Wir haben uns angewöhnt, die Frage nach dem Menschen als etwas anzusehen, dem man sich nach getaner Arbeit widmet. Das „Eigentliche“, das „Wichtige“ liegt demnach in der Produktion von materiellen oder immateriellen Gütern, also in irgendeiner Form der „Wertschöpfung“. Aber was geschieht, wenn der Mensch nach und nach durch Maschinen ersetzt wird?
Automatisierung des Geistes?
Diese Vision gibt es schon lange. Unsere Zeit aber ist dadurch geprägt, dass die Ersetzung des Menschen durch Maschinen wie etwas ganz Selbstverständliches vonstatten geht. Fast erscheint uns die Einführung immer effizienterer Technik wie etwas Natürliches, Urwüchsiges.
Und doch ist es fremd, geradezu exotisch. Das macht den ungeheuren Reiz der „Entdeckungsreise“ aus, von der die Informatikerin Constanze Kurz und der Sprecher des Chaos Computer Clubs, Frank Rieger, berichten. Sie betrachten die Orte, wo unsere Nahrung entsteht, beschäftigen sich mit der Massenkommunikation, dem Verkehr und landen bei der „Automatisierung des Geistes“.
Beide Autoren schreiben regelmässig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Constanze Kurz hat dort sogar eine Kolumne mit dem schönen Titel: Aus dem Maschinenraum. Beide verdienen ihr Geld mit den Technologien, die sie kritisch beleuchten. Darin liegen grosse Vorteile. Denn beide wissen genau, worüber sie schreiben, und wenn sie die Folgen ausmalen, verfallen sie nicht in einen Alarmismus. Dafür sind ihre Argumente um so überzeugender.
Kontrolle: Motor des Fortschritts
Wie entsteht unsere Nahrung? Gerade hier kann man gut erkennen, was die modernen Technologien antreibt. Ob es sich um den Getreideanbau oder um die Tierhaltung handelt: Unsere Massengesellschaften erfordern steigende Produktivität und gleichmässige Qualität. Allein mit der Arbeit der Hände ist das nicht zu erreichen.
Sucht man den allgemeinsten gemeinsamen Nenner für den technischen Fortschritt, so findet man ihn in der Kontrolle. Ob es sich um Tierhaltung, die Produktion von Mehl oder um die automatisierte Steuerung von Autos handelt, immer geht es darum, jeden Schritt eines Prozesses immer genauer zu erfassen. Es ist fast nicht zu glauben, wie weit das geht: Beim Mahlen von Getreide wird jedes einzelne Korn in Millisekunden auf seine Qualität geprüft.
Perfekte Kontrolle
Es liegt eine grosse Faszination darin, Produktionsprozesse immer genauer zu analysieren und sie entsprechend zu optimieren. Man darf sich diese Prozesse auch nicht einfach als brutal oder rücksichtslos vorstellen. Im Gegenteil geht es in der Landwirtschaft auch darum, die Böden schonender zu behandeln, Gülle und Chemie so sparsam und gezielt wie irgend möglich einzusetzen. Und bei der Tierhaltung geht es auch darum, dank optimaler Versorgung und Unterbringung zuträgliche Lebensbedingungen zu schaffen.
Aber diese Faszination, die Constanze Kurz und Frank Rieger eindrücklich vermitteln, führt auf einen Weg, der für den Menschen immer schmaler, steiler und steiniger wird. Denn wenn die Kontrolle der Schlüssel zur immer perfekteren Beherrschung von allem ist, darf man sich nicht wundern, wenn der Schutz eines wie auch immer gearteten Intimbereichs des Menschen einen immer höheren Begründungsaufwand erfordert. Auf dieses Thema gehen die beiden nicht ein, dafür schenken sie einem anderen, nicht weniger wichtigen Punkt ihre Aufmerksamkeit: der Ersetzung des Menschen durch Maschinen.
Willkommener Mindestlohn
Schon seit längerer Zeit ist es nicht mehr so, dass lediglich simple und repetitive Tätigkeiten von Maschinen übernommen werden. Dank moderner Steuerungssysteme übernehmen Maschinen immer komplexere Aufgaben. Der Mensch gerät immer mehr in die Rolle des Kontrolleurs, der im Falle von Pannen eingreift. Oder aber er übernimmt dort Tätigkeiten, wo seine Arbeitskraft billiger ist als der Betrieb einer Maschine.
Nicht ohne Ironie vermerken Kurz und Rieger, dass in Kreisen der Robotik und anderer der Rationalisierung dienenden Industrien die Debatte um den Mindestlohn mit grösstem Wohlgefallen verfolgt wird. Lässt sich doch dann viel besser kalkulieren und argumentieren, wieviel durch den Einsatz von neuen Maschinen an Löhnen eingespart werden kann.
Autos ohne Fahrer
Es ist sogar damit zu rechnen, dass komplexe und verantwortungsvolle Tätigkeiten wie das Fahren von Autos und LKW von Maschinen übernommen wird. Die entsprechenden Versuchsfahrzeuge sind verblüffend zuverlässig. Damit eröffnet sich aber ein neues Feld von Problemen. Wer wird verantwortlich und haftbar gemacht, wenn es zum Beispiel aufgrund des Ausfalls eines Sensors, eines Softwarefehlers oder auch durch Sabotage zu einem Unfall kommt? Ist es der „Fahrer“, der den LKW oder das Auto gar nicht mehr permanent lenkt? Und wie wird die Öffentlichkeit reagieren, wenn dank automatisiertem Fahren die Zahl der Verkehrsunfälle zwar insgesamt abnimmt, aber hin und wieder Tote und Verletzte zu beklagen sind?
So eindrücklich die Vision des Strassenverkehrs ohne permanent aktive menschliche Fahrzeuglenker auch ist, so handelt es sich dabei noch lange nicht um die grössten Herausforderungen des Menschen. Denn das Lenken von Fahrzeugen erfordert keine übermässig hohen Qualifikationen. Anders ist es schon in der Medizin. Aber auch hier werden komplexeste Tätigkeiten durch Maschinen vereinfacht und rationalisiert.
Operierende Roboter
So beschreiben Constanze Kurz und Frank Rieger, wie Operationsroboter die Tätigkeit der Chirurgen enorm erleichtern und zudem dank minimal invasiver Methoden die Patienten schonen. Winzige Kameras werden eingeführt, und über ergonomisch optimierte Steuerungssysteme kann der Chirurg millimetergenau arbeiten. Dazu muss er noch nicht einmal direkt am Patienten stehen. Denn seine Steuerungsbefehle lassen sich auch über grosse Entfernungen auf die Maschinen übertragen. Es war, wie die beiden Autoren nicht ohne hintergründigen Witz vermerken, wieder einmal das Militär, das diese Entwicklung vorangetrieben hat. Denn es ist nicht möglich, bei allen Kampfeinsätzen hochspezialisierte Chirurgen einzufliegen, um die oftmals äussert komplizierten Verletzungen zu behandeln.
Wir müssen uns auch von der Vorstellung verabschieden, dass „geistige“ Tätigkeiten nicht auch von Maschinen erledigt werden könnten. Wenn es zum Beispiel darum geht, riesige Datenbestände auszuwerten, darin Muster zu erkennen und nach bestimmten Regeln Verknüpfungen herzustellen, sind uns Computer jetzt schon hoffnungslos überlegen. Und wer glaubt, dass die Sprache, also die Fähigkeit, Abläufe und Ereignisse in spezielle Formulierungen zu übertragen, spezifisch menschlich sei, irrt auch hier. Schon längst gibt es Programme, die Börsenberichte, Klageschriften, Bilanzen oder Sportereignisse in Worte fassen.
Ausgediente Sportreporter
Die Methode dazu ist sogar relativ simpel. Die Computer vergleichen Vorgänge und die dafür verwendeten Formulierungen. Daraus entstehen sogenannte Algorithmen, also Schemata, mit denen spezifische Ereignisse mit den dazu passenden sprachlichen Ausdrücken verknüpft werden. Amerikanische Zeitungen haben daraufhin insbesondere jene Sportreporter entlassen, die sich auf lokale Berichterstattung spezialisiert hatten.
Was bleibt also noch vom und für den Menschen? Es ist völlig klar, dass immer mehr Arbeit von Maschinen erledigt werden wird. Und es ist auch nicht mehr so, dass nur gering Qualifizierte davon betroffen sind. Vielmehr nimmt die Zahl der Stellen ab, die spezifisch menschliche Intelligenz und Qualifikationen erfordern. Und weil die Maschinen immer innovativer werden, ist es auch nicht mehr möglich, dass geniale Tüftler plötzlich ganz neue Produkte entwickeln, mit denen sie die Märkte erobern.
Die Mär vom individuellen Versagen
Daher, so schreiben Constanze Kurz und Frank Rieger, müssen wir unser Menschenbild verändern. Der Mensch kann sich nicht mehr über Arbeit definieren, und der moralische Grundsatz, dass nur der essen soll, der auch arbeitet, ist völlig obsolet geworden. Und es ist auch ganz fatal, wenn wir die Tatsache, dass Maschinen einstmals geschätzte Qualifikationen übernehmen, demjenigen, der deswegen seine Qualifikationen in der Arbeitswelt nicht mehr einsetzen kann, als individuelles Versagen zurechnen.
Überhaupt ist es fatal, dass nur noch eine Verknüpfung Bestand hat: Kapital und Arbeitsertrag, also Gewinn. Denn die Maschinen werden nicht nur komplexer, sondern erfordern auch immer höheren Kapitaleinsatz. Das fördert die Konzentration mit allen negativen Folgen. Dabei muss auch bedacht werden, dass bis heute die Infrastruktur für Unternehmen – Strassen, Schulen, Krankenhäuser, Polizei etc. – von der Allgemeinheit ebenso getragen wird wie schädliche Folgen: Umweltbelastungen, Risiken der Finanzmärkte, soziale Verwerfungen.
Fehlende Perspektiven
Es wäre eigentlich nötig, in unserer durch technische Innovationen gesegneten Gesellschaft darüber nachzudenken, wie diese Innovationen sozial kreativ genutzt werden können. Aber gerade das geschieht nicht. Die dringend benötigten Geisteswissenschaften führen, wie Kurz und Rieger hervorheben, ein Schattendasein. Daher können sie nicht die Perspektiven entwickeln, die gerade jetzt dringend gebraucht werden. Überhaupt bieten die Masterstudien und die sogenannten beruflichen Fortbildungen für neue „Qualifikationen für den Arbeitsmarkt“ nur Schmalspurwissen, das keinerlei Kreativität wachruft.
Dieses Buch ist ein grosser Wurf. Es erinnert an „Die magischen Kanäle“ von Marshall McLuhan. Es zeigt, wie wir uns in der veränderten Welt verändern müssen.
Constanze Kurz, Frank Rieger, Arbeitsfrei. Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen, Riemann Verlag 2013