Jeder hier im Gefängnis der Einwanderungsbehörde von Damaskus macht Bewegungsübungen. Besonders Eifrige durchschreiten den Korridor strammen Schrittes, zehn Meter hin, zehn Meter zurück. Andere wandeln die zehn Meter gemächlich wie beim Spaziergang auf und ab oder schlurfen alt und müde für ein paar Minuten über die grauen Fliesen. Siraç hat sich das umfassendste Fitnessprogramm auferlegt, stundenlang hastet er über den Flur. Wenn er wie jeden Morgen nach dem Abzählappell mit dreißig Klimmzügen an der Gittertüre sein Training beginnt, sieht man die langen Narben an seinen muskulösen Armen.
Flucht nach Syrien
2010 „hat mich die türkische Polizei geschnappt,“ erklärt er die Spuren schwerer Misshandlung, „in Diyarbakir“, der Hauptstadt des Kurdengebietes in der Türkei. Die Polizisten warfen dem Zwanzigjährigen vor, ein „Terrorist“ zu sein, und schlugen mit einem Rasiermesser auf seine Arme ein. Weil ihm die Ermittler nichts nachweisen konnten, entließen sie ihn schließlich. Daraufhin floh er ins 100 Kilometer östlich gelegene Batman, seine Heimatstadt. Dort tat er sich mit zwei kurdischen Freunden und einem Türken zusammen, die ähnliche Probleme mit den Polizeibehörden hatten. Vor zwölf Monaten beschlossen sie, nach Syrien zu fliehen.
Doch schon nach zwei Tagen in der syrischen Grenzstadt Al-Qamishli (türkisch Kamishli) wurden sie verhaftet, weil keiner von ihnen einen Pass oder ein Visum hatte. Nach einem Monat in einer Polizeizelle wurden sie von der Einwanderungsbehörde in Abschiebehaft genommen. Dort, so heißt es, bleiben die Insassen meist nicht länger als zehn bis 14 Tage, ehe sie von ihren Botschaften abgeholt und nach Hause gebracht werden. Ihr türkischer Freund musste nicht einmal eine Woche warten. Schon zwei Tage nach seiner Ankunft brachte ihm ein Vertreter der türkischen Botschaft in Beirut einen Pass und holte ihn ab.
Diskrimierung der Kurden
Die drei Kurden Siraç Çoban, Serhat Turk und Yuk Sel „bettelten beim Botschafter: ‘Bitte, bitte, gebt uns auch Pässe!‘“ Doch die Botschaft lehnte ab. „Sie stellen uns keine Pässe aus“, sagt Serhat, „weil wir Kurden sind.“ So warten sie nun schon seit einem Jahr auf ihre Abschiebung. Die Syrer „wollen uns loswerden“, haben sie festgestellt. Weil sie aber keine Identitätspapiere vorweisen können, wissen die syrischen Behörden nicht, wohin sie sie schicken könnten. Trotz der Gefahr, wieder verhaftet zu werden, möchten sie in die Türkei zurückkehren.
Die Türkei aber will sie nicht. Als ihre Angehörigen in Batman und Diyarbakir ihre türkischen Personalausweise an die Botschaft in Beirut schickten, „kümmerte sich dort niemand um die Angelegenheit. Dabei dürften wir unter Vorlage unserer Personalausweise ausreisen“, berichten sie: „Das haben uns die Syrer bestätigt. Aber die Botschaft ignoriert uns einfach“, sagt Siraç.
Zwar hat Ankara unter dem Druck der EU einige Gesetze erlassen, die den Kurden mehr Rechte einräumen. 2005 erklärte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in Diyarbakir, er sei bereit „Fehler und Sünden der Vergangenheit“ auszumerzen. Kurden haben nun das Recht, im Rundfunk Programme in der kurdischen Sprache zu senden und private Schulen zu betreiben, an denen in Kurdisch unterrichtet wird. Kurdische Kandidaten dürfen heute auf Kurdisch Wahlkampf führen.
„Wir sind verzweifelt“
Doch die Streitkräfte des Landes haben immer noch „großen politischen Einfluss… auch in der Kurdenfrage“, stellte die Europäische Kommission in einem Bericht fest. Nach einem Beitritt zur EU müsste die Regierung wirklich demokratisch werden und ihnen mehr Freiheiten geben, meint Siraç. So aber habe er „keine Zukunft, keine Perspektiven.“ Fünf Jahre hat er die Schule besucht, vor seinem Syrien-Abenteuer arbeitete er als Barkeeper in einer Diskothek. Sein ein Jahr jüngerer Freund Serhat ging wenigstens zehn Jahre zur Schule. Nur Yuk Sel, 26 Jahre alt, hat eine abgeschlossene Berufsausbildung. Ehe er als Kurde Probleme mit den türkischen Behörden bekam, leitete er als Koch ein Restaurant in Istanbul. Jetzt erfreuen sich die Freunde seiner Kochkünste, und die Mithäftlinge schauen bei ihm ab, wie man aus Tomaten, Gurken und Zwiebeln, die sie gekauft haben, mit Essig, Öl und Salz vitaminreiche Salate zubereitet, die die langweilige Gefängniskost aus Fladenbrot und matschigem Reisbrei aufs Köstlichste ergänzen .
„Wir sind verzweifelt“, unterbricht Serhat plötzlich Yuks Kochanweisungen. „Für uns gibt es kein morgen. Wir möchten ganz normal arbeiten, eine Familie haben und leben“, klagt er, während ihm Tränen über die Wangen laufen.
Das Recht, Rechte zu haben
Für Hannah Arendt – zwischen 1937 und 1945 selbst staatenlos – war es offenkundig, dass mit dem Verlust der Staatsbürgerschaft für den Einzelnen keine Instanz für die Garantie seiner Menschenrechte mehr einsteht, weil es Menschenrechte nur für den Nationalstaatsbürger, aber nicht für den Menschen an sich gebe. „Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben… wissen wir erst, seitdem Millionen Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen“, schrieb sie 1951 in einem Essay „Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte“.
Wenige Jahre später versuchten die Vereinten Nationen, Menschen ohne Staatsangehörigkeit diese Rechte wiederzugeben. Nach dem „Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen“ vom September 1954 „ist ein Staatenloser eine Person, die kein Staat auf Grund seines Rechtes als Staatsangehörigen ansieht.“ Nach allgemeiner Auffassung sind damit aber nur de-jure-Staatenlose gemeint. Nicht unter dieses Abkommen fallen hingegen de-facto-Staatenlose, Personen, die durchaus eine Staatsangehörigkeit besitzen, die aber von ihrem eigenen Staat rechtswidrig so behandelt werden, als seien sie nicht seine Staatsangehörigen. Unter diese letzte Kategorie fallen Siraç und seine Freunde. Sie sind wie ihre Eltern in der Türkei geboren und aufgewachsen, werden von den Behörden ihres Landes aber nicht als türkische Bürger sondern nur als Angehörige einer unerwünschten Minderheit angesehen.
Terror gegen Palästinenser
Darum haben sie keinen Anspruch darauf, als Staatenlose anerkannt zu werden. Die Ausländerbehörden der meisten Länder zögern, die Bezeichnung »staatenlos« zu akzeptieren. Sie pflegen von “ungeklärter Staatsangehörigkeit“ auszugehen. In ähnlich juristisch ungeklärten Verhältnissen lebt Thamir Ahmed, der die geräumige Zelle mit seinem Schwager, den drei Kurden sowie zehn weiteren Häftlingen aus Algerien, Marokko, Tunesien und der Türkei teilt. Seine Frau Hiba Zeidan sitzt mit den Töchtern Aya, Mear (10) und Dema (5) sowie dem zweijährigen Sohn Abdulmalek „auf der anderen Seite“, wie er sagt, im Frauengefängnis von Damaskus in Abschiebehaft. Ahmed wurde vor 44 Jahren in Bagdad geboren. Er lebte sein Leben lang in Irak, zuletzt arbeitete er dort als Bodyguard für die türkische Botschaft. Dann aber musste er fliehen. Eine Miliz habe ihn bedroht und aufgefordert, aus Irak zu verschwinden, erzählt er.
„Sie versuchten meine Kinder zu töten. Sie jagten meine Tochter Aya auf dem Heimweg von der Schule.“ Unbekannte waren der Zwölfjährigen in einem Wagen gefolgt und hatten auf sie geschossen. Das Mädchen war in ein Haus geflohen, wo es sich „eine Stunde versteckte, bis die Angreifer verschwunden waren.“ So wie in manchen Ländern Juden oder Chinesen so sind in Irak Palästinenser nicht gerne gesehen, weil sie – wie viele Gemeinschaften, die in der Diaspora leben – wirtschaftlich erfolgreicher sind. 2006 lebten noch etwa 35 000 Palästinenser in Irak, heute sind es nur noch 8000. „Die andern sind wie ich geflohen“, sagt Ahmed.
Zwischen allen Stühlen
Nach jenem Vorfall mit Aya zog er im Mai 2010 mit seiner Frau, seinen drei Töchtern, dem Sohn, dem Schwager sowie der Schwiegermutter „mit der Hilfe des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) nach Syrien.“ Dort jedoch ergaben sich neue Probleme. Da er einen irakischen Pass hatte, wollten ihn die Syrer nicht als Palästinenser und somit als Flüchtling anerkennen. Einem Palästinenser hätten die Iraker überhaupt keinen Pass ausgestellt, behaupteten die syrischen Behörden und verweigerten ihm eine Aufenthaltsgenehmigung. Darum drängte er das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge „schnell zu einer Lösung zu kommen“. Aber seit drei Jahren sagen sie: „Wir können nicht helfen. Kein Staat will euch aufnehmen. Wir wissen auch nicht, warum.“
So wurde er mit seiner gesamten Familie wegen des Fehlens einer Aufenthaltsgenehmigung von der Polizei verhaftet und zur Sicherheitspolizei gebracht, die sie schließlich in die Haftanstalt der Einwanderungsbehörde überstellte. „Dort erklärten sie uns, wir müssten Syrien verlassen.“ Und seither drohen die Syrer, ihn wieder in den Irak zurückzuschicken, wo er um sein Leben fürchten müsste. Zudem ist sein irakischer Pass inzwischen verfallen. In Syrien gäbe es über 1000 weitere Palästinenser, denen dasselbe Schicksal droht.
Uneingelöste Verpflichtungen
„Wir haben keinen Ort, wohin wir gehen können, wo wir leben können“, murmelt er resigniert. „Ohne ordentliche Dokumente bist du der Gnade von Beamten ausgeliefert, die dich nur loswerden wollen.“
Es sind Millionen, denen es wie Ahmed ergeht. Statt zu helfen und die beschlossenen Abkommen und Konventionen umzusetzen, versuchen sich die meisten Staaten aus der Verantwortung zu stehlen. Zwar bekräftigt Artikel 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die alle 193 Mitglieder der UNO bei ihrem Beitritt unterzeichnet haben, den „Anspruch eines jeden Menschen auf Staatsangehörigkeit. Artikel 24 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte regelt ferner das Recht eines jeden Kindes auf Erwerb der Staatsangehörigkeit“, macht Kristina Bautze von der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht in ihrem “Lehrbuch des Völkerrechts“ deutlich. Doch bis heute, 60 Jahre nach seiner Verabschiedung durch die UN-Vollversammlung, haben erst 84 der 193 Mitgliedsstaaten der UNO das „Übereinkommen über die Rechtstellung von Staatenlosen“ ratifiziert.
12 Millionen Staatenlose
Auch das „Übereinkommen zur Verringerung der Fälle von Staatsangehörigkeit“ von 1961 brachte bislang keine Verbesserung. Infolge von Kriegen, Missachtung ethnischer Minderheiten oder Auflösung von Staaten wie Jugoslawien oder die Sowjetunion erhöhte sich die Zahl der Staatenlosen weltweit – so schätzen die Vereinten Nationen – auf heute zwölf Millionen. Dabei werden staatenlose Flüchtlinge und Palästinenser, die in den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens von der United Nations Relief and Works Agency for Palestine betreut werden, nicht einmal mitgezählt.
Hundertausende Bidun (Arabisch „ohne Nationalität“) leben in den Golfstaaten, in Kuweit alleine sind es 200.000, Schiiten persischer Herkunft oder in Kuweit Geborene, deren Vorväter es nach Erlangung der Unabhängigkeit 1960 versäumt hatten, die Staatsbürgerschaft zu beantragen. In den Vereinigten Arabischen Emiraten ist ihnen untersagt, den Führerschein zu machen oder eine Schule zu besuchen. Sie können keine Heiratsgenehmigung bekommen und müssen als Illegale arbeiten, weil sie legal nicht arbeiten dürfen.
Ohne medizinische Versorgung
In Bahrain wird ihnen das Recht auf einen legalen Wohnsitz verweigert, ist ihnen untersagt, ein Haus zu besitzen oder bei einer Regierungsbehörde zu arbeiten. Sie dürfen zwar nicht ins Ausland reisen, können jedoch jederzeit abgeschoben und deportiert werden. Und erst neulich erließ die Regierung in Al Manamah Gesetze, die ihren Kindern den Zutritt zu staatlichen Schulen und die sonst im Land übliche freie medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen untersagt.
In Afrika, in Kenia und im Sudan werden die meisten Nubier nicht als Staatsangehörige akzeptiert. In der Elfenbeinküste gelten die Angehörigen einiger ethnischer Gruppierungen nicht als Staatsbürger. In der Westsahara kämpfen die Sahrouis seit den siebziger Jahren, als Marokko nach dem Abzug der Kolonialmacht Spanien den Wüstenstreifen besetzte und annektierte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der jugoslawischen Föderation in den neunziger Jahren führte für zahlreiche Bewohner der neuen Staaten zu Problemen um ihre Nationalität, die noch durch große Flüchtlingsbewegungen verschärft wurden.
Staatenlose Kinder
In Europa leben die meisten Roma in der Staatenlosigkeit. Im mehrheitlich buddhistischen Myanmar verweigert das Gesetz den muslimischen Rohingya die Staatsbürgerschaft. Zwar nicht de jure wie die Rohingya, aber de facto staatenlos sind die meisten der illegalen mexikanischen Immigranten in den Vereinigten Staaten. Ihnen fehlen die notwendigen Dokumente gleich zweimal. Einerseits leben sie in den USA in der Illegalität, weil sie über keine ordentlichen Einreise- und Arbeitsdokumente verfügen. Tausende Mexikaner haben aber auch nie eine Geburtsurkunde oder eine andere Bestätigung ihrer Existenz gesehen, die Konsulate in der Regel verlangen, wenn sie die Nationalität bestätigen oder Reisedokumente ausstellen sollen.
Im vergangenen Jahr entschied der Oberste Gerichtshof der Dominikanischen Republik, dass Kinder von illegal eingewanderten Haitianern ihre Staatsbürgerschaft abgeben müssen. Haitianer befänden sich grundsätzlich nur im Transit, urteilte das Gericht in einem Entscheid, der für alle nach 1929 Geborenen und deren Nachkommen gültig ist. „Das ist ein schreckliches Verbrechen“, wetterte Myrtha Desulme, die Präsidentin der haitianischen Diaspora in Lateinamerika und forderte einen internationalen Boykott gegen Santo Domingo. Der Ministerpräsident von St. Vincent und den Grenadinen rief nach Wirtschaftssanktionen.
Nepal mit seinen über 100 verschiedenen ethnischen Gruppen und Kasten hat nach UN-Angaben in den letzten Jahren „weltweit die größte Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit“ erreicht. Doch sogar unter den 27,5 Millionen Nepalesen leben immer noch 800.000 Menschen, deren Nationalität ungeklärt ist, weshalb sie staatliche Leistungen nicht in Anspruch nehmen können.
„Refugee Certificate“
Ahmed indes ist immerhin inzwischen „anerkannt als Flüchtling vom Hochkommissar für Flüchtlingsfragen der Vereinten Nationen“. Fragenden Blickes reicht er ein schon oftmals geöffnetes und ebenso häufig wieder zusammengefaltetes Papier, sein „Refugee Certificate“, ausgestellt am 11. Juni 2013, in dem die UN-Stellen um Hilfe bitten: „Als Flüchtling ist er oder sie eine Person, die unter die Zuständigkeit des Büros des UNHCR fällt und besonders vor der gewaltsamen Rückkehr in ein Land, wo sein oder ihr Leben oder sein oder ihre Freiheit bedroht sind, beschützt werden sollte. Jede Hilfe, die der oben genannten Person erwiesen wird, würde sehr begrüßt.“
Ahmeds Zellenfreund Mohammad Irshad hat schon vor langem jede Hoffnung aufgegeben. Er war vor 27 Jahren in Muzaffarabad im pakistanisch besetzten Teil Kaschmirs, den Islamabad „free Kashmir“ nennt, geboren worden. Nachdem er bei dem schweren Erdbeben 2005 seine ganze Familie, Vater, Mutter, Schwester und das Haus verloren hatte, verließ er seine Heimat, marschierte bis Karatschi und von dort weiter nach Banderabas in Iran, wo er als Anstreicher arbeitete. Ohne irgendwelche Ausweispapiere pendelte er fünf Jahre lang zwischen Kaschmir, Pakistan und Iran und verdingte sich an den verschiedensten Orten als Bauarbeiter oder Maler.
"Verschwinde!"
Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie Identifikationspapiere besessen. Bis heute hat er keines dieser wertvollen Dokumente, die eine Person erst zum Menschen machen. „Die Tatsache, dass Sie hier vor mir stehen, ist kein Beweis für mich, dass Sie geboren sind“, sagt der Konsul zu dem Decksmatrosen Gale in B. Travens „Das Totenschiff“. Doch das wusste Irshad nicht, es interessierte ihn auch nicht, solange er es nicht wusste.
Vor drei Jahren erzählte ihm ein Kollege, dass es im Westen weit bessere Verdienstmöglichkeiten gäbe. Also wanderte er weiter. Über die Türkei wollte er ins verheißene Land gelangen, nach Europa. Doch in Izmir erwischten ihn Soldaten und arrettierten ihn einen Monat lang. Die türkischen Behörden glaubten ihm nicht, dass er aus Kaschmir kam. Sie vermuteten, dass er ein syrischer Kurde war, der illegal in ihr Land eingereist war. Darum brachten sie ihn bei Kamishli an die türkisch-syrische Grenze. „Schau, wir geben dir hier die Chance, nach Syrien zu gehen“, sagte ihm ein türkischer Grenzpolizist. „Also verschwinde und denk nicht einmal daran, zurückzukommen. Dann erschießen wir dich.“
Drei Jahre ohne Tageslicht
Weil er niemanden In Kamishli kannte, ging er zur örtlichen Moschee, um sein Problem mit dem Imam zu besprechen. Doch anstatt ihm zu helfen, rief der Imam die Polizei. Prompt wurde er wieder festgenommen, diesmal in Syrien. „24 Tage“ habe ihn der Geheimdienst verhört und „mit Faustschlägen“ traktiert, erzählt er und deutet auf eine Narbe an der Stirn: „Das ist ein Souvenir, das sie mir mitgegeben haben.“ Weil sie nichts Interessantes von ihm erfahren konnten, brachten sie ihn schließlich zur Einwanderungsbehörde, die ihn in ihrem Abschiebegefängnis einschloss.
Die Immigrationsbehörde versuchte, seine Nationalität herauszufinden und kontaktierte sowohl die pakistanischen als auch die indischen Behörden. Die zuständigen Stellen beider Staaten behaupteten, er sei kein Bürger ihrer Nation. Formal könnten sie damit Recht gehabt haben, Mohammad aber behauptet gar nicht, Inder oder Pakistani zu sein. Er ist Kaschmiri. Seine Heimat aber haben sich Neu Delhi und Islamabad 1947 geteilt und besetzt. Darum gilt Irshad wie 40 Prozent seiner Landsleute als staatenlos.
Und darum wiederum wartet er nun schon seit drei Jahren auf seine Entlassung. Das Gefängnis ist unterirdisch unter einem Parkhaus angelegt. So hat er seit drei Jahren das Tageslicht nicht gesehen. Seit drei Jahren wäscht er die Wäsche wohlhabenderer Zellengenossen für 50 Cent, um sich gelegentlich auch eine Flasche Orangensaft, eine Dose Humus oder eine Packung Zigaretten kaufen und damit die schmale Gefängniskost aus Chobbes (Fladenbrot) und Reis etwas anreichern zu können. Er habe jede Nacht Albträume, klagt er.
Wie ein Toter
Der UNHCR prüft zwar regelmäßig die Situation der Gefängnisinsassen in Damaskus, legte auch eine ausführliche Akte über Irshad an und versuchte, einen Ort für ihn zu finden, wo er leben kann. Heute habe er „das Problem, dass der UNHCR seit Ausbruch des syrischen Konfliktes das gesamte internationale Personal abgezogen hat“, erklärt Irshad. Sie hätten ihm gesagt: „Wir können dir nicht helfen.“ Er könne nichts tun, meint er, als „darauf warten, dass mich die Einwanderungsbehörde endlich in ein Land abschiebt, wo ich leben kann.“
„Im Grunde und ganz ohne Scherz gesprochen, war ich ja schon lange tot“, erzählt Gale in „Das Totenschiff“. „Ich war nicht geboren, hatte keine Seemannskarte, konnte nie in meinem Leben einen Pass bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er wollte, denn ich war ja niemand, war offiziell überhaupt nicht auf der Welt, konnte infolgedessen auch nicht vermisst werden. Wenn mich jemand erschlug, so war kein Mord verübt worden. Denn ich fehlte nirgends. Ein Toter kann geschändet, beraubt werden, aber nicht ermordet.“