Ausgerechnet Toulouse. Ausgerechnet in der Stadt, wo vor bald zwei Jahren ein gewisser Mohamed Merah auf seine Art den heiligen Krieg geführt hat. Er hat französische Soldaten, zurück vom Afghanistan-Einsatz, und jüdische Kinder und Eltern vor einer Thora-Schule kaltblütig erschossen und ganz Frankreich erstmals klar gemacht hat: in den eigenen Vorstädten des Landes können junge Franzosen zu Terroristen mit islamistischen Hintergrund heranwachsen. Der Schock sass und sitzt immer noch tief.
Ahnungslose Eltern
Knapp zwei Jahre später stehen jetzt in einer propren Einfamilienhaussiedlung in einem Vorort von Toulouse ein Vater und eine Mutter, sie Französin, er tunesischer Herkunft, die verweinten Augen hinter Sonnenbrillen versteckt, vor Fernsehkameras und Mikrophonen und lassen ihrer Verzweiflung freien Lauf. Hakim, ihr gerade mal 15-jähriger Sohn, war nach den Weihnachtsferien am 6. Januar nicht in seinem Gymnasium erschienen und blieb verschwunden, ebenso wie einer seiner Klassenkameraden. Hakim, das älteste von fünf Kindern der Familie, war ein exzellenter Schüler und sogar Klassensprecher und hat nie Anlass zur Sorge gegeben. Zu Hause feierte man die Feste des Islam, mehr aber auch nicht, niemand in der Familie ging in die Moschee, Religion spielte eine völlig untergeordnete Rolle.
In Hakims Zimmer fanden die Eltern an diesem 6. Januar einen Brief, in dem der 15-Jährige sie davon in Kenntnis setzte, dass er nach Syrien gehe, um - so wörtlich - den Islam zu predigen. Wenige Tage später - Hakim war bereits in der Türkei und auf dem Weg nach Syrien - erklärte er seinem Vater am Telefon, er werde sich erst in einem Monat wieder melden, wenn er dann noch am Leben sei, ansonsten sehe man sich im Paradies wieder.
Freunde aus seiner Schulklasse haben inzwischen per MMS Fotos von ihm erhalten, auf denen Hakim mit einer Kalaschnikow zu sehen ist.
Appell an den Staat
In seiner Verzweiflung spricht der Vater jetzt vor Kameras und Mikrophonen so, wie es Familienangehörige von französischen Geiseln in der Sahelzone und anderswo in den letzten Monaten und Jahren häufig getan haben: Er wendet sich an die höchsten Autoritäten des Staates, an den Innenminister und sogar an den Staatspräsidenten und appelliert an sie, alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um seinen Sohn wohlbehalten zurück zu bringen. Dieser fordernde, ja den französischen Staat fast anklagende Medienauftritt des verzweifelten Vaters wirkt ein wenig ungeschickt, fast deplatziert – klingt als sei in seinen Augen der Staat mitschuldig am Verschwinden seines Sohnes.
Der 15- jährige Hakim ist aber nicht in Geiselhaft. Er ist seinen Eltern ganz offensichtlich in rasend kurzer Zeit entglitten. Am Ende hat er hinter ihrem Rücken mit der Kreditkarte des Vaters die Flugtickets in die Türkei gekauft, um von dort nach Syrien zu gelangen. Nun soll der französische Staat - so klingt es - sich darum kümmern, den Jungen und seine Familie aus dem Schlamassel wieder raus zu holen. Es handle sich beim Verschwinden seines 15-jährigen Sohnes um eine regelrechte Entführung, klagt der Mann, sein Sohn sei im Internet einer echten Gehirnwäsche unterzogen worden. Der Vater warnte vor mafiösen Netzwerken im Web, welche junge Franzosen für den Djihad rekrutierten – jeder Familie könne dies passieren.
Mehrere Mitschüler Hakims bezeugten, dass dessen Verwandlung in der Tat sehr schnell vor sich gegangen ist. Erst letzten November habe er, der kein Wort arabisch spricht, angefangen, keinerlei Musik mehr und nur noch Koranpredigten zu hören und sei plötzlich mit niemandem aus seiner Klasse mehr ausserhalb der Schule verkehrt, mit Ausnahme des Mitschülers, mit dem er jetzt nach Syrien gegangen ist. Diesen 16-Jährigen, der im Gegensatz zu Hakim ein sehr chaotisches Schulleben hinter sich hat, habe man in den letzten Monaten öfters mit einem bärtigen Moslem in der Nähe des Gymnasiums gesehen.
Bruder François Hollande
Im August und im Dezember letzten Jahres sind zwei junge Männer aus Toulouse in Syrien sogar ums Leben gekommen. Nicolas, 32 und sein Halbbruder, Jean-Daniel, 22 - beide erst vor 3 Jahren zum Islam konvertiert. Der Jüngere starb bei Kämpfen in Homs, der Ältere im Dezember als Selbstmordattentäter. Die Mutter wurde aus Syrien per SMS vom Tod ihres Sohns informiert. Nicolas hatte wenige Wochen zuvor noch ein Video ins Internet gestellt, auf dem er neben seinem schweigenden Halbbruder zu sehen war, mit Koran und Maschinengewehr in der Hand. In seiner Rede forderte er junge Franzosen auf, es ihm gleich zu tun und „in das vom Islam gesegnete Land zu kommen“. Er verlangte von Frankreich, sich aus Mali zurück zu ziehen und forderte Staatspräsident Hollande - wörtlich: Bruder François Hollande - auf, sich zum Islam zu bekehren.
Auch in diesem Fall waren die Eltern wie vor den Kopf gestossen und klagten - wie jetzt Hakims Vater - Netzwerke auf dem Internet und einzelne radikale Moscheen an, sie würden junge Franzosen als Kanonenfutter für Syrien anheuern.
700 Franzosen in Syrien
Die jungen französische Gotteskrieger in Syrien haben für die Öffentlichkeit in Frankreich jetzt schon drei Gesichter: Hakim, Jean-Daniel und Nicolas. Zwei davon sind bereits tot. Man erinnert sich plötzlich wieder an diskrete Äusserungen des französischen Innenministers in den letzten Monaten, die zunächst keinen grossen Widerhall fanden. Laut Manuel Valls ist die Rekrutierung junger Franzosen für den Djihad in Syrien für Paris derzeit eines der wichtigsten Probleme des Terrorismus - vor allem im Hinblick darauf, dass diese jungen Leute eines Tages nach Frankreich zurückkehren werden.
Das Phänomen jedenfalls - dies sagt auch Frankreichs führender Untersuchungsrichter im Kampf gegen den Terrorismus, Marc Trevidic - nimmt seit einigen Monaten immer grössere Ausmasse an. Bis zu 700 junge Franzosen halten sich nach Angaben der Geheimdienste derzeit in Syrien auf, rund 150 seien auf dem Weg dorthin oder auf dem Rückweg.
Ein nicht näher genannter leitender Beamter eines französischen Nachrichtendienstes sagte gegenüber der Tageszeitung „Le Figaro“, es sei höchste Zeit, ein Alarmsignal auszusenden, die Rekrutierung der jungen Franzosen für den Djihad in Syrien sei mittlerweile bestens organisiert und auch finanziert. Unter den Angeheuerten, so der Innenminister am Wochenende, seien mittlerweile ein ganzes Dutzend Minderjähriger! Kindersoldaten aus Europa - etwas, das man bislang nur vom afrikanischen Kontinent zu kennen glaubte.