Gegen 30'000 Leute nahmen am Begräbnis des am 12. Februar 1834 in Berlin gestorbenen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher teil. Der zuletzt als Professor und Universitätsprediger tätige Theologe war nicht einfach nur berühmt und populär; er war eine Schlüsselfigur seiner Zeit.
1800: Berlin erwacht
Die preussische Hauptstadt hatte nach dem Tiefpunkt der Niederlage gegen Napoleon im frühen 19. Jahrhundert eine rasante Entwicklung genommen. Berlin setzte dazu an, eine europäische Metropole zu werden. Bei diesem Aufstieg spielte die 1810 auf Initiative Wilhelm von Humboldts eröffnete Berliner Universität eine Schlüsselrolle. Urheber ihres modernen Wissenschafts- und Lehrkonzepts war niemand anderes als Friedrich Schleiermacher (1768-1834). Dieser gilt als überragende Gestalt in dem an gelehrten Theologen durchaus nicht armen 19. Jahrhundert. Ausserdem trat er als Philosoph und Philologe hervor, war ein bedeutender Reformer der Pädagogik und bahnte eine Union von lutherischer und reformierter Kirche an – damals ein grosser Schritt.
Zum blühenden Geistesleben der Stadt trugen literarische Salons wie derjenige der Henriette Julie Herz (1764-1847) entscheidend bei. Hier verkehrten die Brüder Alexander und Wilhelm von Humboldt, Clemens Brentano, Jean Paul, Rahel Levin (später Varnhagen), Friedrich Schlegel und dessen enger Freund Friedrich Schleiermacher. Solche Salons führten aufklärerische Traditionen fort, namentlich die der initiativen und moderierenden Rolle gebildeter Frauen. Zumindest ansatzweise gelang hier die Überwindung von Geschlechter-, Standes- und Religionsschranken. Inhaltlich ging es um Neuheiten von Bühne und Literatur, um Klatsch und Moden – und in allem um die gemeinsame Herausbildung eines Zeitgefühls, einer existenziellen Gestimmtheit.
Die war insgesamt hell getönt. Man wusste sich aufgeklärt, getragen von klassischen Idealen, beflügelt von aufkeimendem Fortschrittsglauben. Der revolutionär-frühromantische Geist, noch unbeleckt von rückwärtsgewandter Sehnsucht und dunklem Raunen, öffnete sich mal heiteren, mal wilden Gefühlen und brachte die in der Weimarer Klassik zur Gravitas gereiften Verhältnisse zum Tanzen. Auch dies gehörte zu Schleiermachers Welt, obwohl er als kleiner und verwachsener Mann nicht zum Tänzer prädestiniert war.
Übereinstimmung von Lehre und Leben
Schleiermacher war im Berlin des frühen 19. Jahrhunderts eine Persönlichkeit von Rang und Bedeutung. Doch kann dies seinen beim Begräbnis deutlich gewordenen Heroen- oder Popstar-Status erklären? Wissenschaftliche Leistungen sind nicht der Stoff, an dem sich derartige öffentliche Erregungen entzünden. Das Ausmass an Anteilnahme, das sich hier überraschend zeigte, war offensichtlich ein spontaner Ausdruck von Verehrung und Zuneigung, die sehr viele Menschen diesem Mann entgegenbrachten.
Schleiermacher hat als Theologe, Literat und Prediger nicht bloss, wie man so sagt, «den Nerv der Zeit getroffen», sondern seinen Zeitgenossen eine für Glaubensdinge völlig neuartige Sprache gegeben und die Tür aufgestossen zu einem religiösen Denken, das in seiner Freiheit und Radikalität nicht hinter den Philosophien seiner Zeit zurückstand. Zugleich war er ein frommer Christ, gefragter Prediger und einfühlsamer Seelsorger. Die menschliche Glaubwürdigkeit, mit der er intellektuelle Schärfe und christliche Milde in seiner Person vereinte, hat ihm weit über Berlin und auch über seine Lebenszeit hinaus enorme Strahlkraft verliehen.
«Sinn und Geschmack fürs Unendliche»
Aufgegangen ist sein Stern mit einem publizistischen Donnerschlag. 1799 erschien zunächst anonym «Über die Religion – Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern». Das schmale Buch mit den fünf weit ausgreifenden Reden war eine recht anspruchsvolle Kost, was aber der enormen Wirkung nicht im Weg stand. Glühende Anhänger, aber auch erbitterte Gegner erkannten sogleich die revolutionäre Energie dieses Denkens. Es löste die Religion heraus aus den ihr traditionellerweise zugewiesenen Positionen in Metaphysik und Moral. Stattdessen postuliert Schleiermacher: «Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.»
Der an Kant geschulte Denker nimmt mit dem Begriff des Unendlichen Bezug auf die Antinomien der reinen Vernunft. Der menschliche Geist kann nicht anders, als das Unendliche und Ewige denken zu wollen – und ist zugleich gezwungen, diese Gedanken zu verwerfen. Der Widerspruch ist nicht auflösbar, er ist für menschliches Denken und Erkennen konstitutiv.
Was in Kants Erkenntniskritik den antinomischen Charakter der Vernunft offenlegt – das Unendliche – , das wird bei Schleiermacher zum Referenzpunkt des Denkens über Religion. Das denknotwendige Unendliche, das sich philosophisch nicht dingfest machen lässt, ist Inhalt des Religiösen, welches sich ihm in Gefühl und Anschauung nähert. Wie nun Schleiermacher diese Annäherung sprachlich und begrifflich entfaltet, das ist von exemplarischer denkerischer Originalität und unwiderstehlichem literarischem Reiz.
Diskursiver, glanzvoller Text
Schleiermacher wendet sich an die Verächter der Religion, also an einen Mainstream des damaligen (und heutigen) aufgeklärten Publikums. Dieser Leserschaft will er zeigen, dass sie von Religion ein Zerrbild haben. Statt die Auseinandersetzung an falschen Fronten und auf ungenügenden Niveaus zu führen, sollen sie mit einem zeitgemässen, der Sache adäquaten Begriff von Religion bekanntgemacht werden. Dem dient die Form der Rede, in der erwartbare Einwände diskutiert und zu befürchtende Missverständnisse berichtigt werden.
Der Text evoziert die Atmosphäre des gelehrten Privatissimums. Es heisst denn auch, der Plan zu diesem Buch sei aus Gesprächen Schleiermachers mit Henriette Herz hervorgegangen. Die literarische Fiktion des Gesprächs geht so weit, dass der Autor nach seitenlanger streng methodischer Behandlung eines gängigen, aber untauglichen Religionsbegriffs die Bemerkungen einschiebt: «Das war es, was ich wollte. Ihr habt mich mit eurem gemeinen Begriff gestört; er ist abgetan, hoffe ich, unterbrecht mich nun nicht weiter.»
Schleiermachers Reden hätten nicht derart eingeschlagen, wären sie nicht eben auch ein mitreissender, glanzvoller Text. Die folgende Passage ist ein Beispiel dafür, und sie lässt auch ahnen, weshalb das Buch sowohl Begeisterung wie erbitterte Gegnerschaft ausgelöst hat.
«Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, dass ein grosser Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so grossen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.»
Weitreichende Wirkung bis heute
Nicht nur der kühne religionsphilosophische Zugriff, sondern ebenso sehr der jugendliche Drive und die denkerische Frechheit waren es, die Schleiermachers Abhandlung weit über akademische Zirkel und kirchliche Studierstuben hinaus Wirksamkeit verschafften. Theologien vor und neben ihm hatten auf der einen Seite in staubtrockener Orthodoxie die Errungenschaften der Reformation zu Tode geritten und auf der anderen durch Züchtung pietistischer Frömmigkeitskulturen sich selbst hermetisch ausgegrenzt.
Ganz anders Schleiermachers Reden! Hier trat unvermittelt eine selbstbewusste Offenheit auf den Plan, die sich sogleich ins Gespräch der geistigen Champions League ihrer Zeit einklinkte. Als Manifest einer freien Religiosität mit starken christlichen Wurzeln wirkten die «Reden» über die Kreise derjenigen hinaus, welche den anspruchsvollen Text überhaupt zu lesen vermochten. Schleiermacher lebte in durchaus frühromantischer Manier in Übereinstimmung mit seinem Denken: radikal, riskant, mitunter rücksichtslos gegen sich selbst, aber nicht gegen andere. Als Botschafter seiner selbst war er offenkundig höchst wirkungsvoll.
Bearbeitungen von 1806 und 1821
Wie so häufig bei glühenden Romantikern, nahm auch bei Schleiermacher mit zunehmendem Alter, erhöhtem Status und gewachsener Verantwortung die Hitze etwas ab. Seine Entwicklung lässt sich sehr schön ablesen an den Bearbeitungen, die er dem Text von 1799 in den Jahren 1806 und 1821 angedeihen liess. Niklaus Peter und seine Mitherausgeber haben dies in einer neu erschienenen synpotischen Aufbereitung der drei Versionen akribisch dargestellt und einleuchtend kommentiert.
Ein Beispiel aus der oben zitierten Passage muss hier genügen. Heisst es in der Urfassung von 1799 «Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.», so lautet der Satz in der Version von 1806 wie folgt: «Nicht jeder hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern nur der, welcher sie lebendig und unmittelbar versteht und ihrer daher auch am leichtesten entbehren könnte.»
Der genial überraschende Schluss der ersten Fassung ist gestrichen, die Aussage ist im ganzen abgeschwächt, eingebettet in einen etwas belanglosen religiösen Common Sense und gestützt mit ergänzenden Argumenten. Doch selbst in dieser entschärften Form verschwindet der herausfordernde Ton nicht völlig.
Schleiermacher bemüht sich 1806 offensichtlich, die seit 1799 laut gewordenen Proteste und Kritiken aufzufangen, indem er den Text weniger angriffig und angreifbar macht. In der dritten Bearbeitung von 1821 fügt er jeder der fünf Reden Erläuterungen an, die sich hauptsächlich an eine akademische Leserschaft richten. Im Ganzen hat der Bearbeitungsprozess den literarischen Solitär zu einem – selbstverständlich noch immer sehr bedeutenden – Stück theologischer Fachliteratur gemacht. Wer jedoch wissen möchte, was da am Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin so eingeschlagen hat, lese unbedingt die Fassung von 1799.
Schleiermachers Modernität
Inhaltlich ist Schleiermachers Verständnis von Religion höchst modern geblieben, zunächst in kritischer Hinsicht. Sein klares Nein gegen die Verzweckung der Religion als Garantin moralischer Standards hat noch in aktuellen Debatten Bestand. Gleiches gilt nicht weniger für seine Weigerung, dem Religiösen als Teil einer metaphysischen Möblierung gängiger Weltbilder einen vermeintlich festen Platz im geistigen Haushalt der Menschen sichern zu wollen.
Positiv wirkt Schleiermachers Religionsbegriff nach aufgrund seiner Sicht von Religion als eigenständiges Phänomen. Sein Konzept wurde so zum Ausgangspunkt der nachfolgend entstandenen Religionswissenschaft. Zudem machte es den Blick frei für ästhetische Dimensionen des Religiösen (Gefühl, Anschauung). Und noch längst nicht ausgeschöpft sind die Möglichkeiten eines kritisch-offenen Verhältnisses zu den Religionen, wie Schleiermacher sie in der fünften Rede in visionärer Weise entworfen hat.
Schleiermachers Reden gelten als einer der bedeutsamsten theologischen Texte der Geschichte. Als Manifest aufgeklärten religiösen Denkens haben sie den Ruhm ihres Verfassers begründet. Schleiermachers Rang als Theologe und Religionsphilosoph stellt ihn in eine Reihe mit Augustin, Thomas von Aquin und Luther. Nach ihm kommt einzig Karl Barth noch für diese Gewichtsklasse in Frage. Was diese Denker auszeichnet, ist der Umstand, dass theologische Arbeit bei ihnen zusammenging mit Wendungen der allgemeinen Geistesgeschichte.
Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1799 / 1806/ 1821, hg. Von Niklaus Peter, Frank Bestebreurtje und Anna Büsching, TVZ Verlag 2012, 275 S., Fr. 42.--