Vom 6. bis 27. Oktober 2019 fand im Vatikan eine Amazonas-Synode von lateinamerikanischen Bischöfen und Priestern sowie in der Seelsorge engagierten Männern und Frauen statt. Die Versammlung verfasste ein Schlussdokument, in dem die abstimmungsberechtigten Bischöfe sich unter anderem mit 128 Ja gegen 41 Nein für verheiratete Priester einsetzten. Am 12. Februar 2020 hat Papst Franziskus mit seinem Lehrschreiben «Querida Amazonia – Geliebtes Amazonien» dazu Stellung genommen.
Grosse Fragen am Amazonas
Wer die Bilder vom brennenden Regenwald gesehen hat, weiss: Die «grüne Lunge des Planeten» steht vor epochaleren Herausforderungen als der Frage, ob katholische Priester dort verheiratet sein dürfen oder nicht. Und die Lebensqualität der 400 Völker am 6400 km langen Amazonas-Fluss hängt wenig davon ab, ob bei der Eucharistiefeier auch Frauen am Altar stehen können oder nicht.
Angesichts des Unrechts, der Folter und Verbrechen, welche die europäischen Konquistadoren alter und die Kolonisten neuer Prägung den Menschen dieses Kontinents angetan haben und noch immer antun, ist es viel entscheidender, dass die christliche Grosskirche sich klar davon distanziert und zur Inkulturation ja sagt: Ihre Botschaft kann dort nur Fuss fassen in einem Dialog, der die einheimischen Völker voll und ganz ernst nimmt.
Das ist die Vision von Franziskus, und die Haltung des Papstes ist in dieser Entschiedenheit neu und höchst verdienstvoll. Wer sein Schreiben liest, findet Dutzende von Argumenten, warum die alte Kirche nicht stehen bleiben kann, sich vielmehr erneuern, ja neu erfinden muss angesichts der Zeichen der Zeit und der Kulturen, mit denen sie konfrontiert ist. So ist also die prophetische Kritik, die Bartolomé de las Casas schon vor 500 Jahren in die Welt hinausgeschrien hat, endlich im Zentrum der Kirche angekommen.
Eine Hängepartie frommer Ankündigungen
Wenn es dann freilich um die Knochenarbeit von Seelsorge und Sozialarbeit, von Verkündigung und Gottesdienst geht, genügen Visionen allein nicht. Wenn der neue Wein nicht mehr in die alten Schläuche passt, dann sind Remeduren gefordert, Entscheidungen für neue Behältnisse und konkrete Schritte zu einem anderen Kirchenmodell. Diese Entscheide verpasst Franziskus. Er bleibt – leider einmal mehr – bei frommen Ankündigungen.
Wenn Franziskus die Bischöfe dort auffordert, in ihrer Kirche «keine Kopien von Modellen anderer Orte» zu benützen, kommt er um die Frage nicht herum, ob nicht genau der mönchisch-zölibatär-klerikale Lebensstand ein solch römisches Einheitsmodell ist, das völlig weltfremd wirkt – nicht nur dort.
Wenn er verlangt, dass die Gestaltung des Lebens und die Ausübung des Priesteramtes «nicht monolithisch» sein dürfe und «an verschiedenen Orten der Erde unterschiedliche Ausformungen» annehmen müsse, stellt er die richtige Diagnose, jedoch ohne ein Rezept zu schreiben.
Wenn er «alle Bischöfe, besonders jene Lateinamerikas, ermutigt, nicht nur das Gebet um Priesterberufungen zu fördern, sondern auch grosszügiger zu sein und diejenigen, die eine missionarische Berufung zeigen, dazu zu bewegen, sich für das Amazonasgebiet zu entscheiden», dann ist das recht besehen eine Aufforderung zum Handeln, umbekümmert um Kompetenzen. Franziskus hat den Ball in die Amazonasregion zurückgespielt: Ubi Rhodos, ibi salta! Die Bischöfe dort kennen die Umstände, sie sollen «nach kühneren Wegen der Inkulturation suchen» und dann entscheiden – gemäss ihrem Schlussdokument, das Franziskus nicht zurücknimmt, sondern zur Lektüre empfiehlt.
Subsidiarität
Das wird auch geschehen und ist teilweise längst der Fall. Wenn Reformbegehren von der Kirchenführung über Jahrzehnte nicht aufgenommen werden, kommt irgendwann die Zeit der Selbstermächtigung, dort ebenso wie hier in Europa. Auch wenn dies für ein geordnetes Gemeinwesen nicht gut ist, kann es für eine gewisse Zeit hilfreich sein und die Situation soweit verändern, dass ein Nachfolger jene Entscheide wagen kann, die sich Franziskus offensichtlich nicht zutraut.
Doch warum eigentlich? Warum kann ein Papst ein Disziplinargesetz nicht verändern oder ausweiten, das weder im Evangelium noch in der Glaubenslehre begründet ist, ja das nicht einmal in der katholischen Kirche durchwegs gilt: Katholische Ostkirchen sind so wenig an den Zölibat gebunden wie zum Katholizismus konvertierte anglikanische oder evangelische Geistliche.
Sackgassen der Macht
Es gibt keine spirituelle Organisation, die so viele Mitglieder hat sowie vergleichbar straff institutionalisiert und durch eine lange Geschichte legitimiert ist wie die katholische Kirche. Und es existiert kein geistliches Amt, das mit so viel Macht ausgestattet ist und gesetzgeberische, ausführende und richterliche Gewalten auf sich vereinigt wie das Papsttum. Und doch scheint das Papst Franziskus etwa so viel zu nützen wie dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping alle Machtmittel der Parteidisziplin und des Militärs, wenn das Corona-Virus ausbricht.
Diese Macht wurde schon zu oft strapaziert, und es sind zu viele, die als Schmarotzer davon profitieren. Wehe, wenn ein Inhaber sie dezentralisieren und auf untere Ebenen delegieren möchte, nach dem sonst so wohlfeilen Prinzip der Subsidiarität. Seitdem Franziskus den Glauben in Gedichten und Träumen verkündet, ist im Vatikan der Teufel los, und er wird als Ketzer apostrophiert, was für einen Pontifex fast einem Todesurteil gleichkommt. So riskiert der mächtige Mann an der Spitze die Spaltungen in der Kirche noch zu vertiefen, wenn er bei Fragen rund um die Sexualität über Fussnoten, Poesien und Visionen hinausgeht.
Ein Trauerspiel, wie die Reaktionäre den konservativen Papst bekriegen und ihm mit der Spaltung der Kirche drohen – Reformer taten dies nie. Unsäglich, wie ihm kürzlich sein Vorgänger Joseph Ratzinger in die Suppe gespuckt hat. Ungeheuerlich, wie der zwar entlassene, sich aber immer noch als Glaubenspolizist aufspielende Gerhard Ludwig Müller den deutschen «Synodalen Weg» wegen des Stimmrechts der Laien mit dem Ermächtigungsgesetz des Deutschen Reichstags von 1933 verglich. Und dies alles im Angesicht der Katastrophe des klerikalen Systems wegen tausendfachen Missbrauchs unschuldiger Kinder.
Hegelsche Dialektik
Schon einmal hat ein Papst gezaudert, um die Macht zu retten: Paul VI., als er in Rücksicht auf einen Vorgänger den guten Argumenten seiner Experten zur Empfängnisverhütung nicht folgte und 1968 die berüchtigte Pillenenzyklika herausgab. Es ist ihm nicht gut bekommen. Auch Franziskus riskiert das Schicksal des Shakespeare’schen Hamlet, wenn er abschliessend die Hegelsche Dialektik bemüht: «Es kann vorkommen, dass an einem bestimmten Ort die in der Pastoral Tätigen für die anstehenden Probleme sehr unterschiedliche Lösungen für naheliegend halten und deshalb scheinbar entgegengesetzte kirchliche Herangehensweisen befürworten. In solch einem Fall ist es wahrscheinlich, dass die wahre Antwort auf die Herausforderungen der Evangelisierung darin besteht, beide Lösungsansätze zu überwinden und andere, vielleicht ungeahnte, bessere Wege zu finden. Der Konflikt wird auf einer höheren Ebene überwunden, wo sich jede der beiden Seiten mit der jeweils anderen zu etwas Neuem verbindet, aber dennoch sich selbst treu bleibt.»
Viele Katholikinnen und Katholiken verstehen ihren Franziskus nicht mehr. Das Bild vom Papst der Erneuerung ist beschädigt. Und das Wort des Dichters Charles Péguy, mit dem er sich anlässlich der Amazonas-Synode im letzten Herbst an seine Kritiker wandte, fällt auf ihn selbst zurück: «Ihr meint, auf der Seite Gottes zu sein, weil ihr nicht den Mut habt, auf der Seite der Menschen zu stehen.»