Als in den letzten Wochen Palästinenser in Ramallah immer wieder gegen die eigene Regierung demonstrierten, glaubten viele, nun treibe der Arabische Frühling auch im israelisch besetzten und kolonisierten Westjordanland die ersten Blüten. Das mag so sein, doch die Situation ist komplizierter als anderswo in der Region. Denn die Palästinenser kämpfen an mindestens drei Fronten: gegen die israelischen Besatzer und Unterdrücker, gegen die eigene korrupte und weitgehend unfähige Regierung und, zumindest indirekt, auch gegen die so genannten arabischen Brüder, welche es an Unterstützung, besonders an politischer, missen lassen. Sollte es zu einem großen Aufstand kommen, zu einer dritten Intifada also, so würde sich diese sowohl gegen Israel als auch gegen die eigene Regierung richten.
An der Wirklichkeit vorbei
Verhasst bei der palästinensischen Bevölkerung ist nicht nur der untätige und blasse Präsident Mahmut Abbas, sondern auch der von der Weltbank und vom Internationalen Währungsfonds gepäppelte Ministerpräsident Salam Fayad. Seine als neoliberal empfundene Wirtschaftspolitik hat es nicht fertiggebracht, die Armut vieler Palästinenser zu lindern. Sein Ziel, die palästinensischen Institutionen so fit zu machen, dass sie für eine Staatsgründung geeignet sind, geht an der Wirklichkeit vorbei.
Denn Israel setzt die Kolonisierung des Westjordanlandes ungehindert weiter – unter den Augen einer untätigen Weltöffentlichkeit, welche zusieht, wie ein Volk drangsaliert, unterdrückt und aus seinen Wohngebieten vertrieben wird. Neue Siedlungen werden gebaut, die Mauer hat den Palästinensern wichtiges Ackerland und wichtige Wasserquellen entrissen, die Menschen aus dem Jordantal und aus der Wüste Negev werden allmählich durch Hauszerstörungen und Vertreibungen in die übervölkerten Städte wie Ramallah, Dschenin, Nablus, Hebron gedrängt.
Subunternehmer der Israelis
Der Leidenddruck der Palästinenser wächst von Tag zu Tag, dass es (noch) nicht zu einem neuen Aufstand gekommen ist liegt auch daran, dass viele Palästinenser um ihr tägliches wirtschaftliches Überleben kämpfen müssen.
Hier nun kommt abermals Israel ins Spiel. Um seine Landnahme in aller Ruhe fortsetzen zu können, kann es einen neuen Aufstand nicht gebrauchen. Deshalb tritt es jetzt als Helfer der Autonomiebehörde auf. Plötzlich hat die Regierung Netanjahu versprochen, Außenstände bei den Zollgebühren, die Israel für die Palästinenser kassiert, zu überweisen. Denn einen Kollaps der palästinensischen Regierung wäre ein absoluter Verlust für Israel. Viele Palästinenser nämlich, wenn nicht eine große Mehrheit, sehen die Behörde als Subunternehmer der Israelis. Sie helfe, argumentieren viele, den Israelis bei der Aufrechterhaltung der Besatzung – etwa indem sie im Rahmen der von der so genannten internationalen Gemeinschaft geforderten Sicherheitszusammenarbeit eigene Landsleute festnehme, die von Israel gesucht würden.
Nächtliche Verhaftungen
Mehr noch: viele Palästinenser, die sich in die Büros der Behörde begeben, um, dort etwa finanzielle Angelegenheiten zu regeln, haben beobachtet, dass manche Computer der Behörde direkt mit den entsprechenden Stellen in Israel verbunden sind. Was – demnach – in Ramallah in den Rechner eingegeben wird, kann in Jerusalem gleich mit gelesen werden. Zwar stehen die palästinensischen großen Städte voll unter administrativer und polizeilicher Kontrolle der Autonomiebehörde. Das hindert die Israelis aber nicht, nachts in diese Städte einzudringen und ihnen verdächtige Palästinenser zu verhaften.
Insgesamt hat de israelische Armee fast 1500 Militärbefehle ausgegeben, mit denen sie die Palästinenser beherrscht. Zudem ist die palästinensische Wirtschaft total mit der israelischen verbunden. Steigen in Tel Aviv die Preise, dann geschieht dasselbe in den besetzten Gebieten. Nur: In Israel beträgt das durchschnittliche Jahreseinkommen etwa 30.000 Dollar, in den besetzten Gebieten maximal 2.000 bis 3.000 Dollar.
Abhängigkeit durch Kredite
Diese Abhängigkeit der palästinensischen Wirtschaft in im Pariser Protokoll von 1994 geregelt, einem Anhang zu den Osloverträgen von 1993 . Das ursprüngliche Ziel dieses Abkommens war es, die palästinensische Wirtschaft zu entwickeln. Die Praxis aber ist anders. Jeden Import und Export müssen die Palästinenser von Israel genehmigen lassen. Wann immer, schrieb erst Mitte September die israelische Menschenrechtsorganisation B`Tselem, es den Israelis gefalle, die besetzten Gebiete abzuriegeln, komme jeder Handel zwischen den Palästinensern und der Außenwelt zum Erliegen; also sei das Pariser Protokoll ein großes Hindernis für die Palästinenser. Kein Wunder, dass die palästinensische Regierung jetzt eine Nachverhandlung dieses für die Palästinenser so ausbeuterischen Dokumentes verlangt.
Wer, allerdings, etwa in Ramallah, nach dieser Verarmung der Palästinenser sucht, der sucht augenscheinlich vergebens. Geländewagen fahren durch die Stadt, Boutiquen öffnen, Restaurants en Masse, Fünf- Sterne- Hotels machen auf, und immer mehr Hochhäuser ragen in den Himmel – mit einem Überangebot an Büroräumen. Zwar lassen sich viele internationale Organisationen in Ramalleh nieder, und manche im Ausland reich gewordenen Geschäftsleute investieren ihr Geld in der Stadt. Doch vieles ist auf Pump gebaut.
Die Autonomiebehörde hat die Banken ermuntert, reichlich Kredite zum Kauf von Wohnungen und Autos zu gewähren. Oft müssen Palästinenser, welche das Glück haben, auf einem einigermaßen sicheren Arbeitsplatz zu siten, 20, ja 25 Jahre Zinsen und Tilgung zahlen. Wer so abhängig ist, wagt keinen Aufstand. Und das sei, sagen viele Palästinenser, eine bewusste Strategie der Autonomiebehörde: „Diese Falle“, argumentiert ein deprimierter Palästinenser in der nördlich gelegenen Stadt Dschenin, „gleicht einer vierten Besatzung, gegen die wir zu kämpfen haben.“
Terroristische Attacken von Siedlermilizen
Der in Ramallah zu besichtigende Bauboom kann demnach nicht verhehlen, dass sich die palästinensische Wirtschaft in einer tiefen Krise befindet. Das Steueraufkommen der Regierung reicht bei weitem nicht aus, die Ausgaben auch nur annähernd zu decken. Bleibt die Abhängigkeit von ausländischen Gebern wie den USA und der EU. Durch diese nun schon seit zwei Jahrzehnten dauernde Abhängigkeit ist die palästinensische Gesellschaft weitgehend zu einer Rentiergesellschaft verkommen, die es immer mehr verlernt, für sich selber zu sorgen.
Die Erfüllung dieser Grundvoraussetzung für jeden eigenständigen Staat wird aber – was die Palästinenser betrifft - immer unwahrscheinlicher. In einer aufrüttelnden Rede vor der UN-Generalversammlung klagte Mahmut Abbas in der letzten Woche, „terroristische Attacken von Siedlermilizen“ seien fast eine tägliche Realität geworden: „Wir stehen gnadenlosen Wellen von Angriffen auf unsere Menschen, unsere Moscheen, unsere Kirchen und Klöster, auf unsere Häuser und unsere Schulen gegenüber; unsere Menschen sind zu festen Zielen von Tötungen und Missbrauch geworden – in komplettem Zusammenspiel der Besatzungsmacht und der israelischen Regierung.“
Wie Israel profitiert
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu dagegen zog einen großen Nebelvorhang vor diese traurige Wirklichkeit. Vor der Friedensgemeinschaft der UN stellte er Krieg gegen den Iran in Aussicht, sofern sich das Land dem westlichen Druck nicht beuge. Ein gigantisches Manöver, das von den katastrophalen Realitäten in den von Israel besetzten Gebieten ablenken soll.
Der Autonomiebehörde bleiben angesichts dieses Desasters nur zwei Möglichkeiten: weiter kuschen wie bisher oder zurücktreten. Denn nach internationalem Recht ist die Besatzungsmacht – also Israel – für das Wohlergehen der Menschen in den von ihr besetzten Gebieten verantwortlich. Durch die ständigen ausländischen Geldspritzen an die palästinensische Behörden und durch die schweigende Kosoperation der Autonomieregierung mit Israel erleichtern ja finanzieren das Ausland und die Regierung in Ramallah die Besatzung mit. Sollten die Gelder nicht mehr fließen, sollte die Autonomiebehörde ihre stillschweigende Kooperation mit Israel einstellen, würde Israel die gesamte finanzielle Last seiner Besatzung spüren – und, eventuell, zu Kompromissen bereit sein.