhnt. Wir wissen zwar, dass im Hintergrund Katastrophen lauern, aber auf den politischen Bühnen werden ganz andere Stücke gegeben. Die sind mehr oder weniger unterhaltsam. Und so schauen wir zu, obwohl wir ganz anderes einfordern müssten.
Vernunft! Welche Vernunft?
Italiens Berlusconi, Amerikas Finanzzwist, Europas Eurokrise: Die blosse Vernunft würde gebieten, das alberne Theater einzustellen und die Aufgaben zu lösen, deren Dringlichkeit von kaum jemandem ernsthaft bestritten wird. Aber was heisst hier Vernunft?
Die Vernunft ist derartig unter Feuer genommen worden, dass wir schon in dem Moment stutzen, wo sie – wie hier – eingefordert wird. Denn es klingt doch sehr naiv, gegen die täglich aufgeführten Soap-Operas der Politik eine Instanz anzurufen, die zwar erhaben ist, aber gerade deshalb nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Wer sich auf „die Vernunft“ beruft, riskiert, wie ein Irrer dazustehen.
Alles spielt
Jeder weiss es doch: Die Politik hat ihre eigenen Gesetze. Schon jeder Neuling auf der politischen Bühne erklärt, dass es doch im Wesentlichen um eine Sache gehe: Mehrheiten. Keine Mehrheit, keine Macht, also Ende der Veranstaltung. Deshalb gehe es immer nur darum, Spiele zu spielen, in denen man die Mehrheiten und damit die Macht gewinnt.
Und so wird überall gespielt: Mal so krass wie in Italien, mal so tragisch wie in Amerika, mal so laienhaft wie auf der europäischen Bühne. Und spielen nicht alle? Ist nicht das ganze Finanzsystem ein riesiges Spiel mit Wetten aller Art? Und die Medien? Man versteht sie doch erst dann richtig, wenn man auch sie als Spiel begreift: Spiele mit Themen, um Klickzahlen, Auflagen und Einschaltquoten zu stimulieren.
Berlusconi - eine Klasse für sich
Naiv ist, wer auf Vernunft baut das nicht wahrhaben will. Die Welt ist vollauf mit einer Unzahl von Spielen beschäftigt. Die Themen, die im Hintergrund unheilvoll lauern, müssen in eine Spielsprache übersetzt werden. Dann sind sie auf der Bühne – und der Sache nach vom Tisch.
Wer nicht der Naivität bezichtigt werden will, muss um diese Ecke denken. Ein Thema ist für sich genommen niemals ein Thema, so ernst es auch sei – es sei denn, es wird zum Teil eines Spiels. Wenn es das aber geschafft hat, gelten nicht die Gesetzmässigkeiten des Themas, sondern die desjenigen Spiels, zu dessen Teil es geworden ist. Man sagt „Umwelt“ und meint: Imagekampagnen, Wählerstimmen, stabile Gewinne.
Das Besondere an Berlusconi besteht darin, dass er für sein Spiel nicht einmal mehr Themen braucht – ausser sich selber. Damit ist er eine Klasse für sich. So wie er hat noch niemand das politische Spiel auf den Punkt gebracht. Man mag spekulieren, ob sein Gegenspieler Beppe Grillo im Grunde dasselbe Spiel spielt, nur andersherum. Die entscheidende Frage stellt sich aber anders: Sind wir Gefangene, geht heute nichts mehr ohne Spiele?
„informed childishness“
Das Verrückte daran: Wir können diese Frage ohne Umschweife bejahen und uns noch dabei zuschauen, wie wir trotz besserer Einsicht fasziniert den Spielen folgen. Wir wissen, dass wir von Spielern hinters Licht geführt werden, aber wir kommen nicht davon los. In der Medizin spricht man von „informed consent“, wenn der Patient in eine Operation samt ihrer möglichen Nebenwirkungen einwilligt. Im politischen Alltag müssten wir von „informed childishness“ sprechen.
Immer wieder gibt es Gruppen, die ihre Anliegen in der Politik ohne die Spiele der Etablierten durchsetzen wollen. Am prominentesten sind die Grünen, die vor dreissig Jahren in den Deutschen Bundestag einzogen. In dem Masse, wie sie zu spielen lernten, wurden sie „politikfähig“. Sie haben eben die „Spielregeln“ gelernt und übernommen. Das heisst aber auch: Sie haben den politischen Ernst der Spiele begriffen.
Kick und Nicht-Kick
Jeder, der sich darüber mokiert, sollte als erstes erklären, warum er so gerne den Spielen in den Medien zuschaut: vom Sport, über Quizsendungen bis zu Talkshows. Was haben diese drei doch grundverschiedene Genres gemeinsam? Es sind die Kicks, die diese Sendungen so unterhaltsam und damit attraktiv machen. Daher kommt auch die Politik nicht mehr ohne Kicks aus. Doch Ihre Themen lassen sich nicht nach Kick und Nicht-Kick sortieren. Und schon gar nicht lassen sich nach diesem Kriterium Lösungen finden. Hier sind andere Qualitäten gefordert. Zum Beispiel Selbstüberwindung.
Im Grunde wissen das die Zuschauer, also wir alle. Aber wir nehmen es hin. Und so liegt der eigentliche Skandal in der Wiederkehr der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Wie in den Zeiten des Aberglaubens, auf die Immanuel Kant mit diesem Ausdruck anspielte, befinden wir uns heute mit den vielen Spielen in einer gedanklichen Welt, die weit unterhalb unserer intellektuellen Möglichkeiten liegt. Daher ist die Unmündigkeit selbstverschuldet. Wie aber finden wir, wie Kant damals die „Aufklärung“ definierte, „den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“?
Unvollständigkeit
Wir finden ihn, indem wir unsere intellektuellen Möglichkeiten nutzen. Die Spiele selbst bieten dazu gute Ansätze. So fällt auf, dass in jedem Spiel das ausgeblendet wird, was zum Spiel nicht passt. Wird das Spiel „Wirtschaftsankurbelung“ gespielt, bleibt die Schuldenproblematik draussen. Wird das Spiel „Steuern und Schulden Senken“ gespielt, bleiben Rezession und soziale Verelendung unberücksichtigt. Anderswo geht es ähnlich: Wird das Spiel „Wirtschaftsboom dank Fracking“ gespielt, denken die Spieler nicht an den Klimawandel.
Diese Mängel sind bei allen Spielen ganz offensichtlich. Sie nicht wahrzunehmen, beleidigt die eigene Intelligenz. Daher gehört es zur Selbstachtung, die abgeschatteten Themen anzusprechen und einzufordern. Aus der Aufklärung ist bekannt, dass ihre Wege weit sind und Geduld erfordern. Patentlösungen gibt es nicht, und wo welche versucht wurden, kam Schlimmes heraus. Für den Anfang genügt es, seine Schlüsse zu ziehen. Dann wird man weitersehen.