Wir publizieren das Interview in zwei Teilen. Der heutige erste Teil befasst sich mit den Beziehungen der Schweiz zum Ausland. Im morgigen zweiten Teil steht die humanitäre Arbeit und das IKRK im Zentrum. Das Gespräch führte Heiner Hug.
Journal 21: Peter Maurer, wenn man die Schweizer Presse liest, kriegt man fast den Eindruck, der gute internationale Ruf der Schweiz sei arg lädiert. Sie bewegen sich seit Jahren auf dem internationalen Parkett. Welches Image hat die Schweiz heute?
Peter Maurer: Ich teile die Einschätzung der Presse nicht. Die Schweiz bleibt ein Land, das eine sehr hohe Wertschätzung hat. Gründe dafür sind der wirtschaftliche Erfolg und eine gewisse Unparteilichkeit in unserer internationalen Politik. Man traut uns zu, dass wir eigenständig und unabhängig handeln. Viele Länder sehen uns als modernes und innovatives Land. Man nimmt zur Kenntnis, dass wir viel erreicht haben. Wir stellen fest, dass sich viele Länder immer mehr für die Schweiz interessieren und unser politisches System und gewisse Sektoren dieses Systems besser kennen lernen wollen.
Wie äussert sich das in der Praxis?
Viele klopfen bei uns an und wollen erfahren, wie wir organisiert sind. Es gibt ein wachsendes Interesse am Sozialversicherungssystem der Schweiz, an unserem Krankenversicherungssystem, an der schweizerischen Berufsbildung, am Föderalismus, an der Dezentralisierung. Wie organisiert man ein Gemeinwesen auf verschiedenen Stufen? Wie ist unsere Bildungs- und Wissenschaftspolitik organisiert? Die Bundesverwaltung und die Kantone können all die Anfragen aus dem Ausland fast nicht mehr bewältigen. Die meisten Länder haben eine sehr viel positivere Vorstellung von der Schweiz als wir glauben.
Aber es gibt auch Kritik an der Schweiz
Natürlich. Wir stehen in einem Konkurrenzverhältnis zu unseren Nachbarn und andern Ländern. Da ist es normal, dass es auch Probleme gibt. Wenn wir von Globalisierung sprechen, dann heisst das: Intensivierung von Beziehungen. Logischerweise geschieht das am meisten mit unseren Nachbarn und ähnlich entwickelten Ländern. Je grösser die Beziehungsdichte ist, desto grösser werden die Probleme. Da gibt es Friktionen und Spannungen, das ist verständlich. Doch die Vorstellung, dass es vom Ausland eine Attacke gegen die Schweiz gibt, dass man unser Land „fertig machen“ will – das ist eine völlige Fehleinschätzung, die ich mir nur schwer mit dem erklären kann, was wirklich Sache ist.
Was für Erklärungen gäbe es denn?
Vielleicht richten wir den Blick immer mehr nur auf uns selbst. Vor 25 Jahren, am Anfang meiner diplomatischen Karriere, hat man das Gefühl gehabt, es bestehe eine gewisse weltoffene, positive Dynamik in der Schweiz. Der Wille zur Öffnung war da, zu einem internationalen Engagement. Damals, zwischen 1989 und 2005 gab es bei den nachrichtenlosen Vermögen einen Stimmungseinbruch, wie wir ihn heute kennen. Doch gleichzeitig wurde eine engagierte Aussenpolitik entwickelt. Wir traten den Bretton Woods-Abkommen und der UNO bei. Die Friedens- und Menschenrechtspolitik wurden gesetzlich verankert, die Entwicklungszusammenarbeit wurde erhöht, das Engagement in der Wissenschaftspolitik wurde verstärkt. Es gibt viele Beispiele, die auf eine positive Dynamik hindeuten. Viele dieser Aktivitäten pflegen wir heute noch – aber mit einer merkwürdigen Innensicht und einem dominierenden Blick auf uns selbst.
Es gibt mehr Probleme als früher. Die USA führen fast schon einen Krieg gegen den Finanzplatz Schweiz. Hat sich die Schweiz ungeschickt verhalten?
Wir wissen seit langem, dass wir im Management unserer Aussenbeziehungen ein nicht ganz einfaches Land sind. Wir sind strategisch und machtpolitisch klein und recht unbedeutend. Wirtschaftlich sind wir eine wichtige Mittelmacht in Europa, und finanzpolitisch gehören wir zu den Grossen in dieser Welt. Da tut sich ein Spannungsfeld auf. Wir müssen eine grosse Palette von Interessen gleichzeitig bedienen und unter einen Hut bringen. Das ist eine Herausforderung für unsere Aussenpolitik.
Die andern grossen Finanzzentren dieser Welt haben Mühe mit der Vorstellung, dass es an irgendeinem Ort ein grosses Finanzzentrum gibt, das nicht so funktioniert und nicht so zusammenarbeitet wie die andern. Eines, das sich nicht an die genau gleichen Regeln hält wie die andern. Natürlich geht es da auch um Machtpolitik und um Konkurrenz.
Wie geht die Schweiz damit um?
Wir sind der siebtgrösste Finanzplatz auf der Welt. Wir können nicht meinen, wir stünden einzig als Finanzplatz in einem kompetitiven Umfeld. Auch in der Politik führt das zu einer härteren Gangart. Damit muss man leben. Wir brauchen eine vernünftige Harmonisierung, internationale Regeln und Spielräume für die nationale Politik – wie alle andern Länder auch.
Haben Sie nicht ein gewisses Verständnis für die Deutschen, denen es nicht gefällt, dass ihre Steuersünder ihr Schwarzgeld in der Schweiz platzieren?
Dafür kann man durchaus Verständnis haben. Dieses Verständnis ist auch in der schweizerischen Politik vorhanden. Was nicht vorhanden ist, ist das Verständnis für gewisse Mittel, die unsere Nachbarländer einsetzen, um das Problem zu beheben. Stichwort: Spitzel, Datendiebstahl und gekaufte Steuer-CDs.
Wir betonen immer wieder, wir würden das Bankgeheimnis nicht aufgeben. Sind wir nichts längst dabei, es aufzugeben, um überleben zu können?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in den Finanzmärkten anders funktioniert als an andern Orten. Es wird internationale Regeln und Normen geben, die die Schweiz umsetzen muss. Aber es wird auch Freiräume geben, und dazu gehört unter anderem auch wie genau Persönlichkeitsschutz und Vertraulichkeit organisiert sind.
Man muss definieren, welche Informationen man legitimerweise austauschen muss und welche Informationen - unter Datenschutz- und Finanzmarktaspekten - vertraulich behandelt werden sollen. Bei Steuerfragen ist das Verständnis für solche Nischen sehr gering – international und auch in der schweizerischen Oeffentlichkeit.
Da ist man weit von einer internationalen Einigung entfernt
Bei diesen wichtigen Fragen gibt es keinen internationalen Konsens. Die Schweiz muss versuchen, an einem gemeinsamen Verständnis zu arbeiten. Die Abgeltungsabkommen sind ein mögliches Modell, das versucht, die verschiedenen Vorstellungen und Ansprüche auf einen Nenner zu bringen. Es geht immer um die Frage: Welche Informationen sollen die Steuerbehörden austauschen, welche sollen vertraulich behandelt werden, und wie geht man mit dem Steuersubstrat um, das an verschiedenen Orten der Welt parkiert ist?
Wir haben einen interessanten Vorschlag in die internationale Diskussion eingebracht. Wir haben festgestellt, dass es ein erhebliches Interesse an diesem Modell gibt. Ich bin überzeugt, dass nach den Abkommen mit Deutschland, Grossbritannien und Österreich andere folgen werden. Vieles ist im Fluss, neue Standards müssen entwickelt werden. Was mich stört, ist, dass man in der Schweiz immer sehr dogmatisch über Bankgeheimnis und Steuerfragen spricht.
Dogmatisch?
Wir haben einen Hang zu dogmatischen Diskussionen. Wir haben dogmatisch darüber diskutiert, ob Lastwagen mit 28 oder mit 40 Tonnen durch unser Land fahren sollen. Wir führen eine jahrelange dogmatische Diskussion über die Personenfreizügigkeit in Europa. Aus aussenpolitischer Sicht ist es Aufgabe der Diplomatie immer wieder zu fragen, was sind eigentliche unsere wirklichen Interessen. Was müssen wir verteidigen, was ist wichtig für den Wohlstand, für den Zusammenhalt des Landes, für das Funktionieren der Institutionen? Und was ist letztlich nicht so wichtig. Mich beschäftigt es, wenn wir Ziele dogmatisieren, von denen ich glaube, dass sie für das Bestehen dieses Landes nicht so wichtig sind.
Zur Person: Peter Maurer wurde 1956 in Thun geboren. Er schloss seine Studien in Bern mit dem Doktorat der Geschichte bei Professor Walther Hofer ab. 1987 trat er in den Dienst des EDA ein. 2000 ernannte ihn der Bundesrat zum Botschafter und Chef der Politischen Abteilung IV. 2004 wurde er Botschafter und Chef der Ständigen Mission der Schweiz bei der UNO in New York. 2010 wurde er als Nachfolger von Michael Ambühl Staatssekretär im EDA. Peter Maurer tritt sein Amt als Präsident des IKRK im Juli an.