Was manchen historisch versierten Ökonomen verwundern mag, ist der rapide Verfall des Euro, der ja eigentlich erst im zwölften Jahr seines Lebenslaufes angekommen ist. Demnach sollte er also noch rund 50 Jahre vor sich haben. Das ist allerdings nicht der Fall, was an zwei Dingen liegt:
Zunahme der Ungleichgewichte
Erstens war die Euroeinführung keine Währungsreform, sondern eine schlichte Ummünzung. Preise, Vermögen und Schulden wurden im jeweils gleichen Verhältnis umgetauscht, und damit sämtliche seit dem letzten Weltkrieg angehäuften Altlasten eins zu eins mitgezogen. Der Euro startete also nicht mit einem Jahr Null sondern mit seinem Jahr 55.
Zweitens kam ein weiterer verheerender Effekt hinzu, nämlich die bekanntermassen massiven Ungleichgewichte zwischen den hoch produktiven Nord- und den weniger entwickelten Südländern. Diese wurden auch durch Schröders „Agenda 2010“ stetig weiter vergrössert. Denn die Agenda 2010 bedeutete nichts anderes, als dass die Produktivität der deutschen Industrie durch Lohnverzicht und um den Preis zunehmend prekärer Arbeitsverhältnisse im Lande auf Kosten der Konkurrenzfähigkeit der Südländer noch weiter gesteigert wurde.
Dadurch konnten sich zum Beispiel in Griechenland deutsche Supermarktketten breit machen, was nun bedingt durch den gleichen Wert des Euro in allen Ländern noch profitabler wurde und so die einheimischen traditionellen Lebensmittelhändler in den Ruin trieb. Ganz zu schweigen von der Konkurrenzsituation der vielen hochtechnisierten Produkte der deutschen Maschinenindustrie oder auch selbst der Dienstleistungsbranchen.
Die Ausplünderung
Die Folgen sind nun zu bewundern, wobei die Politik bislang allerdings häufig nur den weniger fundamentalen, wenn auch ähnlich verheerenden, Effekt der divergierenden Produktivität wahrnimmt. Im Prinzip ganz richtig, denn solche Ungleichgewichte verlangen nach massiven Finanztransfers zwischen den Ländern, von Reich nach Arm, statt wie bislang von Arm nach Reich.
Zur Einebnung der Produktivitätsunterschiede bietet sich etwa an, entweder die Einkommen (=Löhne, Renten, Sozialleistungen etc.) in den Südländern massiv zu senken (Austeritätspolitik) und/oder andererseits, dieselben in den Nordländern massiv nach oben zu treiben. Natürlich stürzte man sich zunächst nur auf die faktische Ausplünderung der arbeitenden Bevölkerung, vor allen Dingen im Süden, aber auch im Norden.
So nur zum Beispiel etwa die Rente mit 67, und, obwohl noch gar nicht vollständig umgesetzt, mehren sich sogar schon die Stimmen für die Rente mit 69 oder 70. Um es ehrlich zu sagen, es geht de facto um die Abschaffung der „unproduktiven“ Rente bis hin zu einem Restfeigenblatt, um die „soziale“ Marktwirtschaft nicht für jedermann erkennbar ganz nackig da stehen zu lassen. Nebenbei betreibt man die Idee des unlimitierten Finanzausgleiches zwischen den Ländern via ESM, Eurobonds, Staatsanleihenselbstankäufen durch die EZB oder auch über die unausgeglichenen Target2-Kredite.
Milchmädchenrechnung
Alles das, was bisher nur unter Verbiegung der EU-Verträge und Rechtsbeugungen an der Verfassung durchgeführt werden konnte, soll in absehbarer Zeit durch den Euphemismus „Mut zu mehr Europa“ in scheinbar rechtskonforme Automatismen überführt werden. Die Erwartung ist dann, dass man im Fortgang der Dinge dann erneut zu Wachstumswunderzeiten in der EU gelangt, wo die jetzt angehäuften Schuldenberge quasi wie von selbst wieder egalisiert würden.
Allerdings hat man dabei, fixiert auf „mehr Europa“, eine Milchmädchenrechnung aufgemacht die nicht funktionieren kann. Um das zu sehen, das muss man zugeben, bedarf es allerdings schon etwas mehr Einsicht in subtile finanzökonomische Zusammenhänge, als man es fairerweise von der Mehrzahl der politischen Entscheidungsträger erwarten darf.
Denn „mehr Europa“ alleine kann überhaupt nichts am Fundamentalproblem ändern: Das viel zu hohe Verhältnis von Vermögen und Schulden zum gesamten BIP der Euro-Staaten. Denn das war schon zu Beginn des Euro viel zu hoch und hat für die EU-17 die 300%-Grenze ebenfalls schon weit überschritten: Einem BIP von rund 9'500 Mrd. Euro stehen Vermögen und Schulden in Höhe von rund 35'000 Mrd. Euro gegenüber. Leicht einsehbar, auch für Nicht-Ökonomen, ist natürlich, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, ob man die Schulden zusammenlegt oder nicht: Sie werden dadurch in der Summe um keinen Cent geringer, der EU-Kapitalkoeffizient von zur Zeit ca. 350% kein bisschen weniger.
Wachstum, Vermögen, Schulden
Ökonomisch etwas subtiler dagegen ist die Frage, ob denn ein neu generiertes BIP-Wunderwachstum im politisch vereinigten „Mehr-“-Europa die Krise heilen könnte, indem es die Schulden wenigstens tragbar oder gar rückzahlbar machen könnte? Eine Frage, die jeder begeisterte Europa-Politiker ohne Umschweife mit Ja beantworten würde, wobei jeder Zweifel als unangebracht und jeder Zweifler als Antieuropäer gemassregelt wird. Erneut dummerweise, und auch das kann man schon ohne grosse mathematische Kenntnisse durch einen einzigen Blick auf die Realzahlen sehen: Nein, es ist leider völlig unmöglich!
Denn, wie man leicht einsieht: Was schafft Vermögen? Wachstum. Was schafft Schulden? Vermögen. Ja natürlich, denn jedes BIP-Wachstum vergrössert in unserem System natürlich die Vermögen, was auch sonst?, und damit braucht es über die Aktiva-Seite der Bankbilanzen immer wenigstens einen, der bereit ist, sich in entsprechendem Masse zu verschulden.
Im Zweifelsfall ist das natürlich immer der Staat. Und, aufgrund des rasant gestiegenen Kapitalkoeffizienten, ist die Menge der notwendigen neuen Schulden pro neuem Wachstums-Euro inzwischen bei zusätzlichen 5 Euro und mehr angelangt. Die folgende Graphik zeigt den sogenannten marginalen Koeffizienten der Schuldenzuname mit dem BIP-Wachstum dCAP/dGDP, was den Traum vom heilenden Wachstum als politischen Wunschtraum ohne ökonomische Grundlage entlarvt.
Selbst Wachstum würde also die Misere nicht verbessern, sondern sogar noch verschärfen. Aber Gemach, auf Grund des sowieso schon viel zu hohen Renditedruck ist ein solches Wachstum in der EU eben auch gar nicht mehr möglich. Die Lösung liegt natürlich, wie immer in der langen Geschichte der Menschheit, in Vermögens- gleich Schuldenvernichtung.
Der Fall Zypern
Der Fall Zypern deutet erstmals in der inzwischen langen Kette der „Einzel-“ und „Sonderfälle“ der „Eurorettung“ in die prinzipiell richtige Richtung: Banken und Investmentvermögen abzuwickeln, d.h. ersatzlos zu vernichten, anstatt die Lasten der Renditeforderungen auf die arbeitende Bevölkerung umzulegen. So geschehen auch schon in Island, das sich nach einem demokratischen Volksentscheid dazu entschloss, die ausländischen Gläubiger ihrer aufgeblähten Banken nicht mehr zu bedienen. Ein Schritt, der so oder so dem gesamten Euroraum bevorsteht. Nicht weil es ideologisch bedingt gefordert würde, sondern weil es eine schlichte Notwendigkeit des Wirtschaftssystems ist.
Selbst wenn man nichts dergleichen tun möchte, das System reguliert sich in absehbarer Zeit dann „von selbst“: Entweder per Inflation und/oder kriegerischen Auseinandersetzungen, national und international. Eine Erkenntnis, die gar nicht so neu ist, die aber leider schnell verdrängt und in Vergessenheit geraten ist. Der deutsche Sparkassenverband warnte schon eindrücklich in seiner Kundenzeitschrift im Jahre 1891, gut zwei Jahrzehnte vor der Katastrophe des Ersten Weltkrieges: "Die Ursache für das Sinken des Zinsfusses wird vorzüglich darin gefunden, dass die besonders rentablen Capitalanlagen grossen Massstabes heute erschöpft sind und nur Unternehmungen von geringer Ergiebigkeit übrig bleiben... So spricht denn alles dafür, dass wir noch einem weiteren Sinken des Zinsfusses entgegensehen. Nur ein allgemeiner europäischer Krieg könnte dieser Entwicklung Halt gebieten durch die ungeheure Capitalzerstörung, welche er bedeutet."
Militärmacht = Wirtschaftsmacht
Geschichte wurde im allgemeinen immer im Sinne der Herrschenden geschrieben. Der Fürst als glänzender Held und Feldherr, der Aufstieg und Fall der Mächte als Abfolge von heldenhaften Auseinandersetzungen und Kriege um Ressourcen. Der ökonomische Aspekt dieser Geschichte wurde dagegen regelmässig vernachlässigt, ja kaum wahrgenommen.
Militärmacht ist aber immer gleich Wirtschaftsmacht, ein noch so grosses Imperium wird unhaltbar, wenn es nicht mehr in der Lage ist, seinen dafür notwendigen Militärhaushalt zu finanzieren. Genau diesen Effekt, der auch das römische Weltreich in die Knie zwang, können wir nun bei den USA beobachten. Mit dem Wachstum der Vermögen tut sich zunehmend die Schere zwischen Arm und Reich auf, die faktische Macht im Staate wandert von den Produzierenden zu den Kapitaleignern.
Zivilisatorisch möglich, kulturell unmöglich
Letztere dagegen können sich erfolgreich vor nennenswerten Steuerabgaben retten, während das BIP und damit auch der Staat zunehmend unter Druck und Steuernot geraten. Am Ende stehen dann auch keine ausreichenden Mittel mehr zur Verfügung, um den Staat vor äusseren Gefahren zu schützen. Der Untergang ist programmiert.
Diesen uralten Teufelskreis erstmals zu durchbrechen, die intellektuellen Fähigkeiten hätte die Menschheit in diesem Jahrhundert eigentlich. Das vorzuziehen, was nach einem absehbaren (Welt-)Krieg sowieso kommt, eine unparitätische Währungs- und Besitzreform, wäre der Königsweg. Was zivilisatorisch möglich wäre, ist kulturell jedoch faktisch unmöglich. Stattdessen wird man weiter wurschteln bis zum bitteren Ende. Zypern ist dabei nur der Anfang des Weges in die prinzipiell einzige und richtige Richtung, aber natürlich noch nicht das Ende.
„Ist der Euro also noch sicher?“, eine rhetorische Frage die somit leichter zu beantworten ist: Nein, er war wie jede Währung noch nie sicher, und angesichts seiner Geburtsfehler ist er eine Währung, die sogar ungewöhnlich schnell dem Verfall anheim geht. Wer die Europäische Idee dabei nun politisch zwangsläufig mit dem Euro verbindet, begeht in seiner Blindheit allerdings einen historisch fürchterlichen Fehler: Es geht keineswegs mehr um Europa und den Euro, sondern nur noch um Europa oder den Euro. Entscheiden Sie selbst.
Der erste Teil erschien im Journal 21 am 31. März 2013
Heribert Genreith ist Referent im Bundesministerium des Inneren, Bonn, und wissenschaftlicher Leiter des Beratungsunternehmens IFARA. Genreith studierte zunächst Geschichte, Germanistik und Philosophie, wechselte zur Geophysik, Abschluss in Theoretischer Plasmaphysik mit Modellrechnungen zu Elektromagnetischen Wechselwirkungen des Jupiters mit seinem Mond Io. Von Heribert Genreith liegt auch ein Lehrbuch zur Allgemeinen Relativitätstheorie vor. Er schreibt regelmässig einen Blog