Die Piraten sind nicht zu fassen. Es gibt keine politische Kategorie, unter die man sie stellen könnte. Selbst der vage Versuch, sie dem Anarchismus zuzurechnen, scheitert. Denn der Anarchismus hatte Fluchttendenzen: „Wandern wir aus dem Kapitalismus aus“, formulierte unnachahmlich der bayerische Feingeist Gustav Landauer, der wegen seiner vermeintlich linken politischen Orientierung am 2. Mai 1919 von Freikorps-Soldaten in der Haft totgeschlagen wurde.
Die Nesthocker der Gesellschaft
Der amerikanische Anarchist Henry David Thoreau – seine Programmschrift hiess: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ – entwarf in seinem Werk „Walden. Oder das Leben in den Wäldern“ die Utopie eines zwanglosen Neubeginns, die über Jahrzehnte hinweg führende politische Köpfe inspiriert hat - von Mahatma Gandhi bis Martin Luther King. Bis zu den Piraten reicht diese Inspiration aber nicht. Dazu sitzen sie viel zu breit und selbstverständlich auf ihren Stühlen.
Denn im Prinzip sind sie mit unserer Gesellschaft so innig verbunden wie Nesthocker mit ihrem Elternhaus. Allein der Mangel an „Transparenz“ und „Mitwirkungsmöglichkeiten“ missfällt ihnen. Kein Mensch käme auf die Idee, den Piraten zu unterstellen, sie würden in anarchistischem Überschwang gewaltsam ihre Ideen durchsetzen wollen. Denn dazu müssten sie erst einmal Ideen haben. Zudem fehlt den Piraten jegliche Stossrichtung. Daher kann von ihnen keine Gewalt ausgehen.
Das Ressentiment
Was geht aber dann von ihnen aus? Ganz offensichtlich faszinieren sie in Deutschland auf Länder- und Bundesebene bis zu zehn Prozent der Wähler. Sie finden diesen starken Zuspruch, ohne irgendetwas zu versprechen. Aber sie bedienen mit ihrer Bekämpfung des Urheberrechts ein weit verbreitetes Ressentiment. Dieses Ressentiment richtet sich gegen alle, die sich erdreisten, ihre geistigen Leistungen als solche zu deklarieren und ihre Nutzung nicht demütig einfach zu verschenken. Die Missachtung geistiger Leistung und geistigen Eigentums hat sich schon in der Plagiats-Affäre um den ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg gezeigt. Auch da war eine Mehrheit bis hin zur Kanzlerin der Meinung, dass man doch kein Theater um geistige Produktivität beziehungsweise geistigen Diebstahl machen solle.
Tatsächlich stehen die Piraten den etablierten Parteien viel näher, als ihr Erscheinungsbild vermuten lässt. Sie repräsentieren nur die andere Seite derselben Medaille. Der Unterschied besteht allein darin, dass bei den etablierten Parteien der eklatante Mangel an Konzepten ein Manko, bei den Piraten aber gerade eine Stärke ist. Darin besteht ihre Marke. Sie punkten mit einem Programm ohne Programm.
Was sollen wir wollen?
Auf ihrem Parteitag in Neumünster am letzten Aprilwochenende wählten sie einen neuen Vorsitzenden, Bernd Schlömer, der seine Aufgabe allein darin sieht, der Partei einige wenige Strukturen zu verpassen und ansonsten die Meinungen der Mitglieder zu bündeln. Einer seiner Stellvertreter, Jürgen Erkmann, sagte bei seiner Bewerbung: „Wenn ich zum Vorsitzenden gewählt werde, werde ich keine eigene Meinung haben.“ Als Schlömer sich vor der Presse sehr allgemein über die Zusammenarbeit mit ihr geäussert hatte, fragte er zurück: „Gut gesagt, ne?“
Aber eine Partei muss doch, so dachte man jedenfalls bislang, irgendetwas wollen. Die bisherigen Parteien haben Namen, die in die Richtung ihrer Programme deuten, auch wenn diese Namen „nie ganz stimmen“, wie Friedrich Engels einmal süffisant anmerkte. Bewahrung der Werte, Umweltschutz, Demokratie oder freie Wirtschaft: Das sind die Anliegen, um derentwillen Parteien Mitglieder werben. Aber die Piraten wollen nur sich selbst. Was sie sonst noch eines Tages wollen oder nicht wollen, wissen sie jetzt noch nicht, und das ist ihnen auch egal. „Wir sind wir“, lautet die Botschaft, die ankommt. Und damit liegen sie gleich zweifach im Trend der Zeit.
Müllhaufen der Geschichte
Zum einen spielen bei den etablierten Parteien Programme oder ihre „Identität“ eine immer geringere Rolle. Der Pragmatismus einer Angela Merkel hat die CDU/CSU in ihr Gegenteil verkehrt, wobei Merkel ihr Vorgehen mit dialektischer Finesse erklärt: Wenn sich die Zeiten änderten, müsse man um der Werte willen, für die man stehe, eben ganz andere Positionen als bislang vertreten. Ähnlich hat Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 die SPD entkernt, und Guido Westerwelle hat die FDP auf einen Klientelismus ohne Wenn und Aber reduziert. Die Piraten haben offenbar von diesen Parteien gelernt, dass es klüger ist, von vornherein auf Programme zu verzichten, da man sie später sowieso auf den Müllhaufen der Geschichte wirft.
Am besten hat das Angela Merkel begriffen. Sie sieht in der Entwicklung der Piraten einen „interessanten“ Vorgang. Den erläutert sie so: „Die Piraten sind eine relativ neue Partei, die das politische Spektrum jetzt noch vielfältiger macht.“ Gefragt, was denn diese Vielfalt inhaltlich bedeute, antwortete die Kanzlerin: „Die Piraten machen dabei deutlich, dass sie auf viele Fragen noch gar keine Antwort haben, sondern erst anfangen, sich dazu eine Meinung zu bilden.“ Auf jeden Fall sieht sie in den Piraten einen „Ansporn“.
Formung durch Forderung
Im Trend der Zeit liegen die Piraten auch mit ihrer Vulgarisierung der Politik. Als grösster Horror steht ihnen der Weg der Grünen vor Augen. Als die in 1980er Jahren die politische Bühne betraten, waren Umweltschutz und Verteidigung der Grundrechte ihre zentralen Anliegen. Ihr Hauptgegner war das politische Establishment, und ihre Hauptwaffe war die gezielte Provokation durch ihre Kleidung und noch mehr durch ihre Reden. Ihr grösstes Handicap war ihre basisdemokratische Organisation, die zum Beispiel in der Bundestagsfraktion der Grünen regelmässig zu Debatten bis weit nach Mitternacht und entsprechender Ineffizienz führte. Das heutige Erscheinungsbild der Grünen weist darauf hin, dass sie damals nicht den Weg in die Vulgarisierung eingeschlagen haben.
Denn die Grünen standen und stehen für etwas, das sie forderte und fordert. Sie massen und messen sich an ihren Zielen. Bei den Piraten klingt das anders. Fragen zur Ökologie werden etwa so beantwortet: „Damit habe ich mich noch nicht konkret beschäftigt, ist aber ein interessantes Thema.“ Oder es gibt einen Verweis auf „Experten“, die aber nicht bei den Piraten gesucht und gefunden werden.
Praktizierter Zynismus
Vulgarität liegt im Verzicht auf alles, was eine Herausforderung sein könnte. Nur sich selber wollen, sich keine Ziele setzen, keine Experten und keine Eliten zulassen: Das ist vulgär. Die Ablehnung fordernder Massstäbe liegt im Zug der Zeit, wie der Philosoph Norbert Bolz und der Trendforscher David Bosshart in ihrem Buch „Kult-Marketing“ schon 1995 dargelegt haben. Den Erfolg der Piraten können am besten diese Trendforscher erklären. Denn sie beschreiben, wie sich das Marketing und damit auch die Politik konsequent am jeweils massentauglichsten Massstab orientieren. Nur das, was noch der Letzte in der Klasse versteht und worauf er „abfährt“, bringt das Maximum an Rendite und Zustimmung.
Das zu durchschauen und planmässig danach zu handeln, ist praktizierter Zynismus. Den Piraten kann man zugute halten, das sie nicht begreifen, was sie tun. Deswegen sind sie keine Zyniker. Sie ahmen in gebrochener Weise das Handeln der etablierten Politiker nach und bilden sich dabei ein, etwas Neues zu erfinden. Aber sie sind genauso leer wie „die da oben“. Nur dass die praktizierenden Zyniker der Macht in den ersten Reihen noch ein bisschen cleverer sind und sich keinen Deut um die Inhaltsleere der Piraten scheren, sondern gerade darin ihre grosse Chance wittern. Denn wegen der Invalidität der FDP braucht man einen Joker.