Letzten Donnerstag schon leitete die EU-Kommission ein offizielles Verfahren ein wegen eventueller Verletzungen rechtsstaatlicher Standards. Das war auch in Polen eine Überraschung, hatte man doch von Regierungs- wie Oppositionsseite nur mit einer informellen Abklärung gerechnet. Die Reaktionen waren unterschiedlich.
Verlegenheiten bei Regierung und Opposition
Die Regierung versuchte den Beschluss herunterzuspielen und Kooperationsbereitschaft zu signalisieren. So meinte der Regierungssprecher, es handle sich dabei nur um ein „Standardprozedere“, das keine negativen Auswirkungen haben werde. Die Ministerpräsidentin Beata Szydlo sagte im Parlament, man werde mit der EU-Kommission zusammenarbeiten und die „Missverständnisse“ bald ausräumen können. Bei den Abgeordneten der Regierungspartei , der PiS (Recht und Gerechtigkeit) war der Ton etwas schärfer. Der Fraktionssprecher sprach davon, dass „niemand in Europa, und vor allem nicht in Deutschland, uns bezüglich Demokratie zu belehren habe.“
Die Abgeordneten der Opposition begrüssten zwar das eingeleitete Verfahren nicht, machten aber die PiS dafür verantwortlich. Sie habe diese Situation heraufbeschworen mit rechtstaatlich unhaltbaren Parlamentsbeschlüssen, wie der Gesetzesänderung über das Verfassungsgericht (vgl. auch Journal21 vom 2. Januar https://www.journal21.ch/hektik-vor-dem-jahresende). Sie forderten die Regierung zu einem produktiven Dialog mit der EU auf und wehrten sich auch vehement gegen die PiS Vorwürfe, die Opposition habe sozusagen in Brüssel „gepetzt“ und eine Hysterie hervorgerufen.
Dass Opposition und Regierungslager unterschiedlich reagierten, ist angesichts der Polarisierung im Land nicht verwunderlich. Interessanter ist eine Analyse der widersprüchlichen Interessenlagen, die sowohl beim Regierungslager wie bei der Opposition auszumachen sind.
Reputationsverlust und Steilvorlage
Einerseits kommt dem Regierungslager die EU-Kritik aus aussen- und wirtschaftspolitischen Gründen ungelegen. Sie beeinträchtigt nicht nur die Reputation Polens und seine Stellung in der EU, sondern dürfte auch praktische Auswirkungen haben. Ein erstes Signal war die Herabstufung der Kreditwürdigkeit durch Standard & Poor. Als Begründung wurde unter anderem die „Verletzung des institutionellen Gleichgewichtes“ angegeben.
Anderseits ist die Einmischung der EU innenpolitisch eine Steilvorlage. Sie bestätigt sozusagen die von Parteichef und Big Boss Jaroslaw Kaczynski behauptete Brüsseler Dominanz und Arroganz. Sie bietet auch eine dankbare Gelegenheit, der Opposition „antipolnisches“ Verhalten und „Unterwürfigkeit“ gegenüber der EU vorzuwerfen.
Der Opposition wiederum kommt einerseits eine zu scharfe Kritik seitens der EU, insbesondere die Einleitung eines formellen Verfahrens, genau aus diesem Grund ungelegen. Dazu kommen auch bei ihr aussen- und wirtschaftspolitische Bedenken. Sie meidet es denn auch, das Verfahren zu unterstützen und wendet sich explizit gegen eventuelle Sanktionen.
Anderseits könnte stärkerer Druck aus Brüssel dazu führen, dass das PiS-Lager vorsichtiger und kompromissbereiter agieren wird. Er könnte auch Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Regierungslagers verstärken. Diese werden allerdings weiterhin nicht nach aussen getragen.
Innnerhalb des Anti-PiS-Lagers sind hingegen deutlichere Risse sichtbar. Die Konkurrenz zwischen der alten und ziemlich abgehalfterten konservativ-liberalen Regierungspartei PO (Bürgerverständigung) und der aufstrebenden, erst letztes Jahr gegründeten liberalen Partei Nowoczesna (die Moderne) tritt stärker hervor. Letztere hat laut einer neuen Meinungsumfrage die PO in der Wählergunst deutlich distanziert und sogar die PiS überflügelt. Gegenüber der PO und der Nowoczesna gibt es vor allem von der Linken Kritik; diese ist allerdings weiterhin gespalten und schwach positioniert.
Empfindlicher Nationalstolz
Und was denkt die Bevölkerung? Bis jetzt wurden keine Umfrageergebnisse zu den Massnahmen aus Brüssel veröffentlicht. Klar ist, dass eine Mehrheit der Polen zur EU und vor allem zur EU-Mitgliedschaft Polens positiv eingestellt ist. So befürworteten im letzten Oktober über 80 Prozent Polens EU-Zugehörigkeit. In Umfragen wurden auch die rechtsstaatlich bedenklichen Massnahmen der neuen Regierung von relativen Mehrheiten abgelehnt.
Allerdings sind die Polen sehr empfindlich, wenn sie in ihrem Nationalstolz getroffen werden. Und ein Kontrollverfahren aus dem fernen Brüssel, auch wenn es vielen inhaltlich nicht unberechtigt erscheinen mag, darf kaum auf grosse Unterstützung hoffen. Vor allem wenn daraus eher mehr Nachteile als Vorteile resultieren könnten.
Bezeichnend ist denn auch die Einschätzung, die der alte Politfuchs Donald Tusk, der ehemalige PO-Chef und Premierminister und heutige EU-Ratspräsident, gestern vertrat. Nach einem Treffen mit dem polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda rief er ausdrücklich zu Mässigung und Zurückhaltung auf. Er wandte sich auch klar dagegen, dass sich die Staats und Regierungschefs der EU an ihrer nächsten Sitzung mit der Situation in Polen befassen. Der Umgang der EU mit der neuen polnischen Politik ist ein heikler Balanceakt.