Wenn wir von Flüchtlingsdramen an den Grenzen Europas, von Massakern in den zahlreichen Kriegen oder von Hungersnöten in der näheren und ferneren Welt hören, dann zieht sich etwas in uns zusammen und wir lehnen uns innerlich dagegen auf. Wir wissen nicht, warum das geschieht. Jedenfalls gibt es keine unmittelbare Wirkung. Aber es könnte sein, dass in dem Augenblick, wo wir eine Möglichkeit zu helfen sehen, diese innere Energie mobilisiert werden kann.
Das innere Grauen
Es kann aber auch zu einer innerlichen Kapitulation kommen. Dann ist das Elend so gross, dass wir nur noch mit den Achseln zucken, die Augen verschliessen oder einfach nur denken: Was soll's?
Wir kapitulieren. Wenn zum Beispiel wieder Tausende von Flüchtlingen die Zäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla zu überwinden suchen, dann kann der Punkt erreicht sein, an dem wir es für richtig halten, die Befestigungen zu verstärken, wie das ja auch gerade geschieht. Dann siegt das innere Grauen vor diesen Flüchtlingsmassen mit ihrem Elend.
Die Prägung der Gesellschaft
Das ist nur ein Beispiel. Wir werden überhäuft mit Meldungen, die jede für sich nur noch Entsetzen auslösen. Diese Meldungen klopfen unsere inneren Überzeugungen weich. Was uns früher einmal empört hat, nehmen wir jetzt einfach hin und hoffen nur, dass wenigstens wir am kommenden Tag noch von der ganz grossen Katastrophe verschont bleiben.
Spielt das eine Rolle? Ist es letztlich nicht egal, wie wir innerlich zu dem stehen, was weit entfernt von uns geschieht? Auf den ersten Blick scheint es so, aber bei genauerem Hinschauen zeigt sich etwas anderes. Denn wir wissen, dass Gesellschaften stark durch das geprägt werden, was ihre Mitglieder in ihrem Innersten bewegt.
Teil des Ganzen
In dieser Hinsicht unterscheiden sich Gesellschaften voneinander wie Individuen. Man könnte auch sagen, jede Gesellschaft hat einen eigenen Geist. Daher gedeiht in manchen Gesellschaften die Wirtschaft, in anderen nicht. Manche Gesellschaften sind innovationsfreudig, andere erstarren. In manchen Gesellschaften dominiert das Recht, in anderen die Korruption.
Für sich betrachtet mag es egal sein, was ein Einzelner denkt oder fühlt, aber als Teil eines Ganzen ist das eben nicht gleichgültig. Jeder trägt mit seinem Denken und Fühlen zu dem bei, was das Kollektiv denkt und fühlt und was sich in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen am Ende durchsetzt.
Der Trend
Diesen Zusammenhang kann man auch in umgekehrter Richtung feststellen, wenn man nämlich glaubt, für sich selbst eine bestimmte Haltung gefunden zu haben, die einem besonders vorkommt. Über kurz oder lang erfährt man aber, dass es genau diese Haltung ist, die sich derzeit als Trend durchsetzt.
So ist die Resignation des Einzelnen ein Symptom für die Kapitulation der Mehrheit, die entweder schon längst stattgefunden hat oder unmittelbar bevorsteht. In dem Masse, wie wir unsere Ideale verlieren, verliert sie auch unsere Gesellschaft.