Rousseau ist beides: Lump und Blumenkind. Doch der Genfer ist tausendmal mehr. Nur wenige haben die Welt so umgekrempelt wie er. Er ist einer der phantastischsten Geister der letzten Jahrhunderte.
Jene, die sein tricentenaire jetzt am lautesten feiern, hätten eigentlich keinen Grund dazu. Sie, die Franzosen und Genfer, haben ihn davongejagt, zur Verhaftung ausgeschrieben, seine Bücher verbrannt, ihn als „wildes Tier“ bezeichnet,als „Antichrist“ und „Bordellbesucher".
"Meine Geburt war mein erstes Unglück"
Rousseaus Leben ist voll von Leiden und Verzweiflung, voller Rückschläge und Ränkespiele. Und vor allem: voller Frauen. „Mein erhitztes Blut füllte unaufhörlich mein Hirn mit Mädchen und Frauen“. Er kann kaum an einer Frau vorbeigehen, ohne sich zu verlieben. Doch: „Meine Liebschaften gingen nie glücklich aus“.
„Meine Geburt war mein erstes Unglück“, schreibt Rousseau in seiner Lebensbeichte, den „Confessions“. „Ich wurde schwächlich geboren und kostete meiner Mutter das Leben“. Sie, Suzanne, stirbt wenige Tage nach seiner Geburt im Kindbett.
Das Geburtsthaus liegt in der Genfer Altstadt. Sein Vater ist Uhrmacher. Jean-Jacques hat kaum eine Schule und nie eine Universität besucht. Er, einer der grössten Intellektuellen des 18. Jahrhunderts, wird später sagen: „Ich kann nur allein lernen“. Schon früh beginnt er zu lesen. Er verschlingt alles, was ihm in die Hände kommt. Mit sieben Jahren liest er Plutarch und Homer.
Mit zehn Jahren hat er sein erstes sexuelles Erlebnis. Er wird zu einem Pfarrer am Fuss des Genfer Hausberges, des Salève, in Obhut gegeben. Die Schwester des Pfarrers, die 30-jährige Gabrielle, wendet die üblichen Erziehungsmethoden an: sie schlägt ihn auf den Hintern. Das erregt ihn. Gabrielle merkt es – und schlägt ihn nicht mehr.
Er küsst den Boden, auf dem sie geht
Bei einem Gerichtsschreiber soll er eine Lehre machen. Er taugt nichts. Er wird als Esel bezeichnet und davongejagt. Jetzt macht er eine Lehre als Graveur, als Kunststecher. Sein Meister, Abel Ducommun, ist jung und brutal. Oft schlägt er seinen Lehrling halbtot. Das wird Folgen haben.
Genf ist damals eine unabhängige Republik mit 18‘000 Einwohnern. Am 14. März 1728 geschieht es: Jean-Jacques spielt mit Freunden vor der Stadtmauer. Als sie am Abend zurückkehren wollen, ist es zu spät. „Ich eile aus Leibeskräften, atemlos und ganz in Schweiss gebadet.“ Doch die Zugbrücke hebt sich, das Stadttor schliesst. Er fürchtet eine schlimme Strafe seines brutalen Meisters. Rousseau beschliesst an diesem Abend, Genf zu verlassen.
Er, der Protestant, wandert ins katholische Hochsavoyen, ins Städtchen Annecy. Dort wird der bald 16-Jährige von der 29-jährigen Madame de Warens aufgenommen. Sie leitet ein Heim für Calvinisten, die zum Katholizismus zurückkehren wollen. Rousseau spricht von „einem anmutigen Gesicht, schönen blauen Augen voller Sanftmut, einem blendenden Teint und einem reizenden Busen“. Sie ist die erste Passion in seinem Leben. Er küsst den Boden, auf dem sie schreitet; er küsst das Bett, in dem sie gelegen hat. Später wird sie seine Geliebte. Madame de Warens ist seine eigentliche Erzieherin. Sie hat wesentlichen Anteil, dass er das wird, was er werden wird.
Die reichen Marquisen umhätscheln ihn
Sie schickt ihn nach Turin, wo er zum Katholizismus übertritt – eher widerwillig. In Turin zeigt er auch seine exhibitionistische Seite. Er sucht dunkle Alleen und abgelegene Orte auf und entblösst sich vor Frauen und Mädchen. Später bezeichnet er das als „dummes Vergnügen … mehr lächerlich als verführerisch“.
Er kehrt nach Chambéry zurück, wo Madame de Warens inzwischen wohnt und einen andern Liebhaber hat. Rousseau verlässt sie, wird ein Jahr lang Erzieher in Lyon, wo ihn seine zwei anvertrauten Zöglinge auslachen. Dann trifft er in Paris ein.
Madame de Warens hat nicht nur seine literarische Ader gefördert, sondern vor allem seine musikalische. Jetzt hat Rousseau eine Notenschrift erfunden, die einzig auf Zahlen beruht. Diese Erfindung hat zwar wenig Erfolg, doch sie öffnet ihm die Türen zu den Pariser Salons. Die reichen Marquisen und Prinzessinnen umhätscheln ihn.
Durch solche Beziehungen erhält er die Stelle des Sekretärs des französischen Gesandten in Venedig. Bald schon zerstreiten sich die beiden. Dann ereignet sich die Szene, die noch heute jedes Genfer Schulkind kennt. Rousseau besucht die „brünette, reizende und lebhafte Zulietta“, eine Prostituierte. Doch er versagt. Sie sagt: „Zanetto, lascia le donne e studia la matematica“ (Zanetto“ heisst *Hänschen und Jean-Jacques heisst Hans-Jakob). Rousseau kommentiert später: „Nein, die Natur hat mich nicht für den Genuss geschaffen“.
Die fünf Kinder ins Findelhaus
Er ist jetzt 33. Zurück in Paris lernt er in einem hässlichen Gasthof beim Jardin de Luxembourg die neun Jahre jüngere Thérèse Levasseur (Le Vasseur) kennen. Sie ist hier das Mädchen für alles. Sie kann weder richtig lesen noch schreiben. Er bezeichnet sie als „hübsch und liebeswürdig“. Seine adligen Mäzeninnen sind anderer Meinung. Madame d’Epinay nennt sie „eifersüchtig, dumm, verlogen und geschwätzig“. Rousseau spricht stets sehr zärtlich von ihr. Bis zu seinem Tod bleiben sie zusammen – wenn sie auch 25 Jahre warten muss, bis er sie heiratet.
Mit ihr zeugt er fünf Kinder. Und keines will er behalten. Eine Hebamme muss sie im Findelhaus abgeben, anonym. Thérèse ist zunächst dagegen, dass man ihre Kinder der öffentlichen Erziehung übergibt. Doch Rousseaus Druck ist zu gross. Er erhält Unterstützung von der Mutter von Thérèse. Sie fürchtet, ihr Leben einschränken zu müssen, wenn kleine Kinder da sind.
Zwar ist es damals üblich, dass man Kinder im Findelhaus abgibt. Schon Platon habe gesagt, argumentiert Rousseau, die Eltern sollten ihre Kinder abgeben und der Staat sollte sie erziehen. „Wie könnte ich den Beruf eines Schriftstellers ausüben, wenn häusliche Sorgen und lärmende Kinder mir die Ruhe des Geistes raubten?“
In seinen „Confessions“ schreibt er, er habe seine Kinder abgegeben, „weil ich sie selbst nicht erziehen konnte“. Er hätte sie zwar reichen Frauen übergeben können. Doch „ich bin sicher, dass man sie dann später dazu getrieben hätte, ihre Eltern zu hassen. … Es ist hundert Mal besser, dass sie sie nicht gekannt haben“.
"Lebhafte Reue
Schon bald hagelt es heftige Kritik an seinem Verhalten. Der grosse Menschenfreund will nichts von seinen Kindern wissen. Dies hat seine Reputation bis heute arg beschädigt. Rousseau versucht sich mühsam zu rechtfertigen. Voltaire, sein Erzfeind, verspottet ihn öffentlich. Manche Freunde wenden sich von ihm ab. Immer wieder wird in den Pariser Salons über die Sache getuschelt. „Wie kann einer so gescheit über Erziehung schreiben, wenn er seine eigenen Kinder im Stich lässt“. So lautet noch heute der gängige Vorwurf. Später liest ihm dann auch noch Jean-Paul Sartre die Leviten.
Immer wieder kommt er in seinen „Confessions“ auf das Thema zu sprechen, das ihn wegen der heftigen Attacken mehr und mehr belastet. Zwar versucht er sich bis zuletzt zu rechtfertigen, doch auch Selbstkritik wird hörbar. „Der Entschluss hat mein Herz nicht immer ruhig gelassen. Ich fühlte, dass ich Pflichten vernachlässigt habe, von denen ich mich nicht entbinden konnte“. Er spricht von lebhafter Reue. Und in den "Confessions" gesteht er: "Ich bin ein Prinz, aber auch ein Schuft". Etwas ist ihm zugute zu halten: Er hat das Thema nie verheimlicht und immer in aller Offenheit darüber gesprochen.
Eine seiner adligen Mäzeninnen, die Marschallin de Luxembourg, will schliesslich sein ältestes Kind aus dem Findelhaus holen. Sie beauftragt damit ihren Kammerdiener. Doch es finden sich keine Spuren mehr.
Plötzlich - wie vom Blitz getroffen - ändert sich im Oktober 1749 sein Leben. Er ist jetzt 37 Jahre alt. Er marschiert auf der Landstrasse von Paris nach Vincennes. Dort will er seinen Freund Diderot im Gefängnis besuchen. Während des Gehens liest er die Zeitung, den Mercure de France. Er sieht eine Annonce: Die Akademie zu Dijon hat einen Wettbewerb ausgeschrieben. Sie ruft dazu auf, eine Abhandlung einzureichen, und zwar zum Thema: „Der Einfluss der Wissenschaften und der Künste auf die Sitten“.
Zwölf Jahre, die die Welt verändern
Theatralisch beschreibt Rousseau in seinen „Bekenntnissen“ später, wie er plötzlich erleuchtet wird. Eine halbe Stunde liegt er in Ekstase und in einer „an Wahnsinn grenzenden Erregung“ unter einem Baum. Er bebt und weint. Jetzt weiss er: Ich bin Schriftsteller.
Jetzt beginnt eine zwölfjährige Schaffensperiode, die die Welt verändert. In dem ersten „Discours“, den er in Dijon einreicht und der dann prämiert wird, geisselt er Professoren, Lehrer, Schriftsteller und Verleger. Sie seien eitle hohle Phrasendrescher. Die Wissenschaften und die Künste würden mehr Schaden als Gutes anrichten. Luxus und Zügellosigkeit seien vom Teufel.
Das Werk wird schnell gedruckt, der Erfolg ist gigantisch. Doch der Rummel um ihn lastet auf seiner Gesundheit. Rousseau hat Zeit seines Lebens Harndrang wegen einer verkrümmten Harnröhre. Lang Zeit trägt er einen Katheder. Er fühlt sich schwach und dem Tode nahe. Ein Leben lang ist er ein Hypochonder.
Er flieht aus der Grossstadt nach Passy. Dort schreibt er in drei Wochen das Singspiel „Der Dorfwahrsager“, ein ländliches Boulevardstück. König Louis XV und seine Pompadour sind begeistert. Sie laden ihn zur Audienz. Doch Rousseau geht nicht hin. Er fürchtet, während der Audienz in die Hosen zu machen.
Der "erste Sozialist"
Jetzt schreibt er einen zweiten „Discours“. Da ist es, das Blumenkind. Vor allem stempelt ihn der Text zum „ersten Sozialisten“. „Es verstösst gegen das Gesetz der Natur“, schreibt Rousseau, „dass eine Handvoll Menschen im Überfluss erstickt, während es der ausgehungerten Menge am Notwendigsten fehlt.“ Was von den Besitzenden und den Aristokraten gar nicht geschätzt wird: Rousseau wendet sich gegen das Eigentum.
Er fordert ein Leben im Zustand der Natur, so wie die Wilden lebten. Im Naturzustand sei der Mensch gut, erst die Gesellschaft mache ihn böse. Voltaire schüttelte den Kopf: Beim Lesen des Buches bekomme man Lust „auf allen Vieren zu gehen“.
Die Kritik an diesem zweiten „Discours“ erträgt er schlecht. Er will Paris verlassen. Die reiche Madame d’Epinay offeriert ihm das Gartenhaus ihres Schlosses in Montmorency, nördlich von Paris. Hier streift er durch Wälder und Wiesen. Er spricht von der „betäubenden Ekstase der Natur“. Für ihn ist die Natur Kirche – Rousseau, der Pantheist. Er verachtet die Intellektuellen, er lobt jene, die ein einfaches Leben führen.
Jetzt geschieht es, und von jetzt an geht es bergab. Er verliebt sich unsterblich in die bald 30-jährige Gräfin d‘Houdetot. Er ist „liebestrunken“, erfüllt „von köstlichem Schauer“. „Wie viele Tränen vergoss ich auf ihrem Schoss“. Doch sie will nicht und „zog mich in den Abgrund.
Da wird geseufzt und gestöhnt
Sie wird zur Hauptfigur seines erfolgreichstes Werkes: „Julie oder Die neue Héloise“, ein schmachtender Liebesroman. Da wird geseufzt und gestöhnt. „Das Feuer vom Himmel ist nicht verzehrender als deine Küsse“. All seine Gefühle, die er für Madame d’Houdetot empfindet, legt er in diesen Roman. Das Buch ist der grösste Bestseller des 18. Jahrhunderts. Es ist damals nicht üblich, dass Männer so schreiben.
„Die neue Héloise“ ist auch eine feurige Hymne an die Natur, an den Genfersee, an die Waadtländer und die Walliser Bergwelt. Das Buch war der Startschuss für den Tourismus in der Schweiz und hat Dutzende Dichter und Maler in unser Land gebracht. Rousseau sollte posthum zum Ehrenpräsidenten von Tourismus Schweiz ernannt werden.
In Montmorency schreibt Rousseau jetzt jenes Werk, das die Erziehungsmethoden des 18. Jahrhunderts völlig über den Haufen wirft. „Emile“ gilt als Grundlage moderner Erziehung. Rousseau ruft den Eltern zu: Erzieht die Kinder nicht, sie müssen sich selbst erziehen. Er wendet sich gegen Zwang und Befehl. Durch eigene Erfahrung müssten die Kinder lernen, was gut und nützlich ist. „Tut alles, indem ihr nichts tut“. Lasst die Kinder spielen, belehrt sie nicht immer.
"Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten"
1761 schreibt Rousseau den „Contract social“, den Gesellschaftsvertrag. „Der Mensch ist frei geboren“, heisst es zu Beginn, „und überall liegt er in Ketten“. Der Contract gilt als Wegbereiter der direkten Demokratie. Während der Französischen Revolution wird er zur Bibel von Robespierre. Rousseau fordert die Abschaffung der Monarchie in Frankreich und der Aristokratie in Genf.
Das Werk wird überall verboten. In Paris und Genf wird Rousseau zur Verhaftung ausgeschrieben. Sowohl „Emile“ als auch der „Gesellschaftsvertrag“ werden verbrannt. Die Mächtigen schätzen es gar nicht, dass da einer verlangt, das Volk müsse entscheiden und nicht sie. Und die Geistlichen protestieren, weil Rousseau verlangt, die Kirche solle sich aus der Erziehung der Kinder heraushalten.
27 Jahre vor der Französischen Revolution ist Rousseau fast ein Hellseher. „Wir nähern uns dem Zustand der Krise und dem Jahrhundert der Revolution“, schreibt er. „Der Grosse wird klein, der Reiche wird arm, der Monarch wird Untertan“.
Verbittert
Rousseau muss aus Paris fliehen. Er findet in Môtiers im preussischen Fürstentum Neuenburg Zuflucht. Gut drei Jahre bleibt er dort. Dann wiegelt auch dort die Kirche die Bevölkerung auf. Er und Thérèse fliehen auf die Petersinsel im Bielersee. Doch auch dort dürfen sie nicht bleiben. Via England kehren sie nach Frankreich zurück, irren jahrelang im Land herum und heiraten schliesslich.
Zurück in Paris richten sich Jean-Jacques und Thérèse in einer Wohnung im 4. Stock in der rue Platrière ein. Immer mehr verfällt er Wahnvorstellungen. Er ist verbittert.
Am 2. Juni 1778 stirbt er in Ermenonville bei Paris. Dort wird er in einem mit Blei ausgekleideten Eichensarg auf einer kleinen Insel bestattet. 1794 überführen ihn die Revolutionäre ins Pantheon.
Ich war in Genf ein Atheist, ein Rasender, ein wildes Tier"
„Warum gibt es in Genf keinen Boulevard Rousseau, keine Avenue Rousseau?“ fragt ein amerikanischer Tourist. „Warum gibt es keinen Rousseau-Platz? Schämt sich die Stadt ihres grossen Philosophen?“
Genf hätte Grund, sich zu schämen. Die Stadt behandelte ihren „citoyen de Genève“ wie einen Schurken. Sie jagte ihn davon und verbrannte seine Bücher. Jetzt, zu seinem 300. Geburtstag, versucht sie die Wiedergutmachung.
Die kleine Rousseau-Insel am Ausfluss der Rhône aus dem Genfersee ist geschmackvoll umgestaltet. Pappeln sind gepflanzt. Sie sollen an das Inselchen in Ermenonville bei Paris erinnern – dort wurde Rousseau zuerst begraben. In Rousseaus Geburtshaus in der Genfer Altstadt ist eine ausgezeichnete audiovisuelle Show aufgebaut. Hier werden die Höhepunkte aus seinem Leben präsentiert.
Überall finden Vorträge statt, Konferenzen, Ausstellungen und Musikdarbietungen: Im Musée d’art et d’histoire, im Musée Rath, im Maison Tavel, in der Bibliothek, im Théâtre Cité bleue, im botanischen Garten, im Musée d’éthnographie, in der Ecole Internationale, in der Fondation Bodmer, im Musée Voltaire. Am Geburtstag selbst, Ende Juni, ist die Bevölkerung zu einem Republikanischen Bankett eingeladen. Rousseau partout, Rousseau überall.
Die Ayatollahs von Genf
Kann dieser Festkalender gut machen, was Genf dem oft verzweifelten Jean-Jacques angetan hat? Alles begann am 28. Juni 1712. Jean-Jacques wird in der Grand-Rue 44 in der Genfer Oberstadt geboren. Seite Mutter stirbt zehn Tage später im Kindbett.
Genf brüstet sich damals, eine unabhängige Republik zu sein. In Wirklichkeit liegt die Macht in den Händen weniger Familien. Genf ist im 18. Jahrhundert eine Oligarchie. Die Reichen schanzen sich die wichtigen politischen Posten zu. Und Genf ist damals auch das protestantische Rom. Die Sittenpolizei, eine Art protestantische Ayatollahs, nimmt der Bevölkerung jede Lebensfreude.
Rousseaus Vater wird verwarnt, weil er einigen Engländerinnen Tanzunterricht gibt. Die Mutter, Tochter eines Pfarrers, hatte in jungen Jahren ein geheimes Verhältnis zu Monsieur Vincent Sarasin, einem verheirateten Patrizier. Bestraft wird nicht er, sondern sie. Später wird sie von der Polizei „geächtet“ und „gemassregelt“, weil sie – als Mann verkleidet – auf der Place Molard einigen Gauklern zusieht.
Vergöttert wie ein Königskind
Die Zeiten, in die Rousseau hineingeboren wird, sind unruhig. Es gärt in der Stadt. Die arme Bevölkerung beginnt, sich gegen die Reichen aufzulehnen. Ein Anführer der Aufständischen wird hingerichtet. Viele haben den Glauben an die Zukunft verloren. Rousseaus Vater, ein Uhrmacher aus dem Mittelstand, kann sich die teure Bleibe in der Oberstadt nicht mehr leisten. Er zieht in das Kleinleute-Viertel St. Gérvais auf der andern Seite der Rhône.
Hier, in der rue de Coutence 28, quartiert er sich mit Jean-Jacques und dessen sieben Jahre älterem Bruder François ein. Heute ist das Haus längst abgerissen. An seiner Stelle steht ein riesiges Warenhaus. An dessen Eingang erinnert eine Schrift an die Rousseaus. Der ältere Bruder wird vernachlässigt. „Er riss mehrmals aus“, schreibt Rousseau, „ich sah ihn fast nie. Er flüchtete und verschwand. Einige Zeit später erfuhr man, dass er in Deutschland war. Er schrieb nicht ein einziges Mal.“
“Ich hielt mich für einen Griechen, einen Römer“
Der Vater vergöttert Jean-Jacques. „Königskinder“, schreibt Jean-Jacques in seinen „Bekenntnissen“, „können nicht mit grösserem Eifer behütet werden als ich es während meinen ersten Jahren wurde.“
Die Lesewut von Vater und Sohn ist legendär. Zuerst machen sie sich an die Bibliothek der verstorbenen Mutter heran. Als diese Bücher ausgelesen sind, geht es an die Büchersammlung von Jean-Jacques Grossvater. In frühen Jahren liest er „Die Geschichte des Kaiserreichs“ von Le Sueur, die „Lebensbeschreibungen berühmter Männer“ von Plutarch, die „Die Geschichte der Republik Venedig“, die „Metamorphosen" Ovids. Auch Molière und La Bruyère stehen auf dem Programm. „Ich hielt mich für einen Griechen oder einen Römer“, schreibt Rousseau später. Oft lesen Jean-Jacques und sein Vater zusammen bis in den Morgen. „Als wir die Schwalben hörten, sagte mein Vater beschämt: Gehen wir zu Bett.“
Jean-Jacques hat Zeit seines Lebens kaum eine Schule besucht. Nie sah er eine Universität von innen. Er, der einer der grössten Intellektuellen werden sollte, hat sich alles selbst angelesen.
Eines Tages hat der Vater Streit mit einem Hauptmann der französischen Armee. Er soll ihn verletzt haben. Der Vater flüchtet nach Nyon am Genfersee. Jean-Jacques macht eine Lehre als Kunststecher. Während der Arbeit liest er. Sein brutaler Meister wirft die Bücher zum Fenster hinaus oder verbrennt sie.
“Politiker und Gelehrte – diese Phrasendrescher“
Jean-Jacques ist noch nicht 16, als er Genf verlässt. Jetzt zieht er nach Savoyen, tritt in Turin zum Katholizismus über und landet schliesslich in Paris. Er ist schon 38 Jahre alt, als seine schriftstellerische und philosophische Tätigkeit beginnt.
Er schreibt seine zwei „Discours“, in denen er den Mächtigen und den Reichen in die Parade fährt. Doch auch Politiker, Schriftsteller und Gelehrte, „diese Phrasendrescher“, kriegen ihr Fell ab. Rousseau wettert gegen Luxus und Zügellosigkeit. Hier postuliert er sein „Zurück zur Natur“. Der Mensch solle wieder ursprünglich leben, „wie die Wilden“. Die Obrigkeit in Paris spitzt zwar die Ohren, doch man lässt ihn noch gewähren.
Rousseau hat Genf nicht vergessen. Mit 42 Jahren kehrt er mit seiner Lebensgefährtin Thérèse in seine Heimatstadt zurück. Jetzt will er immer da bleiben. „Die Stadt erscheint mir als eine der anmutigsten der Welt. Ihre Bürger sind die weisesten und glücklichsten Menschen, die ich kenne.“ Mit Thérèse unternimmt er eine Bootsfahrt und spaziert am See. Nun tritt er auch wieder zum Protestantismus über. Die Katholiken hatte er eigentlich nie gemocht. Er wird wieder eingebürgert und zahlt dafür 18 Gulden.
“Ich hasse Sie“
Doch nach vier Monaten ist er schon wieder in Paris. Das hat zwei Gründe. Erstens sind seine beiden „Discours“ von den Genfer Behörden und ihren reichen Vertretern kalt aufgenommen worden. Zweitens hat da jemand die Stadt betreten, den Rousseau gar nicht mag. Und dieser jemand ist nicht irgendwer.
Voltaire, der geniale Aufklärer, hat nur Häme für Rousseau und seine „Discours“ übrig. „Noch nie hat jemand so viel Geist verschwendet wie Sie, in dem Bestreben, uns wieder zu Bestien zu machen“, schreibt Voltaire in einem Brief an seinen ewigen Gegenspieler. „Man bekommt wieder richtig Lust auf allen Vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest. Doch ich habe diese Gewohnheit schon seit 60 Jahren aufgegeben.“ Rousseau antwortet später: „Ich hasse Sie.“
Voltaire, der mit seinen frechen und sarkastischen Schriften die Obrigkeit in Paris provoziert, ist ständig auf der Flucht. Deshalb hat er im Dörfchen Ferney vor den Toren von Genf (heute: Ferney-Voltaire) ein Schloss gekauft. So könnte er – sollten die Häscher des Königs kommen – schnell ins unabhängige Genf flüchten. Nicht genug: Voltaire kauft auch in Genf selbst eine Villa: „Les délices“. Dort ist heute das Musée Voltaire eingerichtet.
“Er ist wahnsinnig“
Rousseau und Voltaire könnten verschiedener nicht sein. Auf der einen Seite Rousseau, der schüchterne, unbeholfene, stets kränkelnde Genfer. Auf der andern Seite der reiche Pariser, der zynische Lebemann, der nur in den besten Salons verkehrt, ein rhetorisches Genie, mit allen Wassern gewaschen.
Rousseau postuliert: Verzichtet auf Eigentum und Luxus, findet zurück zur Natur, vergesst die Wissenschaften und hört auf zu lesen. Voltaire hingegen ist überzeugt, dass Bildung und Erziehung die Menschheit weiterentwickeln werden.
Ausgerechnet dieser Voltaire lässt sich jetzt in Genf nieder. Rousseau fürchtet, ihm zu begegnen. Er hat Angst, einem rhetorischen Schlagabtausch nicht gewachsen zu sein. Rousseau selbst charakterisiert sich einmal so: „Eine vorübersummende Fliege macht mir Angst. Wenn es zu handeln gilt, weiss ich nicht, was tun. Wenn ich reden muss, weiss ich nicht was. Wenn man mich anblickt, verliere ich die Fassung.“
Als Voltaire in Genf auch noch ein Theater einrichten will, geht das dem sittenstrengen Rousseau zu weit. Er, der zwar selber Theaterstücke schrieb, kämpft gegen oberflächliche weltliche Lustbarkeiten. Voltaires Urteil ist knapp: „Er ist völlig wahnsinnig.“
“Die Monarchie wird stürzen, das Volk wird herrschen“
Um Voltaire zu entgehen, kehrt Rousseau nach Paris zurück. Jetzt schreibt er den Erziehungsroman „Emile“, in dem er die Kirche attackiert. Sie solle sich gefälligst aus der Erziehung heraushalten. Noch schlimmer: In seinem „Contract social“ plädiert er für die Abschaffung von Monarchie und Aristokratie. Das Volk müsse die Macht ausüben. „Die Monarchie wird stürzen, das Volk wird herrschen“.
Das lässt man sich am Hof und in der feinen Gesellschaft nicht bieten. Rousseaus Bücher werden in Paris verbrannt. Er wird zur Verhaftung ausgeschrieben. Ein Parlamentarier sagt: „Es genügt nicht, die Bücher zu verbrennen, man muss den Autor verbrennen.“ Rousseau flüchtet, doch nach Genf kann er nicht.
Verfolgt in Paris, Genf und Bern
Auch in seiner Heimatstadt werden seine Bücher verbrannt. Aufgewiegelt von den Franzosen, drohen ihm die Genfer Behörden mit Verhaftung. „Ich war in Genf ein Gottloser, Atheist, ein Verrückter, ein Rasender, ein wildes Tier, ein Wolf.“ Auch die Berner verfolgen ihn. Rousseau flüchtet ins preussische Fürstentum Neuenburg und auf die Petersinsel.
Wutentbrannt schreibt er jetzt dem Genfer Bürgermeister. Er lehnt für immer sein Genfer Bürgerrecht ab. Er habe sich bemüht, dem Genfer Namen Ehre zu machen. Die Haltung der Regierung sei verfassungswidrig, ebenso das Verbrennen seiner Bücher.
„Genfer, wenn das eure Freiheit ist, dann weine ich ihr wenig nach“, schreibt er am 22. Juni 1762. "Aber ich werde unsere Mitbürger immer lieben, auch wenn sie undankbar sind." Und: "Obwohl mein Vaterland mir nun fremd wird, bleibe ich ihm durch ein zärtliches Andenken verbunden und werde seine Schmähungen vergessen." Später schreibt er. „Ich will nicht mehr von Genf und von dem, was dort geschieht, reden hören.“
Nach Genf ist das „enfant du pays“ nie mehr zurückgekehrt. Rousseau stirbt 66-jährig. Ein Trost bleibt ihm. Er überlebt seinen Widersacher Voltaire um 33 Tage. Beide sterben zur gleichen Zeit, morgens um elf.
Die Revolutionäre der Französischen Revolution haben die Särge ihrer beiden Idole ins Pantheon überführt. Und, ziemlich geschmacklos: Die Sarkophage der beiden Verfeindeten wurden direkt nebeneinander aufgestellt – als ob sie so versöhnt würden.
Leere Gräber?
Da gibt es noch eine wüste Geschichte. Ob sie stimmt, ist unklar. In einer Mai-Nacht im Jahr 1814 sollen ultrakonservative Monarchisten ins Pantheon eingedrungen sein. Sie sollen die Sarkophage geöffnet und die Gebeine von Rousseau und Voltaire gestohlen und an unbekanntem Ort vergraben haben. Seither seien sie verschwunden und die Sarkophage leer.
Wurden diese Gerüchte von den Behörden gezielt gestreut, um während der Restaurationszeit feurige Rousseau- und Voltaire-Anhänger vom Besuch der Gräber abzuhalten? Jedenfalls wurden die Särge am 18. Dezember 1897 geöffnet. Der Chemiker Bertholet stellte klipp und klar fest: "Die Überreste der beiden sind vorhanden." Rousseaus sei gut erhalten, sogar mit seinen Haaren. Doch die Zweifel blieben bis heute bestehen.
Nicht nur die Revolutionäre waren geschmacklos, als sie die Sarkophage der beiden nebeneinander aufstellten.
Auch in Genf hat man nicht immer eine glückliche Hand. Mit der Organisation des Rousseau-Jubeljahres wurde – ausgerechnet – der Direktor des Musée Voltaire betraut. Ein Voltaire-Spezialist huldigt dem von Voltaire verhöhnten Genfer.
Was würden Rousseau und Voltaire zu dieser Zwangsversöhnung sagen? Sie würden sich schütteln vor Wut. Sie würden sich in ihren Sarkophagen umdrehen. Sofern sie dort sind.
"Mein erhitztes Blut verlangt nach Frauen"
“Wie viele berauschende Tränen vergoss ich auf ihren Schoss.“ Rousseaus Memoiren sind voll von Frauengeschichten. Er konnte kaum einer Frau begegnen, ohne sich zu verlieben. Ohne Frauen wäre er wohl nie der grosse Philosoph geworden. Doch: „Meine Liebschaften gingen nie glücklich aus.“
Rousseau bezeichnet sich als schüchtern und unbeholfen. Beim Anblick von Frauen zittert er oft. Doch gerade seine Schüchternheit und sein angenehmes Äusseres machen ihn bei Frauen beliebt – auch bei den reichen Marquisen in den Pariser Salons. Er verehrt dominante Frauen. Das beginnt schon früh.
Mit elf Jahren leistet er sich zwei Freundinnen - parallel. Die eine heisst Mademoiselle Vulson. Sie ist doppelt so alt wie er. Er ist rasend verliebt. Sie spielt mit ihm, er leidet. „Ich empfand Qualen“, schreibt er in den Confessions, den Bekenntnissen, „aber diese Qualen waren mir lieb“.
Zur gleichen Zeit verliebt er sich in „das kleine Fräulein Goton“. Sie spielt die Schulmeisterin. „Ohne schön zu sein, hatte sie ein Gesicht, das man schwer vergessen kann.“ Sie erniedrigt ihn, was ihn berauscht. „Bei Fräulein Goton war ich eifersüchtig wie ein Türke, ein Rasender, ein Tiger gewesen… All meine Sinne waren verwirrt … Wenn Fräulein Goton mir befohlen hätte, mich in die Flammen zu stürzen, so hätte ich ihr augenblicklich gehorcht.“
Und: „Zu Füssen einer herrischen Geliebten zu liegen, ihren Befehlen zu gehorchen, sie um Verzeihung bitten zu müssen, waren für mich süsseste Freuden.“
Er küsst die Vorhänge ihres Schlafzimmers
Die dominante Françoise-Louise de Warens ist seine erste grosse Passion. In Evian hatte die 29-jährige protestantische Waadtländerin den katholischen König Vittorio Amadeus getroffen. Er ist Herzog von Savoyen und König von Sizilien und Sardinien. Er drängte Frau Warens dazu, in Annecy in Hochsavoyen ein Heim für junge Menschen zu eröffnen. Dort sollen junge Leute aufgenommen werden, die vom Calvinismus, „dieser Schreckenslehre“, wieder zum Katholizismus übertreten. Madame de Warens geht auf den Vorschlag ein. Sie erhält dafür vom König eine Pension von 15‘000 piemontesischen Livres. Natürlich tritt sie zum Katholizismus über.
Nachdem Rousseau mit knapp 16 Jahren aus Genf geflüchtet war, weiss er nicht wohin. Ein katholischer Pfarrer in Confignon bei Genf schickt ihn zu Frau Warens. Rousseau fürchtet, eine alte Betschwester zu finden.
Er trifft sie am Palmsonntag 1728. Er ist überwältigt. Den Ort, an dem er sie erstmals sieht, „habe ich seither oft mit meinen Tränen benetzt und meinen Küssen bedeckt“. Er küsst die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer. Er schwärmt von ihren blauen Augen, ihren „aschblonden Haaren, ihrem engelsgleichen Lächeln und ihrem wohlgeformten Busen“. „Diese Epoche meines Lebens hat über meinen Charakter entschieden.“
Sie ist Lehrerin, Erzieherin, Mutter und Geliebte
Sie ist einerseits Mutter-Ersatz. Jean-Jacques, dessen Mutter zehn Tage nach seiner Geburt starb, nennt seine Angebetete „Mama“. Doch sie ist viel mehr. Sie fördert seine musikalische Begabung. Sie lehrt ihn, sich auszudrücken, richtig zu schreiben, sie feilt an seiner Sprache. Immer wieder muss er ihr vorlesen. Später führt sie ihn in die Geheimnisse der Liebe ein. Doch zuerst ermuntert sie ihn, nach Turin zu gehen, wo er zum Katholizismus übertritt.
Dort, in einem Kloster, trifft er ein hübsches Mädchen „mit schelmischen Augen“. Die Klosterbrüder verhindern eine Annäherung. Er trifft auch Frau Basile, eine Kaufmannsfrau, bei der er kurz arbeitet. Sie ist „von entzückendem Aussehen“. Bei ihr habe er „die süssesten und reinsten Freuden der Liebe in ihren Anfängen gekostet“. Er geht in ihr Zimmer, sie befiehlt ihm, sich niederzuknien. So hat er „einen so süssen Augenblick genossen wie nie in meinem Leben“. Der Ehemann wirft ihn raus.
In Turin entblösst er sich auch vor Frauen, was seit je ein Heer von Psychoanalytikern auf den Plan ruft. Auch seine Lebensbeichte, die „Bekenntnisse“, die er mit 50 Jahren schrieb, hat viel Exhibitionistisches an sich.
Beim Grafen von Favria wird er als Bediensteter angestellt. Dort trifft er Fräulein von Breil „mit jenem sanften Gesichtsausdruck der Blondinen, dem mein Herz nie widerstanden hat“. Er soll ihr bei Tisch Wasser einschenken, er zittert so, dass er sie begiesst.
“Leb wohl, Fieber, Hysterie, Herzpolyp“
Jetzt verlässt er Turin und kehrt zu Madame de Warens zurück. Zwar hat sie schon einen Liebhaber, doch als der stirbt, tritt Rousseau an seine Stelle. Er, der sie während Jahren so zügellos begehrte, sagt jetzt plötzlich: „Ich glaubte, ich beginge Blutschändung.“
Rousseau und seine „Mama“ ziehen von Annecy südwärts nach Chambéry in Savoyen. Dort beziehen sie das romantische Landhaus „Les Charmettes“. Frau de Warens eröffnet hier eine „königliche Pflanzschule“.
Jean-Jacques, stets kränkelnd, ist auch ein Hypochonder. Er glaubt einen Polypen am Herzen zu haben und will in Montpellier einen Spezialisten aufsuchen. Auf dem Weg dorthin trifft er „die liebenswürdige Frau von Larnage“. Sie verführt ihn bei einem Spaziergang vor der Stadtmauer von Valence – und weg ist der Polyp. Rousseau kommentiert: „Lebe wohl Fieber, Hysterie, Herzpolyp“. „Ich kann sagen, dass ich es Frau von Larnage verdanke, nicht gestorben zu sein, ohne den Sinnengenuss kennengelernt zu haben.“ Ein weiteres Rendez-vous mit ihr lässt er platzen. Er hat Angst, sich in ihre Tochter zu verlieben.
“Meine Gewohnheit, mich zu verlieben“
Zurück bei Madame de Warens muss er feststellen, dass sie einen neuen Liebhaber hat, einen Schweizer namens Rudolf Winzenried. Er ist laut Rousseau „eitel, dumm, unwissend und frech“ – mit einem Gesicht „das ebenso gewöhnlich war wie sein Geist“. Die drei arrangieren sich, doch dann zieht Rousseau nach Lyon.
Dort wird er in einem reichen Haus Erzieher von zwei Knaben. Der Hausherr ist selten anwesend, dafür die Hausherrin. Zwar ist sie nicht schön, doch „das hinderte mich nicht daran, mich meiner Gewohnheit nach in sie zu verlieben“.
In Lyon hat er auch „zärtliche Erinnerungen an Fräulein Suzanne Serre“. „Mein Herz war von ihr lebhaft ergriffen - avec raison, car c’était une charmante fille“. Sie lässt in seinem Herzen „des souvenirs bien tendres“. Sie möchte ihn heiraten, doch er findet, sie seien sich allzu ähnlich.
Mit 30 Jahren trifft er in Paris ein. Inzwischen hat er eine neue Notenschrift erfunden, die auf Zahlen beruht. Das macht ihn bekannt. Ein Jesuit führt ihn bei der wohlhabenden Madame de Besenval und ihrer Tochter ein. Jetzt machen ihm reiche Marquisen und Prinzessinnen den Hof.
Madame d’Epinay, die Mäzenin
Er trifft die schöne Madame Dupin, die ihn beim Ankleiden empfängt und ihn provoziert. „Ihre Arme waren nackt, ihr Haar aufgelöst“. Jean-Jacques kann sich kaum halten und schreibt ihr einen Liebesbrief. Sie weist ihn ab.
Jetzt tritt Madame d’Epinay auf. Sie hat grossen Einfluss auf seine Entwicklung. Sie, die Gattin eines reichen Finanzmanns. Rousseau und sie tauschen Küsse aus und halten Händchen. Doch zwei Dinge stossen ihn ab: Sie hat flache Brüste – und wahrscheinlich hat sie die Syphilis. Immer wieder lässt sie ihrem Jean-Jacques grössere Geldmengen zukommen.
Reiche Marquisen sind es auch, die Rousseau eine Stelle als Sekretär des französischen Gesandten in Venedig vermitteln. Zwar schreibt er immer wieder, er sei nie zu Prostituierten gegangen. In Venedig jedoch hat er mindestens drei solche Frauen aufgesucht. Die eine, bei der er dann versagt, beschreibt er mit Superlativen. „Nie bot sich dem Herzen und den Sinnen eines Sterblichen eine so süsse Freude.“ Nach dem Besuch einer andern zitterte er vor Angst, eine Geschlechtskrankheit eingefangen zu haben.
Da er und sein Freund es nicht immer bei andern Frauen versuchen wollen, beschliessen sie, gemeinsam „ein Mädchen zu nehmen und es zu besitzen“. Eine Mutter verkaufte dazu ihre zwölfjährige Tochter. Doch dann schämen sie sich.
“Ich werde dich nie heiraten“
Zurück in Paris steigt er im hässlichen Gasthof Saint-Quentin nahe der Sorbonne ab. Dort trifft er „ein schüchternes, lebhaftes Mädchen mit einem sanften Blick“. Er ist 33, sie ist 22. Sie kann weder richtig lesen noch schreiben und ist im Hotel das Mädchen für alles. Sie, Thérèse Levasseur, wird bis zu seinem Lebensende an seiner Seite ausharren. Er nennt sie „meine Haushälterin“. Sie erträgt seine Launen und Depressionen. Sie begleitet ihn auf seiner jahrelangen Flucht. Sie erträgt seine richtigen und eingebildeten Krankheiten, seine Passion für andere Frauen – und vor allem erträgt sie, dass sie ihre fünf Kinder, die sie mit ihm hat, in ein Findelhaus geben muss.
Er sagt ihr gleich zu Beginn: „Ich werde dich nie verlassen, aber ich werde dich auch nie heiraten.“ 25 Jahre später heiraten sie dann doch; er ist dann 58 und ein verbitterter Mann.
Liebestrunken - die Frau, die sein Leben ändert
Madame d’Epinay hat ihm und Thérèse die Ermitage am Rande ihres Schlossparks in Montmorency westlich von Paris zur Verfügung gestellt. Er hasst die Stadt und will in Ruhe leben. Mit der Ruhe ist es bald vorbei. Madame d’Epinay hat eine Schwägerin. Sie wird Rousseaus Leben verändern.
Gräfin d’Houdetot ist verheiratet und ist die Mätresse des Marquis de Saint-Lambert, einem adligen Dichter. Eines Tages kreuzt sie zu Pferd und in Männerkleidung in der Ermitage auf. Sie „näherte sich den Dreissigern“, schreibt Rousseau. „Sie war keineswegs schön. Ihr Gesicht war durch Blatternarben entstellt, ihr Teint war unrein.“ Sie hatte Haare bis zu den Kniekehlen.
Sie treffen sich im Mondschein, sie küssen und umarmen sich. Rousseau ist liebestrunken. „Wie viele berauschende Tränen vergoss ich auf ihren Schoss? Diesmal war es Liebe, Liebe in ihrer ganzen Kraft und in ihrer ganzen Raserei. Mein ganzer Körper war in einem ungeheuren Aufruhr.“ Rousseau spricht von „Schauer, Herzklopfen, krampfhaften Bewegungen, der Ohnmacht des Herzens“.
Im Abgrund
Doch sie will nicht, und Rousseau bricht zusammen. „Das sind die schönsten Tage gewesen, die mir auf der Erde beschieden waren.“ Jetzt beginnt das lange Leiden, „von dem ich mich jahrelang nicht erholen konnte“. „Comtesse d’Houdetot“, schreibt er viele Jahre später, „hat mich in den Abgrund gezogen, in dem ich mich heute befinde.“
All seine Gefühle für die Angebetete legt er in den Roman „Julie oder Die neue Héloise“, den er jetzt schreibt. Da geht es dramatisch und leidenschaftlich zu. Da wird geschmachtet. „Das Blut verbrennt“ vor Begierde. „Deine Küsse, süsse Schauer.“ „Das Feuer vom Himmel ist nicht verzehrender als deine Küsse.“ Der Liebesroman war der grösste Bestseller des 18. Jahrhunderts. „Ich sah meine Julie in Frau d’Houdetot.“ Wahrscheinlich ist es umgekehrt.
Zur Verhaftung ausgeschrieben
Mit Thérèse beendet er jetzt die sexuelle Beziehung. Er ist der Ansicht, dass Sex ungesund für seinen schon kranken Unterleib ist. Er pflegt die Selbstbefriedigung. In Montmorency schreibt Rousseau nicht nur „Die neue Héloise“, sondern auch den Erziehungsroman „Emile“ und den „Gesellschaftsvertrag“. Darin greift er die Kirche und die Obrigkeit an. Er wird zur Verhaftung ausgeschrieben und muss fliehen.
Wieder ist es eine Frau, die ihm weiterhilft. Madame Boy de la Tour ist eine reiche Verehrerin seiner Schriften. Sie stellt ihm eine Einsiedelei in Môtiers im Neuenburger Val de Travers zur Verfügung. Hier fühlen sich Rousseau und Thérèse sicher, denn Neuenburg ist damals ein preussisches Fürstentum. Nach fast drei Jahren müssen sie auch von dort fliehen. Via Petersinsel gelangen sie nach Strassburg.
Und schon stehen zwei adlige Frauen bereit und helfen dem Verzweifelten weiter. Die Comtesse de Boufflers und die Marquise de Verdelin verschaffen ihm einen Pass.
“So musste ich es tun“ – keine Liebeserklärung
Er verbringt einige Zeit in England, kehrt dann nach Frankreich zurück und reist kreuz und quer durchs Land.
Dann endlich, 1768, heiratet er in Bourgoin südöstlich von Lyon seine „Haushälterin“. Mit seinen 56 Jahren ist er ein alter Mann. Sie ist 47. Doch es ist keine Liebesheirat. Rousseau sieht sich am Ende seiner Kräfte und will vor seinem Tod noch etwas regeln. Er würde es sich vorwerfen, wenn er diese „Pflicht“ nicht erfüllt hätte. „25 Jahre der Anhänglichkeit, Dienste aller Art und der Pflege während meiner Krankheiten, ihre Freundschaft für mich würden nicht genügt haben, mich zu diesem Schritt zu veranlassen. Aber dann sah ich, dass sie entschlossen ist, mein Geschick bis ans Ende zu teilen und mir überall hin in meiner bedrängten Lage zu folgen. So musste ich es tun.“ Nicht gerade eine Liebeserklärung.
“In Paris erreicht man nichts – ausser durch Frauen“
Jean-Jacques und Thérèse wohnen jetzt in Paris. Seine Hände beginnen zu zittern. Mit dem Kopieren von Noten kann er kein Geld mehr verdienen. So wird das Leben in Paris zu teuer für sie.
Auch am Schluss seines Lebens ist es eine Adlige, die ihm hilft: Die Marquise de Girardin stellt ihm ihr Landgut in Ermenonville zur Verfügung. Rousseau und seine Frau ziehen dort ein. Am 2. Juli 1778 stirbt er.
Thérèse wird als Gattin von Rousseau von den Revolutionären gefeiert und erhält eine Pension. An sie gehen auch alle Tantièmen und Lizenzgebühren seiner Werke. 16 Monate nach Rousseaus Tod heiratet sie Jean-Henri Bally, einen Diener. Sie stirbt 1801.
Frauen nehmen in Rousseaus Leben einen riesigen Platz ein. Er findet nur Superlative für seine Angebeteten. Sie haben ihn „erweckt“, aber sie haben ihn auch gelähmt. Ein wirklich normales, affektives Verhältnis zu Frauen hatte er nie. Er schwärmt, verliert den Boden unter den Füssen und dann weiss er nicht weiter. Psychoanalytiker sagen, er sei nie wirklich Mann geworden.
Er hat den Frauen viel zu verdanken. Sie haben ihn erzogen, geformt, seine Fähigkeiten entdeckt. Sie sind ihm in seinen schweren Stunden beigestanden. Sie haben ihn in die einflussreiche Gesellschaft eingeführt. Sie haben ihn finanziell unterstützt, Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Ohne diese Mäzeninnen hätte er sich seine philosophische Arbeit gar nicht leisten können. Stets hat er den Adel kritisiert – doch ohne die reichen Marquisen würden wir Rousseaus 300. Geburtstag vielleicht nicht so pompös feiern.
Lange erinnert sich Rousseau an einen Satz von Pater Castel, den Jesuiten, der ihn zu den reichen Marquisen geführt hat. Castel sagte zu Rousseau: „In Paris erreicht man nichts – ausser durch Frauen.“
Im Tal der "Grünen Fee": Von nun an geht's bergab
„Kommen Sie, um Absinth zu kaufen?“, fragt ein Bauer auf dem Dorfplatz von Môtiers im Neuenburger Val de Travers. „Nein, ich komme wegen Rousseau.“ – „Ach, Rousseau, dieser Schlawiner.“
Der Schlawiner („fripon“) ist einer der einflussreichsten Philosophen der letzten Jahrhunderte. Gut drei Jahre lang lebte er hier auf 735 Metern Höhe im damals vergessenen Tal.
Môtiers – ein Wallfahrtsort, ein Magnet für Rousseau-Liebhaber? In jedem andern Land würde sich die Tourismus-Branche ins Zeug legen und den Ort vermarkten. Hier – nichts dergleichen. Rousseaus Haus muss man erst einmal suchen.
Schämen sich nicht nur die Genfer, wie sie mit Rousseau umgegangen sind? Schämen sich auch die Bewohner von Môtiers? Auch sie haben ihn davongejagt, wie man ihn in Paris und Genf davonjagte.
Dort werden seine Bücher verbrannt. Er wird zur Verhaftung ausgeschrieben. Die Obrigkeit und die Kirche hassen ihn, weil er ihren Machtanspruch in Frage stellt. Überstürzt verlässt er Paris. Doch wohin?
Hilfe vom „Alten Fritz“
Er gelangt nach Yverdon. Dort trifft er die reiche Madame Boy de La Tour. Sie verehrt seine Schriften und besitzt ein leerstehendes Haus hinter dem Berg im neuenburgischen Val de Travers.
Das Dorf liegt etwa 16 Kilometer von der französischen Grenze entfernt. Im 18. Jahrhundert stranden hier Schmuggler, Flüchtlinge und Salzhändler. Sie kommen von Montbenoît in der französischen Franche-Comté. Von dort führt ein Weg über einen tausend Meter hohen Pass hierher. Schon damals ist Môtiers eine Absinth-Hochburg. Artemisia absinthium, die Absinth-Pflanze, erlebt im 18. Jahrhundert im Val de Travers einen ersten Boom. Hier wird die „Grüne Fee“ gebraut, der grünflüssige Schnaps, der lange Zeit verboten war.
Das Tal gehört damals weder zur Schweiz noch zu Frankreich. Seit dem Jahr 1707 ist Neuenburg ein preussisches Fürstentum. Kein Geringerer als der preussische König Friedrich II., der Grosse, gewährt Rousseau politisches Asyl und gewährt ihm das Bürgerrecht. Nicht nur das: Der „Alte Fritz“ mit seinem offenen Geist zahlt dem verfolgten Genfer einen jährlichen Geldbetrag für seinen Unterhalt.
Rousseau in Môtiers im Val de Travers
Rousseau zögert zunächst, ins Fürstentum Neuenburg zu ziehen. Aus moralischen Gründen. Er mag den König nicht. Dieser scheint – so Rousseau – „die Achtung für das natürliche Gesetz und die menschlichen Pflichten mit Füssen zu treten“. Auch etwas anderes gefällt ihm nicht: Friedrich II. ist eng mit Voltaire befreundet, dem ewigen Gegenspieler Rousseaus.
Doch nicht nur moralische Gründe lassen ihn zögern. Rousseau, der die Machthabenden attackiert, fürchtet, dass ihn auch Friedrich früher oder später rauswerfen würde. Doch dann kommt der Philosoph zum Schluss, dass „die niedrigen Eigenschaften nur die schwachen Menschen unterjochen“. Kurz: „Ich glaube, dass seine Regierungskunst es verlangt, sich grossherzig zu zeigen.“ Es ist die Zeit, als der siebenjährige Krieg zu Ende geht und sich Preussen als Grossmacht etabliert.
So kommt Rousseau nach Môtiers. Unterstützt wird er hier vom alten schottischen Lordmarschall George Keith. Er ist Gouverneur des Fürstentums und vertritt Friedrich den Grossen. Während seines Aufenthaltes im Val de Travers kann Rousseau stets auf seine Hilfe zählen.
Für die Neuenburger, zu denen Rousseau jetzt zieht, hat er wenig übrig. Sie würden „nur Tand und Flitter lieben“, sie würden „sich gar nicht auf echten Stoff verstehen“. Und: Sie würden „lange Phrasen für Geist halten“.
Er singt italienische Arien
Doch Rousseau ist zunächst glücklich in Môtiers. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin Thérèse in einer Fünf-Zimmer-Wohnung im ersten Stock eines Hauses am Dorfrand. Endlich kann er wieder seine geliebten Spaziergänge unternehmen. Er streift durch die Wälder, sammelt Pflanzen – und singt italienische Arien. Er liebt es, am Wasserfall oberhalb des Dorfes zu träumen. „Ich fand den Aufenthalt in Môtiers als sehr angenehm“, schreibt er in seinen „Bekenntnissen“. Der Pfarrer schreibt ihm, es sei eine Ehre für die Gemeinde, dass er sich hier niederlasse.
Er schwatzt mit Dorfbewohnern, vor allem mit der schönen Isabelle. Er schreibt an seinem „Wörterbuch der Musik“. Um sich die Zeit zu vertreiben, webt er Schnürbänder, die er dann jungen Frauen schenkt – mit der Auflage, ihre Kinder selber zu stillen. In Môtiers schreibt er die ersten vier Bücher seiner zwölfbändigen „Confessions“ (Bekenntnisse).
Rousseau ist berühmt. Viele Besucher strömen jetzt ins Val de Travers, um ihn zu sehen und mit ihm zu schwatzen. Das gefällt ihm nicht immer. Denn viele Besucher haben keine Zeile von ihm gelesen; eine inhaltliche Diskussion ist so nicht möglich. Aus Genf, Frankreich und der Schweiz kommen auch Besucher, die ihm die Leviten lesen und seine Schriften attackieren.
*Ein „Abgrund der Leiden“ tut sich auf
Rousseau ist jetzt 50 Jahre alt. Sein Leben steht an einem Wendepunkt. Zwölf Jahre lang hat seine Glanzzeit gedauert. Jetzt sind die Hauptwerke geschrieben, vorbei der Ruhm, die Verehrung. Vorbei auch die Einladungen an den Hof und in die reichen Pariser Salons. Von jetzt an geht’s bergab.
„Jetzt beginnt das Werk der Finsternis“, schreibt er. 16 Jahre wird er noch leben. Es ist eine Zeit von „erschreckendem Dunkel“. Er geht unter in den „Abgrund der Leiden“. Rousseau übertreibt immer. Seine Memoiren strotzen vor Übertreibungen, vor Superlativen: positiven und negativen.
Er kapselt sich immer mehr ab. Er beschreibt seine Depressionen. Später werden Ärzte vermuten, er habe an Porphyrie gelitten, einer Stoffwechselkrankheit. Er leidet unter Angstzuständen und hat krampfartige Unterleibsschmerzen.
Ist er der Vater seiner Kinder?
Vor allem macht sich sein altes Leiden wieder bemerkbar. Seit seiner Geburt hat er eine verkrümmte Harnröhre. Stechende Schmerzen sind die Folge. Bei der kleinsten Aufregung muss er Wasser lösen. Zeit seines Lebens hat er Dutzende Ärzte konsultiert und Dutzende Kuren gemacht. Erfolglos. Um Erleichterung zu schaffen, haben ihm Ärzte Sonden verordnet, die er einführt.
Seine Harnröhren-Probleme haben Forscher immer wieder vor die Frage gestellt, ob er denn überhaupt zeugungsfähig gewesen sei. Sind die fünf Kinder, die seine Lebensgefährtin Thérèse geboren hat und die er im Findelhaus abgeben liess, etwa nicht seine Kinder?
Das käme Rousseau-Anhängern gelegen. Es würde ihn von viel Schmach befreien, denn nichts wird ihm so angekreidet, wie das Weggeben seiner Kinder. Wären es aber tatsächlich nicht seine Kinder, wäre die Tat zumindest verständlicher.
Und doch deutet nichts darauf hin, dass es nicht seine Kinder sind. Mediziner betonen, dass sein Harnröhren-Problem die Zeugungsfähigkeit nicht einschränke. Zudem gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass Thérèse, die mit ihm durch dick und dünn ging, einen Liebhaber hatte. Und wieso hätte Rousseau in seinen späteren Jahren so sehr darunter gelitten, die Kinder weggegeben zu haben, wenn es nicht seine gewesen wären? In seinen Schriften bezeichnet er sich selbst als „Schuft“.
Salamaleikum Jean-Jacques
Die Sonden, die er einführen muss, behindern ihn, vor allem beim Gehen. So kommt er auf die Idee, eine Art Kaftan zu tragen, unter dem er die Sonden verbergen kann. Ein armenischer Schneider kommt oft nach Môtiers. Bei ihm bestellt Rousseau einen armenischen Kaftan mit Pelzhut. Das Gemälde von Allan Ramsay, das Rousseau als Armenier zeigt, gehört zu den meistverbreiteten Porträts von ihm.
Rousseau fragt den Pfarrer des Dorfes, ob er in dieser Tracht nicht Anstoss errege. Der Pfarrer antwortet, er könne sogar so in der Kirche erscheinen. Und Lord Keith begrüsst den „Armenier“ Rousseau mit einem freundlichen „Salamaleikum“. Doch im Dorf ist man weniger freundlich. Der Kaftan und der Pelzhut erregen Aufsehen und Kritik.
In Paris und Genf geht inzwischen die Polemik gegen ihn weiter. Seine beiden „Discours“, sein Erziehungsroman „Emile“ und der „Gesellschaftsvertrag“ treffen die Mächtigen und die Kirche im Mark. Da Rousseau in der Bevölkerung und vor allem bei den Intellektuellen immer mehr Anhänger hat, gehen die Machthaber immer härter gegen ihn vor.
Kirchliches Mobbing
Ein obrigkeitliches Mobbing beginnt. Flugblätter, die er nie verfasst hat, tauchen auf; sie tragen seine Unterschrift. Bücher mit läppischen Ideen werden vertrieben, unter seinem Namen. Er hat sie nie geschrieben, und sie liefern den Behörden einen Vorwand, um gegen ihn zu wettern.
Dem Erzbischof von Paris gefällt es gar nicht, dass Rousseau im Erziehungsroman „Emile“ schreibt, die Kirche solle sich aus der Erziehung der Kinder heraushalten. Er verfasst einen Hirtenbrief. Darin wird Rousseau arg zerzaust. Das will der Angegriffene nicht auf sich sitzen lassen. Er schreibt eine Schmähschrift gegen den Erzbischof.
Nicht nur die katholische Kirche in Frankreich fühlt sich angegriffen: auch die protestantische in Genf und Bern. Das Mobbing beginnt Wirkung zu zeigen. Ist Rousseau eben vielleicht doch ein „Anti-Christ“? Wurden seine Bücher vielleicht doch zu Recht verbrannt? Die Genfer Calvinisten und die französischen Katholiken beginnen Druck auf die Neuenburger Geistlichkeit aufzubauen.
“Von der Lustseuche zerfressen“
Nach dem Druck folgt die Hetze. Sogar von der Kanzel herab wird Rousseau angegriffen. Thérèse wird beschimpft und mit Kieselsteinen beworfen. Jetzt wird die Geschichte verbreitet, dass die beiden ihre fünf Kinder „auf die Strasse gesetzt haben“. Steine werden gegen ihr Haus geworfen, immer grössere.
Rousseau lässt sich nicht provozieren. Standfest geht er täglich spazieren, lässt sich beschimpfen und mit Steinen bewerfen. „Man verfolgte mich wie einen Werwolf“. Ein Bauer habe gesagt: „Bring mir mein Gewehr, damit ich ihm eins auf den Pelz brennen kann.“ Die Bewohner behaupten, er „schleppe eine Soldatendirne hinter sich her“, er sei „durch Ausschweifungen verbraucht“ und „von der Lustseuche zerfressen“.
In der Nacht nach dem Jahrmarkt in Môtiers versucht man in sein Haus einzubrechen. Wieder werden Steine geworfen. Rousseau schreibt, ein schwerer Brocken sei durch das Küchenfenster im ersten Stock bis zu seinem Schlafzimmer geschleudert worden. Wäre er dort gestanden, wäre er verletzt worden.
Die Wache registriert den Fall. Die Behörden werden aufgescheucht. Jetzt bittet man Rousseau und Thérèse das Dorf zu verlassen. Die Neuenburger Pastorengesellschaft, die „Vénérable Classe et Compagnie des Pasteurs“, hat ihr Ziel erreicht. Der Pfarrer von Môtiers, der Rousseau zunächst freundlich gesinnt war, ist längst eingeknickt.
Genug von den kalten Wintern
So müssen denn Jean-Jacques und Thérèse wieder ihre Sachen packen. Vielleicht tun sie das gar nicht ungern. Vielleicht haben beide längst genug von Môtiers, seinen bäurischen Bewohnern und seinen kalten Winter. Vor allem Thérèse leidet darunter.
Rousseau kennt die Petersinsel im Bielersee schon. Im Jahr zuvor hat er sie besucht. Er war begeistert. Die Halbinsel ist für ihn das Paradies.
Hat er die Steinwürfe in der Nacht des Jahrmarktes etwas aufgebauscht? Es würde viel Kraft brauchen, einen grossen Steinbrocken von der Strasse durch die Küche im ersten Stock ins Schlafzimmer zu schleudern. Hat Rousseau den Zwischenfall nicht zum Vorwand genommen, um Môtiers zu verlassen?
Diese Ansicht schliesst Roland Kaehr nicht aus. Er ist Ethnologe in Neuenburg und Konservator des Rousseau-Museums in Môtiers. Das Musée befindet sich im Haus, in dem Rousseau und seine Gefährtin gelebt haben. Viel ist seither zerstört und umgebaut worden. Doch die Sammlung, die Kaehr hier zusammengetragen hat, ist faszinierend: alte Stiche, alte Gravuren, alte Gemälde. Mit Kaehr könnte man stundenlang über Rousseau reden. Er kennt jedes Detail. Er weiss, in welcher Ecke Rousseau geschlafen hat, er weiss, dass er stets stehend geschrieben hat.
Rousseaus Aufenthalt in Môtiers hat auch ein Heer von Künstlern angezogen. Das Val de Travers wird damals gemalt und gezeichnet, was das Zeug hält. Von keinem andern Neuenburger Tal gibt es so viele Gemälde, Stiche und Zeichnungen. Da sieht man Rousseau vor dem Wasserfall, den er so liebte, oder vor der geheimnisvollen Grotte, die er bewunderte. Manche dieser Gemälde sind im Museum zu sehen.
Doch in Neuenburg hat das Museum in Môtiers einen bescheidenen Stellenwert. Das Budget ist minim. Besucher sollten sich anmelden, damit sie nicht vor verschlossenen Türen stehen.
“Ich kann nur denken, wenn ich gehe“
So flüchten denn Jean-Jacques und Thérèse auf die Petersinsel im Bielersee. Die gehört zwar zu Bern. Doch Freunde von ihm wollen erfahren haben, dass die Berner den Philosophen dort ungestört leben lassen wollen. Er zieht mit Thérèse ins einzige Haus auf der Halbinsel, in jenes des Steuereinziehers.
Rousseau unternimmt lange Spaziergänge, träumt vor sich hin und tut jetzt das, was er am liebsten tut: Er widmet sich der Botanik. Wer den einstündigen Fussweg von Erlach durch das Naturschutzgebiet auf sich nimmt, kann das Zimmer von Rousseau im Restaurant St. Petersinsel besuchen. „Ich habe an so manchem reizendem Orte geweilt; nirgends aber fühlte ich mich so wahrhaft glücklich wie auf der St. Petersinsel,“ schreibt er.
Doch schnell ist es mit der Idylle vorbei. Die Berner erfahren von seinem Aufenthalt und weisen ihn aus. Rousseau flüchtet nach Strassburg, dann über Paris nach England. Schliesslich kehrt er nach Frankreich zurück, wo er in Paris 66-jährig stirbt.
Auf der Petersinsel und im Val de Travers erlebt Rousseau zum letzten Mal die romantische Natur, die er so liebt. Täglich ist er mehrere Stunden zu Fuss unterwegs. „Ich kann nur denken, wenn ich gehe“, sagt er einmal. „Wenn ich stillstehe, denke ich nicht mehr.“
"Ich schwebte im weiten Raum, in der Unendlichkeit"
Er verhöhnt die Kirche, vor allem die katholische. Er verachtet ihre Heuchelei. Er betrachtet sie als Machtinstrument der Aristokratie. Er will sich nicht unterjochen lassen. Seine Kirche ist die Natur.
Seine Attacken gegen die Kirche sind mutig. Er lebt in einer Zeit, in der die Kirche stark ist. Sie sitzt mit den Machthabern im gleichen Boot und bestimmt, was das Volk darf und was nicht. Etwas darf es bestimmt nicht: selber denken.
Rousseaus Angriffe richten sich nicht nur gegen die Kirche, sondern gegen die Obrigkeit als solche. Zusammen mit Voltaire und Montesquieu arbeitet er auf den Sturz von Monarchie, Aristokratie und Theokratie hin. Rousseau, der Aufklärer – ein Genfer als Wegbereiter der Französischen Revolution, der Türöffner zur Demokratie.
Er verhöhnt die Scheinheiligkeit der Kirche. Er spottet über die angebliche Keuschheit des Kirchenpersonals. Er ist entsetzt, wie die Kirche die Homosexualität in ihren Reihen vertuscht.
“Eigenartige Abneigung gegen den Katholizismus
Seine Attacken haben Folgen. Aristokratie und Kirche gehen zum Gegenangriff über. Er wird verfolgt, muss fliehen, seine Bücher werden verbrannt. In Pamphleten, Schmähschriften und Hirtenbriefen wird er verunglimpft. Diese Hatz steigert seinen Hass noch mehr – und treibt ihn in die Einsamkeit.
Aufgewachsen ist Jean-Jacques im streng calvinistischen Genf. Die Kirche nimmt wenig Platz in seiner Kindheit ein. Zwar sind sein Grossvater und sein Onkel Pfarrer, doch das prägt ihn wenig. Geschädigt haben ihn die sittenstrengen Calvinisten wohl nicht. Seine Welt waren Bücher, aber nicht die Bibel.
In seinen Bekenntnissen beschreibt er „eine eigentliche Abneigung gegen den Katholizismus, den man uns als einen schrecklichen Götzendienst schilderte und deren Geistlichkeit man uns in den schwärzesten Farben malte“.
Der Protestant wird Katholik
Doch dann wird der Protestant Rousseau Katholik, eher gegen seinen Willen. Mit knapp 16 Jahren flieht er aus seiner Heimatstadt – und weiss nicht wohin. Vor den Toren von Genf, im savoyischen Dorf Confignon, trifft er Herrn von Pontverre, einen katholischen Pfarrer. „Ein Frömmler“, wie Rousseau sagt. Der schickt ihn in ein katholisches Heim nach Annecy in Hochsavoyen. Dort werden junge Leute aufgenommen, die zum Katholizismus übertreten wollen. Doch will er zum Katholizismus übertreten? Er hat keine Wahl. Nach Genf zurück kann und will er nicht. Und hier in katholischen Landen muss er wohl Katholik werden.
So wandert er wie Hannibal über die Alpen und gelangt nach Turin. Dort im Hospiz der Katechumenen soll er katholisch getauft werden. Doch er tut sich schwer. „Je mehr ich darüber nachdachte“, schreibt er in seinen Confessions, „desto mehr empörte ich mich gegenüber mir selbst und ich seufzte über das Los, das mich dahin getrieben hat“.
“Die grössten Schlampen, die Gottes Stall verpestet haben“
Aber „die Dinge sind zu weit fortgeschritten“. Zwar lobt er jetzt die Protestanten. Sie sind „im allgemeinen besser unterrichtet als die Katholiken“ Die Lehre der Protestanten „fordert Erörterung“, jene der Katholiken verlangt „Unterwerfung“.
Zynisch, farbig und ätzend beschreibt er die Zustände im katholischen Hospiz. Da befinden sich auch junge Frauen, die zum Katholizismus übertreten sollen. Das sind „die wohl grössten Schlampen und die gemeinsten Stromerinnen, die je Gottes Stall verpestet haben“.
Wenig schmeichelhaft geht er mit den Geistlichen um. Ein Lazarist im Seminar soll ihn Latein lehren. „Er hatte glatte, fette, schwarze Haare, ein Pfefferkuchengesicht, eine Büffelstimme, ein Nachteulenblick und Schweinsborsten wie die eines Hampelmanns“.
Ein älterer Priester unterrichtet ihn in der „wahren Lehre“. Doch Rousseau sträubt sich, argumentiert dagegen, beginnt zu streiten. Der Priester gibt auf. Er beauftragt einen jüngeren, den Widerspenstigen zu zähmen. Der Jüngere war „ein Schönredner, das heisst ein Phrasenmacher und mit sich zufrieden, wie nur je ein Gelehrter war“.
Sexuelle Nötigung: Bestraft wird das Opfer
Schon bald erfährt er, wie die Kirche mit Homosexuellen umgeht. Er beschreibt ein „übles, recht widriges kleines Abenteuer“. Im Hospiz befindet sich eine Gruppe Nordafrikaner. Einer von ihnen hat sich in Rousseau verliebt. Er küsst ihn „mit einer Glut, die mir sehr unangenehm war“. Er bittet ihn in sein Bett. Rousseau lehnt ab. Der Afrikaner ergreift seine Hand. Es kommt zu „anstössigen Vertraulichkeiten“, zu sexueller Nötigung. Rousseau reisst sich los und erzählt allen alles.
Doch nicht der Täter wird bestraft, sondern das Opfer. Rousseau kriegt einen strengen Verweis, weil er alles erzählt hat. Der Verwalter sagt, ihm sei in der Jugend das gleiche geschehen und „er habe darin nichts so Schreckliches gefunden“.
“Nach gutem Brauch dürften Priester verheiratete Frauen schwängern“
Nicht alle Geistlichen widern ihn. Er macht Bekanntschaft mit einem jungen Abbé aus Faucigny. Er heisst Gâtier, hat eine „gefühlvolle, empfängliche und liebliche Seele“. Er wird in Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ eine Rolle spielen.
Doch als Vikar verliebt sich Gâtiers in ein Mädchen und schwängert es. Er wird ins Gefängnis geworfen, beschimpft und weggejagt.
Zynischer Kommentar von Rousseau: „Die Priester dürfen nach gutem Brauch nur verheiratete Frauen schwängern.“
So wird er denn doch getauft – eher contre coeur. Er kehrt zurück ins Heim in Annecy, wo seine angebetete Heimleiterin auf ihn wartet. Auch sie war zum Katholizismus übergetreten, wohl aus finanziellen Gründen. Sie kriegt vom König eine jährliche Pension.
Ende des katholischen Abenteuers
Mit dreissig Jahren zieht Rousseau endgültig nach Paris. Jetzt wird er Schriftsteller, und das gefällt nicht allen. Sein erstes grosses Werk, der erste „Discours“, erzürnt zwar die Obrigkeit und die Kirche. Doch noch drückt man ein Auge zu. Das Werk findet reissenden Absatz; Rousseau ist berühmt. Er kehrt nach Genf zurück. Mit 42 Jahren tritt er wieder der calvinistischen Kirche bei. Sein katholisches Abenteuer dauerte 26 Jahre. In dieser Zeit hat er nie eine Kirche oder eine Messe besucht. Die Genfer sind stolz, Rache an den verhassten Katholiken zu üben.
Zurück in Paris schreibt Rousseau den zweiten „Discours“. Es folgen der Erziehungsroman „Emile“ und der „Gesellschaftsvertrag“. Jetzt ist der Teufel los. Obrigkeit und Kirche empfinden die Werke als offene Kriegserklärung. Im „Emile“ fordert Rousseau, die Kirche dürfe keinen Einfluss auf die Erziehung der Kinder nehmen. Christophe de Beaumont, der Erzbischof von Paris, erklärt, die Schrift sei mit dem Christentum unvereinbar. Emile würde „die Grundlagen der christlichen Religion zerstören“ und enthalte „eine grosse Zahl von Sätzen, die falsch, anstössig, gehässig gegen die Kirche und ihre Diener und gotteslästerlich seien“.
“Anti-Christ“, „Atheist“
Bei seiner Attacke geht es Rousseau nicht nur um die katholische Kirche, sondern um die Kirche schlechthin – auch um die protestantische. Das merkt man auch in Genf. Deshalb stehen jetzt auch die Calvinisten gegen ihn auf. Jetzt ist er weder Katholik noch Protestant.
Von den Kanzeln in Frankreich, Genf und Bern wird gegen ihn gewettert. Das Volk wird aufgehetzt. Er wird als „Anti-Christ“ bezeichnet, als „Atheist“ und „Barbar“.
Ist Rousseau überhaupt ein Christ? Nach der Rückkehr zum protestantischen Glauben besucht er in Paris ab und zu eine holländische reformierte Kirche. Im Exil in Môtiers im Val de Travers pflegt er zunächst gute Beziehungen zum protestantischen Pfarrer. Doch das sind gesellschaftliche Verpflichtungen.
“Verantwortungsloser Heuchler“
Sein Verhalten ist nicht immer christlich. In seiner Kindheit stiehlt er und pisst in Suppentopf der Nachbarin, während sie in der Kirche weilt. Ein hübsches Mädchen bezichtigt er des Diebstahls eines Schmuckbandes, obwohl er das Band selbst gestohlen hat. Das Mädchen wird entlassen. Wenig christlich zeigt er sich auch in Lyon: Ein Freund von ihm bricht auf der Strasse zusammen; Rousseau macht sich aus dem Staub. Wenig edel verhält er sich gegenüber Madame de Warens. Sie, die ihn aufgenommen, gefördert, bemuttert und geliebt hat, erhält keine Hilfe von ihm, als sie ins Elend stürzt. Und natürlich der Hauptvorwurf: Er verbannt seine fünf Kinder ins Findelhaus, was ihm das Image eines „verantwortungslosen Heuchlers“ einträgt.
All diese christlichen Untaten beschreibt er in den Confessions detailliert. Offen bekennt er sich zu seinen Verfehlungen – so, als ob er sie beichten wollte. Doch er bittet nicht den lieben Gott um Vergebung, sondern die Leser. Trotz seiner Missetaten: Die Werte, die Rousseau predigt, sind durchaus christlich. Mit Vehemenz setzt er sich für die Armen ein, für die einfachen Leute. Er glaubt an das Gute im Menschen.
Flucht in die Natur
Für kirchliche Institutionen allerdings hat er nichts übrig. „Mein Geist, vermag keinerlei Art von Joch zu ertragen, schreibt er in den Confessions, auch das kirchliche Joch nicht. Die Erbsünde lehnt er explizit ab.
Er ist ein Heimatloser, keine Kirche, keine Staatsangehörigkeit, ständig auf der Flucht, immer auf der Suche nach der grossen Liebe, die er längerfristig nie findet. Er ist ein Einsiedler, obwohl er nie allein ist. Immer hat er Freunde, die ihm beistehen. Und Thérèse ist immer da.
Doch er liebt die Einsamkeit, er will Aussenseiter sein. Er wird nicht ausgeschlossen von der Gesellschaft, er schliess sich aus. Er flüchtet sich in die Natur. Wie Franz von Assisi spricht er mit den Vögeln. „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht, alles verdirbt unter den Menschen.“ Also: „Der Mensch ist von Natur aus gut“.
Seine Kirche ist die Natur. Er schwärmt von seinen einsamen Spaziergängen im Westen von Paris, „jene herrlichen Tage, an denen ich allein war… mit der ganzen Natur und ihrem unbegreiflichen Schöpfer“. Er erlebt den Sonnenaufgang und hofft, dass ihn heute keine Besucher stören.
Pantheistische Züge
Im Wald suchte er „einen wilden Fleck, ein verlassenes Plätzchen, wo keine Spur von Menschenhand zu entdecken war, wo sich kein Störenfried zwischen mich und die Natur drängen konnte“. Er lobt das Gold des Ginsters und das Purpur des Heidekrauts. Er spricht von der „Majestät der Bäume, die mich mit ihrem Schatten deckten."
Im vierten Buch der Confessions schreibt er: „Ich brauche Giessbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge … Abgründe neben mir, so dass ich Angst bekomme“. Er spricht von der „betäubenden Ekstase der Natur“. Seine Lobpreisungen tragen pantheistische Züge. In der Natur ist Gott. Vom biblischen Gott spricht er kaum. In der Natur erlebt er „seinen“ Gott.
„Bald erhob sich mein Denken vom Boden der Erde zu allen Wesen der Natur, zu dem allgemeinen Zusammenhang der Dinge, zu dem unbegreiflichen Wesen, in dem alles ist.“ - „Ich sah mich im weiten Raum schweben“, schreibt Rousseau in einem Brief an einen Freund, „mein Wesen verrann in der Unendlichkeit. … Wenn ich alle Geheimnisse der Natur entschlüsselt hätte, wäre ich sicher nicht so glücklich gewesen.“
Das göttliche Wesen ist die Natur selbst. Mit diesem Denken hat er Lessing, Kant und Herder beeinflusst. Seine Naturbeschreibungen haben Generationen von Schriftstellern und Malern zum Schwärmen gebracht.
Keine Hölle
Die grossen Städte hasst er. Dort wird er krank und depressiv. Immer mehr hasst er auch Besucher. Er will vor allem allein sein. So zieht es ihn immer wieder hinaus in die Wälder, in die Schluchten, an die Wasserfälle. Mit Pathos und Leidenschaft beschreibt er die Landschaften am Genfersee, im Wallis und in Neuenburg. Dort an den rauschenden Bächen betet er. Er betet nicht, indem er niederkniet und den lieben Gott anruft, sondern indem er dem Rauschen der Bäche zuhört.
Und trotzdem. Manchmal hat er Angst vor der Hölle, die es in seinem Universum nicht geben darf. „Wenn ich jetzt sterbe“, fragt er sich, „komme ich dann in die Hölle?“ Er kommt auf die verrücktesten und lächerlichsten Ideen.
Er provoziert eine Vorhersage. Er will einen Stein gegen einen Baum werfen und sagt sich: Wenn ich ihn treffe, komme ich nicht in die Hölle. Doch er manipuliert das Glückt. Er sucht sich einen ganz dicken Baum und wirft den Stein von ganz nah. Er trifft – keine Hölle.
Der Subversive, der Revolutionär, der Utopist
Rousseau wird als Wegbereiter der Demokratie und als Vorkämpfer für die Menschenrechte gefeiert. Ist er auch Wegbereiter für den Nationalsozialismus und den Stalinismus?
„Hitler ist eine Folgeerscheinung von Rousseau“. Dies sagt kein Geringerer als der britische Philosoph Bertrand Russell. Rousseau, ein Faschist? Sicher nicht. Aber sein politisches Hauptwerk wird von fast allen politischen und ideologischen Strömungen vereinnahmt. Demokraten und Liberale beziehen sich auf Rousseau, auch Sozialdemokraten, Grüne und Reaktionäre. Und selbst die Faschisten und Kommunisten taten es.
„Über kaum einen Autor ist so viel geschrieben, diskutiert und argumentiert worden wie über ihn“, schreibt der deutsche Politikwissenschaftler Iring Fetscher. „Und über kaum einen mögen die Meinungen weiter auseinandergehen als über den großen Genfer Philosophen.“
Die Nachwelt tut sich schwer mit Rousseau
Allein in Frankreich sind im Hinblick auf Rousseaus 300. Geburtstag 287 neue Publikationen erschienen – mit völlig verschiedenen Wertungen. Die Nachwelt tut sich schwer, den „citoyen de Genève“ zu interpretieren.
Einig sind sich alle: Rousseau will die alte absolutistische Herrschaft wegfegen. Er ist gegen die Monarchie, gegen die Feudalgesellschaft und gegen den starken Einfluss der Kirche. Er spottet über das Gottgnadentum. Er fordert eine starke Beteiligung des Einzelnen an den Staatsgeschäften. In diesem Sinn ist er zu seiner Zeit subversiv, anarchistisch und vor allem revolutionär.
Die Bibel der Revolutionäre
Neben dem Erziehungsroman „Emile“ ist der „Gesellschaftsvertrag“ (Contrat social) Rousseaus wichtigstes Werk - und sein schwierigstes und umstrittenstes. Es stellt, so der Biograf Michel Soëtard, „eine entscheidende Wendung im politischen Denken des Abendlandes dar“. Es schaffe die theoretische Grundlage zur kommenden grossen (französischen) Revolution.
Der „Contrat social“ ist die Bibel der Revolutionäre von 1789. Robespierre trägt ihn stets in seiner Tasche. Auch Danton und Saint-Justs beziehen sich immer auf ihn. Im Namen Rousseaus schlachten Robespierres Sansculottes während des jakobinischen Terrors Tausende Gegner ab.
„Der Mensch wird frei geboren und überall liegt er in Ketten“. Dieser Satz steht am Anfang des ersten Kapitels des „Gesellschaftsvertrages“. Solange ein Volk zum Gehorsam gezwungen werde und gehorche, handle es gut. Sobald es aber „sein Joch abschütteln kann und es abwirft, handelt es noch besser“. Es holt sich seine Freiheit „mit gutem Recht zurück“.
Die Sklaven würden sich ihrem Herrn „verkaufen“. Dafür erhielten sie immerhin das Nötigste zum Leben, ihren Lebensunterhalt. Aber warum soll sich ein Volk einem König, einem Herrscher verkaufen? „Es ist wahrlich nicht so, dass ein König seinen Untertanen den Unterhalt sichert. Im Gegenteil: er bezieht den seinen von ihnen“.
Ein Pakt zwischen Regierenden und Regierten
Wie aber können sich die Menschen zu einer Gesellschaft zusammenschliessen, so dass jeder frei und sein Eigentum geschützt bleibt?
Die berühmteste Passage im Gesellschaftsvertrag lautet: „Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt, und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und frei bleibt wie zuvor…“
Dazu braucht es laut Rousseau einen gesellschaftlichen Pakt. Alle Mitglieder einer Gesellschaft schliessen sich freiwillig zusammen. Sie bilden einen Gemeinwillen (volonté générale).
Rousseau fordert die totale Volksherrschaft. Es müsse darauf hingearbeitet werden, dass alle am gleichen Strick ziehen und das gleiche wollen – etwas, das allen dient. Die Interessen jedes Einzelnen müssten also mit dem Gemeinwillen übereinstimmen. So gebe es keinen Unterschied mehr zwischen Autorität und Volk. Regierte und Regierende sollen also identisch werden.
Der Einzelne unterwirft sich freiwillig
Das Volk beauftragt die Autorität mit der Staatsführung. Diese Autorität darf nur regieren, wenn sie vom Volk voll und ganz unterstützt wird. Das Volk kann der Autorität ihre Unterstützung jederzeit entziehen.
Im Gesellschaftsvertrag unterwirft sich jeder Einzelne freiwillig der Gemeinschaft. Doch der Einzelne bleibt frei und gehorcht nur sich selbst. Die Autorität muss sich verbürgen, jedem einzelnen im Volk seine Freiheit zu sichern. Gesetze garantieren die rechtliche Gleichheit aller.
Aber: „Jeder, der dem allgemeinen Willen den Gehorsam verweigert, kann durch die gesamte Körperschaft dazu gezwungen werden: Was nichts anderes heisst, als dass man ihn zwingen wird, frei zu sein“.
Was ist dieser volonté générale, dieser Gemeinwillen, diese Autorität? Eine Regierung? Ein Gremium, ein Diktator, ein Volksmonarch, ein Ältestenrat, ein weiser Gesetzgeber (Législateur), der dem Volk zu einer gerechten Verfassung verhilft? Oder ein Philosophenherrscher à la Platon? Die Interpretationen gehen völlig auseinander.
Umerziehung?
Wie kann man sich einer Autorität völlig unterwerfen und die eigene Freiheit behalten? Der Einzelne muss mit dem Gemeinwillen übereinstimmen. Und wenn er es nicht tut, wird er dazu gezwungen. Heisst das „Umerziehung“, „Zwangserziehung“, Erziehungslager“, „Gulag“? Fragen über Fragen.
Die Erziehung zum Staatsbürger und Patrioten ist für Rousseau „die wichtigste Angelegenheit des Staates“. Sie dürfe nicht den Lehrern überlassen werden. Sie müsse von ehrenwerten Vorbildern und Autoritäten durchgeführt werden. Wie geht das?
Opposition gegen den „Gemeinwillen“ ist nicht erlaubt. Genau darauf beziehen sich Robespierre und seine Schlächter. Denn Rousseau habe ja gesagt, wer sich dem Gemeinwohl nicht unterziehe, müsse gezwungen werden. Laut Robespierre muss deshalb die Regierung wohltätig gegenüber braven Bürgern sein – aber grausam gegenüber Verrätern.
Der Einzelne muss also in der Allgemeinheit aufgehen. Parteien soll es nicht geben. Die seien nicht nötig, denn alle sollen ja am gleichen Strick ziehen. Minderheiten dürften also laut Rousseau ihre Meinung nicht artikulieren, weil es gar keine Minderheitsmeinungen geben soll.
Ein Plädoyer für den totalitären Staat?
Sich freiwillig einer Autorität unterwerfen bedeutet auch: einen Machthaber schalten und walten lassen. Das hat der „Nazi-Philosoph“ Carl Schmitt schnell erkannt. Er sieht in Rousseaus Werk eine Gebrauchsanweisung für die Diktatur. Der Staat werde so nicht mehr durch Einzelinteressen bedroht, denn solche könnten zu Bürgerkriegen und Staatszerfall führen.
Auf der gegenüberliegenden Seite betrachteten Marx und Lenin Rousseaus Vorstellungen als Rechtfertigung für die Diktatur des Proletariats.
Sich bedingungslos unterwerfen, damit man die eigene Freiheit gewinnt? Dies können nicht alle nachvollziehen. Hier setzt die Kritik von Bertrand Russel ein. Der britische Philosoph sieht im „Gesellschaftsvertrag“ ein Plädoyer für den totalitären Staat, in dem der Einzelne machtlos ist. Vor allem kritisiert er die geforderte totale Veräusserung der individuellen Freiheit an eine Gemeinschaft.
Rousseau propagiere zwar die Freiheit, sagt Russel, doch in Wirklichkeit strebe er Gleichheit an – auf Kosten der individuellen Freiheit. Weil der Mensch all seine Rechte der Gemeinschaft abgebe, gebe er seine Menschenrechte vollkommen preis.
Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper sieht es ähnlich. Er zweifelt, ob Regierende und Regierte identisch werden können. Und wenn, könne das zum Totalitarismus führen, und zwar zu einem rechten oder einem linken.
Schlüsselwerk der Aufklärungsphilosophie
Dennoch: Der „Gesellschaftsvertrag“ gilt als Schlüsselwerk der Aufklärungsphilosophie. Er ist erster Wegbereiter von Demokratie und liberalen Ideen. Wenn das auch noch nicht den demokratischen und liberalen Vorstellungen von heute entspricht.
„Auf seine Freiheit zu verzichten“, sagt Rousseau, „bedeutet, die menschlichen Eigenschaften, die Menschenrechte und sogar die Menschenpflichten aufzugeben“.
Zu den besten Kennern Rousseaus gehört auch der inzwischen 90-jährige Iring Fetscher. In seinem Werk „Rousseaus politische Philosophie“ schreibt er: Rousseau war gewiss nicht totalitär, aber mindestens ebenso wenig liberal. Er sei weder „Vorläufer“ noch „Mitschuldiger“ des Totalitarismus des 20. Jahrhunderts.
Rousseau sei zwar „ein blinder Verehrer der antiken Polis-Demokratie gewesen“. Doch er war sich bewusst, „wie wenig diese auf entwickelte moderne Grossstaaten mit ihren starken sozialen Spannungen unter den Vollbürgern angewandt werden kann“
Gegen Unterjochung des Einzelnen
Rousseaus Gesetzgeber (Législateur) ist „also alles andere als ein Diktator oder Tyrann. Er gleicht eher einem Experten, dessen Kompetenz aber nicht technischer, sondern moralischer Natur ist.“
Der deutsche Politikwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch weist darauf hin, dass Rousseau dem Einzelnen das unveräusserliche Recht gibt, bei der Gesetzgebung mitzuentscheiden. Die Mehrheit der Bürger sei politischer Entscheidungsträger. Rousseaus Ideen führten zu einer „Sphäre individueller Entfaltungsfreiheit“. Das habe nichts mit Totalitarismus zu tun, schreibt Mayer-Tasch.
Rousseau betont im „Contrat social“ immer wieder, dass die Freiheit des Einzelnen nicht angetastet werden darf. Auch in seinen „Bekenntnissen“ spricht er immer wieder davon, wie wichtig ihm die persönliche Freiheit ist, wie wenig er „unterjocht“ werden will.
Nur ein "Volk von Narren" verzichtet auf Freiheit
Deshalb hat er sicher nicht an ein totalitäres Regime gedacht, als er seinen „Contrat social“ schrieb. Nichts wäre dem eingefleischten Individualisten ferner gelegen als Faschismus oder Bolschewismus. Im „Contrat social“ schreibt er: Wenn sich ein Volk umsonst einem Herrscher hingibt, ist es „ein Volk von Narren“.
Rousseaus Hauptverdienst ist sein Kampf gegen Absolutismus und Willkürherrschaft einiger Weniger. Ihr seid frei geboren, ruft er den Menschen zu, zerschlagt eure Ketten.
Das Staatsgebilde, das er vor Augen hat, wirkt aus heutiger Sicht konstruiert, theoretisch, utopisch, realitätsfremd. Das hat wohl auch mit der Zeit zu tun, in der es entstand.
Rousseau hat erste Ansätze von Demokratie und Liberalismus aufgezeigt. Ein Demokrat im heutigen Sinn war er noch nicht. Aber er hat als Erster die Tür zu Demokratie und Liberalismus aufgestossen.
"Jetzt sage ich nichts mehr"
Ein pompöser Festzug wälzt sich durch die Genfer Innenstadt. Citoyennes und citoyens sind zum „Republikanischen Festbankett“ geladen. Überall Musik, Theater, Lightshows. Genf feiert am 28. Juni 2012 seinen genialsten und umstrittensten Bürger.
Zum ersten Mal liegt jetzt sein gesamtes Gesamtwerk vor. Der Verleger Michel Slatkine hat vier Jahre lang mit zwanzig Mitarbeitern daran gearbeitet. Das 24-bändige Werk enthält mehrere bisher unveröffentlichte Texte. Enthüllen sie Neues über den grossen Jean-Jacques?
Seit Wochen wird in Genf über Rousseau debattiert und gestritten. Die Stadt gibt sich auch selbstkritisch. Sie erinnert daran, dass sie einst ungnädig mit ihrem Philosophen umging.
Seine wichtigsten Bücher sind am 19. Juni 1762 vor dem Genfer Stadthaus verbrannt worden – auf Anordnung des Genfer Staatsanwalts. Jetzt, genau 250 Jahre später, fand im Hof des Genfer Stadthauses eine Gedenkfeier statt. Ein Schauspieler verlas das damalige Verdikt. Die heutigen Feiern sind auch ein Akt der Wiedergutmachung. Doch die Nachwelt tut sich noch immer schwer, den grossen Genfer zu fassen. Wer ist Rousseau?
Rauchender Kopf
Er ist Subversiver, Anarchist, Sozialist. Er ist Philosoph, Dichter, Politologe, Pädagoge, Enzyklopädist und Psychologe. Er ist Wegbereiter der Französischen Revolution, der modernen Erziehung, der Menschenrechte. Er ist Romantiker, Botaniker und Pantheist, Musiker, Musiklehrer, Opernschreiber, Notenkopierer und Literat. Selbst als Wegbereiter für Kommunismus und Faschismus muss er herhalten. Sogar Chefredaktor ist er, allerdings nur kurz. Sein Magazin „Der Spötter“ erscheint nur einmal.
Seine wichtigste Schaffensperiode dauert nur zwölf Jahre, von 1750 bis 1762. Vorher ist er ein Vagabund, ein Nichtsnutz; nachher ein verbitterter Mann. Doch während diesen zwölf Jahren muss ihm der Kopf geraucht haben. Was er in dieser kurzen Zeit an Ideen, an Gesellschafts- und Erziehungsmodellen produziert, ist phänomenal und hat die Welt verändert.
Man müsse bis auf die Reformationszeit zurückgehen, um einen zu finden, der sich mit Rousseau und Voltaire messen könne. Dies erklärt der Stuttgarter Pädagoge Paul Sakmann - zitiert von Rousseaus Biografen Georg Holmsten.
Jeder schneidet sich ein Stück Rousseau ab
Doch auch 300 Jahre nach seiner Geburt bleibt Rousseau ein Rätsel. Sein Werk ist so breit, so vielschichtig, so genial und verworren, dass es Dutzende Interpretationen zulässt.
Jeder pickt sich aus seinen Büchern, was ihm gerade passt. Fast alle finden bei Rousseau Sätze und Abschnitte, die ihre Ideologie und Lebenshaltung rechtfertigen.
Jetzt sind es die Leute von „Occupy Wallstreet“, die ihn vereinnahmen. Und die Piraten. Alle andern Ideologien und Bewegungen taten es schon früher. Jeder kann sich sein Stück Rousseau abschneiden.
Der Soziologe Arnold Hauser sagt: „Rousseaus Vorgänger waren Reformer, Weltverbesserer. Er ist der erste wirkliche Revolutionär“. Doch das erste Werk des Revolutionärs ist radikal reaktionär. Voltaire spottet nur.
“Die Erde gehört niemandem, die Früchte allen“
In seinem ersten „Discours“ schreibt Rousseau, Wissenschaften und Künste hätten mehr Schaden als Gutes angerichtet, sie seien gefährlich. Er attackiert Verleger, Schriftsteller und Gelehrte, „diese eitlen Phrasendrescher“. „Allmächtiger Gott, gib uns die Unwissenheit, die Unschuld und die Armut zurück“.
Im zweiten „Discours“ geht es revolutionär zu. „Es verstösst gegen das Gesetz der Natur, dass eine Handvoll Menschen im Überfluss erstickt, während es der ausgehungerten Menge am Notwendigsten fehlt.“ Rousseau kritisiert das Eigentum. „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen, „dies gehört mir“ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wären dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte, „hütet euch, den Betrügern Glauben zu schenken“, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört.“
“Der Mensch wird selbstsüchtig und böse“
Zeigt er sich da nicht als Romantiker, als Anti-Aufklärer, als Naivling? Was auf den ersten Blick so wirkt, ist der Versuch, die Anfänge des Kapitalismus aufzuzeigen.
Rousseau will erklären, weshalb der Mensch egoistisch geworden ist. Im Naturzustand sei er das nicht, sondern ein friedlich lebendes Wesen. Auch als sich die Menschen zu einer „Hirtengesellschaft“ zusammentaten, lebten sie glücklich unter Gleichen. Doch dann wollten die Ersten Eigentum erwerben. So entstanden Ungleichheit und Konkurrenz. Der Mensch wurde selbstsüchtig und böse. Die Folge waren Kriege und Gewalt.
Rousseau ist nicht so naiv zu glauben, man könne das Rad zurückdrehen. Die beiden „Discours“ sind eine Kritik an der entstehenden „Bourgeoisie“. Zum Schutz der Besitzenden werde eine politische Ordnung geschaffen, die vor allem den Besitzenden nützt.
Ist Gerechtigkeit möglich?
Rousseau hat gelitten darunter, dass man ihn als weltfremden Träumer bezeichnete. An diesem Ruf ist er nicht unschuldig. In seinem Erziehungsroman „Emile“ verlangt er, dass Kinder keine Bücher lesen und nur auf dem Land erzogen werden sollten.
Es gehört zu den Seltsamkeiten, dass Rousseau, der in seiner Kindheit nur von Büchern lebte, sie jetzt als schädlich brandmarkt. Ebenso seltsam ist, dass der Super-Intellektuelle Zeit seines Lebens die Intellektuellen hasst.
Rousseau betrachtet die Gelehrten, die Wissenschaftler und Künstler als Wegbereiter des Fortschritts, einer zügellosen Entwicklung, des Egoismus und damit des Zerfalls.
Ist in dieser Konkurrenzgesellschaft denn Gerechtigkeit und Gleichheit überhaupt möglich? In seinem „Gesellschaftsvertrag“, dem „Contrat social“, entwirft er ein utopisches Staatsgebilde, an das er selbst nicht glaubt. Alle Bürger müssten dazu gebracht werden, auf das Wohl aller hinzuarbeiten. Ein Gesetzgeber solle entsprechende Gesetze vorschlagen, die von allen akzeptiert würden. Jeder verzichtet auf seinen egoistischen Eigenwillen und hat nur das allgemeine öffentliche Wohl im Sinn.
Kein Demokrat im heutigen Sinn
Mit unserer Demokratie hat das wenig zu tun. „Rousseau kann meines Erachtens nicht der Theoretiker der Demokratie der modernen Industriegesellschaft sein und er wollte es auch gar nicht“, schreibt Iring Fetscher, einer der besten Rousseau-Kenner.
Rousseau befürwortet die sogenannte Identitätsdemokratie. Regierte und Regierende sind identisch. Bürgerinnen und Bürger müssen sich freiwillig dem Gemeinwillen unterwerfen. Diese Forderung hat Rousseau den Vorwurf eingetragen, er ebne den Weg für Diktatoren.
Im Gegensatz zur „Identitätsdemokratie* steht unsere heutige Konkurrenzdemokratie. In offenen Auseinandersetzungen sollen per Mehrheitsbeschluss Entscheidungen herbeigeführt werden.
Davon hält Rousseau nichts – auch nicht von politischen Parteien oder Interessenverbänden. Diese dürfe es nicht geben. Sie seien auch nicht nötig, denn alle Bürger würden ja am gleichen Strick ziehen. Wer es nicht tut, muss auf den richtigen Weg gebracht werden. Also: zum Glück gezwungen werden. Also: erzogen werden, umerzogen. Da heulen Rousseau-Kritiker auf. Das Wort „Erziehungsdiktatur“ fällt.
Da laut Rousseau Volk und Regierung identisch sind, hat das Volk die grösste Macht. Eine Repräsentativ-Demokratie, also der Parlamentarismus, lehnt er ab. Vielleicht auch deshalb, weil er ahnt, dass Parlamentarier nicht nur Gutes im Sinne haben könnten. Dachte Rousseau schon an Schmiergelder, schwarze Kassen und Lobbys?
Rousseau gibt zu, dass sein Modell nur für Kleinst-Staaten gelten könnte. Das Volk müsste aus gleichgesinnten, sozial gleichstehenden Menschen bestehen, aus „einem Volk von Göttern“.
“Anspruchsvoller Freiheitsbegriff“
Er weiss, dass sein lokales Demokratie-Modell in einer komplexen, globalisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft keine Chance hat. Wie würden multinationale Konzerne mit der von Rousseau geforderten Identitäts-Demokratie zusammenpassen?
Auch wenn sein Demokratie-Modell utopisch ist: Er hat als Erster die Tür zur Demokratie weit aufgestossen. Die Freiheit des Individuums ist für ihn das höchste Gut. Und vor allem: Nicht ein König oder ein Aristokrat sollen über die Menschen entscheiden, sondern die Menschen selbst.
„Kein politischer Philosoph hat einen anspruchsvolleren Freiheitsbegriff als Rousseau“, schreibt der deutsche Philosophieprofessor Wolfgang Kersting, „und keiner hat der politischen Welt auch mit der Aufgabe der Freiheitsbewahrung eine drückendere Hypothek aufgebürdet.“
Rousseau selbst ist überzeugt, dass Monarchie und Aristokratie überwunden werden. „Ich halte es für unmöglich, dass die großen europäischen Monarchien sich noch lange halten werden, sie alle haben ihre Glanzzeit hinter sich, und jeder Staat, der geglänzt hat, ist im Niedergang.“
Er spürt, dass auch im Frankreich von Ludwig XV. und seiner Pompadour die Revolution in der Luft liegt. Sie kam dann 1789, 13 Jahre nach seinem Tod. Dass alles so schnell geht, hat er wohl nicht geahnt. Er glaubt auch nicht an eine baldige, echte Republik. Und vor allem ahnte er nicht, dass während des jakobinischen Terrors Tausende in seinem Namen abgeschlachtet werden, weil sie sich nicht dem „Gemeinwillen“ unterwerfen.
Gegner der Globalisierung?
300 Jahre nach seiner Geburt werden manche Postulate Rousseaus neu und kontradiktorisch diskutiert.
Sind grosse Staatsgebilde sinnvoll? Rousseau ist der Ansicht, dass es überschaubare politische Strukturen braucht. Nur so können die demokratischen Rechte und Pflichten der Bürger fruchtbar ausgeübt werden. Nur so auch könnten die Menschen friedlich zusammenleben. Rousseau wäre sicher ein Gegner der Globalisierung, der anonymen Wirtschaftsproduktion gewesen. Doch es ist wohl gewagt, wenn Rousseaus Ansichten heute als Aufruf zur Re-Nationalisierung und als Absage an die EU gedeutet werden.
Für Bürokraten in grossen Staatsgebilden hat er ein schlechtes Wort übrig: „Ein Mann, den der Staat für sein Nichtstun besoldet, unterscheidet sich durch gar nichts von dem Strassenräuber, der auf Kosten der Reisenden lebt“.
Rousseau selbst bezeichnet seinen Erziehungsroman „Emile“ als sein wichtigstes Werk. Es ist ein Wendepunkt in der Pädagogik. Pestalozzi wird das Buch später loben. Manche bezeichnen es als „Schlüsselwerk unserer Zivilisation“. Viele verstehen es auch als Aufruf zur antiautoritären Erziehung.
„Emile“ fordert eine Erziehung ohne Zwang. „Gebt die Erziehung dem Kind zurück“. Durch Erfahrung müssten die Kinder lernen, nicht durch Vorschriften. Etwa so: Da schlägt ein Knabe mit dem Ball die Fensterscheibe seines Zimmers ein. Der Erzieher tadelt ihn nicht. Im Winter wird es kalt im Zimmer. Der Knabe friert, er merkt aus Erfahrung, dass er keine Scheibe einschlagen soll.
Gegen Fortschrittsgläubigkeit
Aktuell sind heute auch Rousseaus Warnungen vor den Konsequenzen einer ökonomisch-industriellen Überhitzung. Er wäre wohl ein Kritiker der Überindustrialisierung in den grossen Ballungszentren. Sicher hätte er ökologisch ausgewogene, umweltfreundliche Produktionsmethoden, die im Gleichgewicht zur Natur stehen, befürwortet. Er war ein Anhänger dessen, was wir heute kleine Öko-Systeme nennen. Das Wort „Nachhaltigkeit“ hätte sicher zu seinem Wortschatz gehört. Vor allem aber kritisiert er Gier, Ausbeutung, zügelloses Wachstum und Fortschrittsgläubigkeit.
Der sogenannte Fortschritt auf technisch-kulturellem Gebiet bringe den Menschen nur Unheil und Zerfall. Doch dieser Fortschritt sei nicht mehr zu bremsen. Die Geschichte der Menschheit sei eine Geschichte des Zerfalls. Rousseau ist stets ein Pessimist.
Dieser Pessimismus wächst mit dem Alter. Mit 50 Jahren beginnt er seine Lebensbeichte zu schreiben, die „Confessions“. Darin breitet er sein Gefühlsleben offen aus. Er listet seine Fehler auf; viel Intimes kommt zur Sprache. Das Bild, das er von sich zeichnet, ist nicht das Bild eines selbstbewussten Philosophie-Stars. Er beschreibt sich als kränkelnder, oft unsicherer und immer suchender Einzelgänger. Die „Confessions“ wurden ihm als Exhibitionismus ausgelegt. In erster Linie sind sie eine Beichte. Er will seine Gefühle und Fehler offen legen und die Leser um Verzeihung bitten.
Keine Freunde mehr
Auch Alltägliches beschreibt er. Er liebt es, beim Essen zu lesen. „Ich verschlang abwechselnd eine Seite und einen Bissen. Es ist, wie wenn mein Buch mit mir speiste.“
Er beschreibt auch die „unglaublichen Schwierigkeiten, in meinem Kopf meine Gedanken zu ordnen“. Das äussert sich auch in seiner „écriture de cochon“, seiner Schrift. „Meine Manuskripte sind durchgestrichen, hingeschmiert, mit vielen Einschüben, unlesbar. Sie bezeugen die Mühe, die sich mich gekostet haben“.
Er wird immer verbitterter und reizbarer. „Mein Ohrensausen hat mich seit dreissig Jahren nicht eine Minute verlassen.“ Er verliert seine Freunde. „Sobald ich einen Namen hatte, hatte ich keine Freunde mehr“.
Gegen Schluss seines Lebens sagt er: „Ich habe für diese Welt nichts mehr zu hoffen, noch zu fürchten. Ich erwarte von den Menschen nichts mehr als Beleidigungen, Lügen und Verrat."
„Ich habe den Menschen die Wahrheit gesagt. Sie haben sie schlecht aufgenommen. Jetzt sage ich nichts mehr“.