Vor kurzem ist die tausendseitige Biografie des Bonner Historikers Hans-Peter Schwarz über den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl erschienen. Der Altkanzler, der heute im Rollstuhl sitzt und nur noch beschränkt sprechen kann, ist dieser Tage zur Erinnerung an seinen Regierungsantritt vor 30 Jahren von seiner Partei und den Medien gross gefeiert worden. Ein kenntnisreicher Rezensent hat die Biografie von Schwarz in der „Zeit“ mit der Bemerkung gelobt, sie sei „die erste wirklich ernsthafte Annäherung an das Rätsel namens Helmut Kohl“. Stellt sich die Frage: Können Biografien überhaupt mehr leisten? Ist eine historische Persönlichkeit – irgendeine Persönlichkeit – je bis in die hintersten Seelenwinkel erfassbar? Können wir trotz Dutzenden von Biografien definitiv wissen, was in Napoleon genau vorging, was die innersten Motive eines Stalin waren, was Churchill bei dieser oder jener Entscheidung bewegte? Rätsel bleiben immer übrig. – Weshalb aber sind Biografien heutzutage so gefragt? Weil sie bei aller Unvollkommenheit dem Zeitgenossen oft authentischere Einblicke in komplexe Wirklichkeiten und Bewusstseinslagen vermitteln als abstrakte Analysen und ideologische Deutungsmuster. Schwarz nennt seine Kohl-Biografie bescheiden einen „gut informierten Zwischenbericht“ – wohl wissend, dass apodiktische Urteile im Fluss der Geschichte kaum je gültig bleiben. Eine Mahnung auch an uns Journalisten vor vorschneller Besserwisserei. (Reinhard Meier)