Eigentlich hatte Nabil al-Raee nichts Böses erwartet. Nach der Ermordung von Juliano Mer-Khamis, seines Vorgängers als künstlerischer Leiters des "Freedom Theatre" in Jenin (Dschenin) im April 2011 war er friedlich seiner Arbeit nachgegangen (siehe auch journal21 vom 13.Juni 2012 ). Doch eines Nachts kamen israelische Soldaten und steckten ihn in "administrative Haft".
Die sollte über vier Wochen dauern. Der Vorwurf gegen den Gefangenen war an Banalität kaum zu überbieten: er habe, so lautete später die Anklage, dem (einst gesuchten) ehemaligen Kommandeur der Al-Aqsa-Brigaden in Jenin, Zacharia Zubaide, Zigaretten übergeben - mithin Kontakt zu einem einstigen "Terroristen" gehabt.
Heute, gut drei Monate später, trifft man Nabil al-Raee wieder im "Freedom Theatre" im Flüchtlingslager von Jenin. Die künstlerische Leitung will er abgeben, an seiner Stelle agiert inzwischen der Amerikaner Gary English. Nabil al-Raee ist dabei, ein "Moving Theatre" zu gründen - eine Truppe, die in den besetzten Gebieten von Dorf zu Dorf ziehen und dort durch ihre Stücke zu "kulturellem Widerstand" gegen die israelische Besatzung aufrufen will.
48 Stunden an einen Stuhl gefesselt
Man muss dem Künstler Glück wünschen - denn in Freiheit hat das Militär den Künstler nur unter einer Auflage gelassen: dass er nämlich in den ersten 12 Monaten nach seiner Entlassung nicht wieder straffällig werde. In diesem Falle drohen dem Theatermann mehrere Jahre Gefängnis - ohne vorhergehenden Prozess. Was aber "straffällig" ist - das definiert der israelische Militärkommandeur.
Spricht man Nabil al-Raee auf seine Zeit im Gefängnis an, dann muss er noch heute schaudern. In einer Einzelzelle sei er gewesen, ohne Licht von außen, in künstlich kalter Luft habe er gesessen, 48 Stunden an einen Stuhl gefesselt. Wenn er auf die Toilette habe gehen wollen, dann hätten die israelischen Wächter freundlich zugesagt - und ihn viele weitere Stunden warten lassen. Frische Wäsche? Nur ganz gelegentlich in den über vier Wochen Haft. Immerhin: direkte physische Folter wurde nicht angewandt, das israelische Militär begnügt sich mit körperlicher und psychischer Demütigung.
Blutige Rache
Weniger zimperlich zeigen sich in vielen Fällen die, so genannten "Sicherheitskräfte" der palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah. Es ist bekannt, dass sie - noch zu Lebzeiten des 2004 verstorbenen Jassir Arafats - Mitglieder der Widerstandsorganisation Hamas regelrecht foltern ließen. Es liegt in der traurigen Logik palästinensischer Kriegs-Unkultur, dass denn auch die Hamas zurückschlug: als sie in Gaza die Macht übernahm, warf sie Mitglieder von Arafats Fatah-Partei ohne Bedenken von Häusern herab und nahm dadurch blutige Rache.
Jüngstes Beispiel für das oft menschenrechtswidrige Verhalten der palästinensischen Regierung ist der Fall des Zacharia Zubeide, des ehemaligen Kommandeurs der Al-Aqsa Brigaden im Lager Jenin. So stark war sein Widerstand gegen die Israeli in der zweiten Intifada (Beginn im Jahr 2000), dass die israelische Armee ein Drittel des Lagers buchstäblich einebnete. Als vor ein paar Wochen auf den Gouverneur von Jenin geschossen wurde (der gegen die Drogenhändler der Region vorging) ließ die Autonomiebehörde ihren Landsmann Zacharia Zubeidi festnehmen und in die Kerker der Stadt Jericho schleppen - obwohl er augenscheinlich mit dem Anschlag nichts zu tun hatte.
"Die Hälfte der männlichen Bevölkerung war in israelischer Haft"
Mehrere Wochen verbrachte er dort im Hungerstreik. Erst als er drohte, auch keine Flüssigkeit mehr zu sich zu nehmen, wurde er auf Kaution entlassen. Eine Anklage wurde lange nicht formuliert. Manche vermuten, dass Mahmut Abbas, der palästinensische Präsident, durch die Verhaftung des ehemaligen Widerstandskämpfers eine alte Rechnung begleichen wollte: Abbas nämlich hatte sich stets gegen bewaffnetes Aufbäumen gegen die Besatzung ausgesprochen. Zacharia Zubeide aber hatte zu den Waffen gegriffen.
Die meisten Gefangenen aber sind Palästinenser in israelischen Gefängnissen. Julia Kessler ist Sprecherin von Addameer, eine Nicht-Regierungsorganisation in Ramallah, welche sich um gefangene Palästinenser kümmert. "Die Hälfte der männlichen Bevölkerung Palästinas", sagt sie, "ist schon einmal in israelischer Haft gewesen." (Die gesamte Bevölkerung im Westjordanland, Ost-Jerusalem und Gaza beträgt etwa 4,5 Millionen Palästinenser). Heute säßen noch 4606 Palästinenser in den Gefängnissen der Besatzungsmacht.
Die palästinensische Fahne ist verboten
Mit insgesamt 1651 Militärdekreten regiert Israel alle besetzten Gebiete. Diese Erlasse gelten auch für jene Städte der Zone A, die - gemäß des Abkommens von Oslo aus den Jahren 1993 und 1995 voll unter ziviler und polizeilicher Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde stehen. Dekret 1651 zufolge kann das Militär jeden bis zu sechs Monaten verhaften, bei dem eine "vernünftige Annahme" besteht, dass "die Sicherheit des Gebietes oder die öffentliche Sicherheit die Verhaftung erfordern". Kurz vor oder auch am Tag des Auslaufens des Gefängnisaufenthaltes kann der Internierungsbefehl erneuert werden.
Es gibt noch weitere, vom Standpunkt westlicher Rechtsstaaten bedenkliche Regelungen in den besetzten Gebieten. Israelische Siedler etwa unterliegen dem zivilen Rechtssystem Israels, Palästinenser der besetzten Gebiete müssen sich vor Militärgerichten verantworten. Politische Aktivitäten werden, sagt Julia Kessler, "kriminalisiert". "Sogar die Fatah (Partei gegründet von Jassir Arafat, d.A.) ist als illegale Organisation definiert - ebenso humanitäre Organisationen, die mit der Fatah verbunden sind. Demonstrationen von mehr als zehn Personen sind verboten, ebenso das Zeigen der palästinensischen Fahne." Palästinensische Gefangenen darf bis zu 60 Tagen der Rechtsbeistand verweigert werden, israelischen Insassen nur bis zu 21 Tagen. Alle Geständnisse werden in hebräischer Sprache abgefasst - unabhängig davon, ob der Angeklagte diese Sprache auch versteht. 99,9 Prozent aller Gerichtssprüche gegen Palästinenser enden mit einem Schuldspruch.
Schlimmer als bei den Israeli
Das alles gilt für die israelische Militärverwaltung. Addameer kümmert sich aber auch um Gefangene in palästinensischen Gefängnissen. Kooperiert die Autonomiebehörde mit Addameer? Julia Kessler ist zurückhaltend. Trotz aller Hindernisse sähe sie bei den Israeli eine Art System, das es oft möglich mache, Kontakt zu den Gefangenen aufzunehmen. Sehr viel schwerer sei es, Gefangene der Autonomiebehörde zu betreuen. "Unsere Regierung mag uns nicht sehr", sagt Julia Kessler.
Und Wesam Ahmed von "Al Haq", einer 1979 von palästinensischen Anwälten gegründeten Menschenrechtsorganisation in Ramallah, sagt frei heraus, dass Menschenrechtsverletzungen in palästinensischen Gefängnissen oft schlimmer seien als jene in israelischen. "Die Autonomiebehörde ist unsere Regierung, Israel aber ist unser Feind", fügt deprimiert hinzu.
Autonomiebehörde - Handlager der Israeli?
Am 31.Juli 2012 erschien in der Internetzeitung "The National" (Abu Dhabi) ein kritischer Bericht über die Menschenrechtsverletzungen der Palästinensischen Autonomiebehörde. Die dauerhafte Missachtung des Internationalen Rechtes durch die Autonomiebehörde zusammen mit wiederholten Missbrauch durch verschiedene palästinensische Sicherheitsdienste habe nicht dazu beigetragen, die Frustration des palästinensischen Volkes zu lindern, schreibt die Zeitung.
Tatsächlich, schreibt die Zeitung weiter, erwarteten die Palästinenser von ihrer Regierung nichts mehr als Unterdrückung der Meinungsfreiheit, eigenmächtige Verhaftungen und sogar Schlimmeres. "Manche halten die Autonomiebehörde für einen Handlanger der israelischen Besatzung", argumentiert die Zeitung. Im Dhahriyya-Gefängnis nahe Hebron säßen oft vier Häftlinge in einer Zelle, die für einen gebaut sei; allein zwölf Fälle von Folter seien in den letzten Monaten bekannt geworden, das Recht auf einen fairen Prozess würde vielen Palästinensern durch ihre eigene Regierung verweigert.
Palästina - ein Land ohne Recht? Dort, wo Israeli und Palästinenser, oft gemeinsam, die besetzten Gebiete beherrschen, tut sich oft ein erschreckendes rechtliches Vakuum auf. Ende September etwa erließ Addameer einen Hilferuf für den in einem israelischen Gefängnis sitzenden palästinensischen Gefangenen Ayman Sharawna. Seit 88 Tagen war er damals schon im Hungerstreik. Er war letztes Jahr frei gekommen - im Rahmen eines großen Austausches von Gefangenen zwischen Israel und der Autonomiebehörde. Anfang 2012 wurde er wieder festgesetzt, abermals vom israelischen Militär. Seitdem sitzt er ohne Anklage in Haft.
Die Regierungen schweigen
All diese Praktiken sind den in Tel Aviv und Jerusalem reichlich vorhandenen westlichen Diplomaten bekannt. Frage an Wesam Ahmed von der Organisation al-Haq: "Was sagen die Diplomaten aus den westlichen Demokratien, die so sehr auf die Achtung der Menschenrechte pochen, wenn sie von Zuständen hören, welche der UN-Menschenrechts-Charta krass widersprechen?" Wesam Ahmed ist schon resigniert, wenn er die Repliken der Diplomaten zitiert. "Wir werden darüber", sagen diese, "unseren Regierungen berichten."
Berichte, ehrliche sogar, schicken die Diplomaten seit Jahrzehnten. Doch ihre Regierungen schweigen.
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