Es ist eine Tatsache, dass mehr als 40 Jahre lang Europa und den USA, von der ehemaligen Sowjetunion und China ganz zu schweigen, die Diktatur Ghadhafis herzlich egal war. Das Prinzip gilt oder galt auch für Saudi-Arabien, Iran oder den Irak, aber das wäre ein anderes Thema. Hier geht es um Folgendes: Frankreich hat einen Rebellenhaufen, der kurz vor der militärischen Niederlage stand, als einzige legitime Vertretung Libyens anerkannt. In einem plötzlichen Anfall von tiefer Sorge um Menschenrechte und Demokratie wurde dann ein UNO-Mandat für eine Flugverbotszone erwirkt. Seither wird auch auf Panzer, Lastwagen und andere Transportfahrzeuge geschossen, die bekanntlich fliegen können.
Es ist eine Tatsache, dass militärische Aktionen das Schlachtfeld in Staub und Pulverdampf hüllen, hinter denen die wirklichen Kampflinien verschwinden. Da es kaum glaubhaft und eher lächerlich ist, dass die Staaten der Welt von einem Tag auf den anderen beim Lesen der Charta der UN-Menschenrechte plötzlich Handlungsbedarf sahen, ihre Führer schlagartig Pickel und Hautausschlag beim weiteren Abknutschen von Ghadhafi entwickeln würden und das wichtigste Exportprodukt Libyens, nämlich Erdöl, in ihren Überlegungen überhaupt keine Rolle spielte, lohnt es sich doch, einen Blick auf die wirkliche Kampfzone zu werfen. Ausser, wir sind davon überzeugt, dass es bei Kriegen neuerdings nicht mehr um Beute geht.
Ghadhafi, der zwar etwas irre, aber gerissene Wüstenfuchs, wird sich ja vor Ärger in den Hintern beissen, denn so hatte er sich die Folgen seines Wandels vom Terrorismus-Paria zum hochwillkommenen Gast von westlichen Regierungschefs nicht vorgestellt.
Ölfelder mit angeschlossener Diktatur
Libyen war und ist im Wesentlichen ein riesiger Sandhaufen, über dem seit mehr als 40 Jahren eine Diktatur herrscht und unter dem beachtliche Ölfelder liegen. Libyen verfügt über 3,5 Prozent der weltweiten Ölreserven, aktuelle Schätzungen gehen von 60 Milliarden Barrel (1 Barrel = rund 159 Liter) aus, dazu kommen 1,5 Billionen m3 Erdgas. Das sind die grössten Reserven in ganz Afrika. Verwaltet wird das von der staatlichen National Oil Corporation (NOC). Die Förderung des qualitativ hochstehenden libyschen Erdöls ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Bombengeschäft. Man geht davon aus, dass Produktionskosten von 1 Dollar pro Barrel entstehen, bei einem Weltmarktpreis von aktuell über 100 Dollar.
Von diesem Profit schneidet sich NOC ein hübsches Scheibchen ab, den Rest teilten sich die oben erwähnten Ölgesellschaften untereinander auf. Immerhin 11 Prozent des libyschen Erdöls gingen ins rohstoffhungrige China, der italienische Konzern ENI förderte einen Viertel der Gesamtproduktion, täglich schätzungsweise 244 000 Barrel Öl und Erdgas-Äquivalent.
Karten werden neu gemischt
Nicht nur Verschwörungstheoretiker haben im Vorfeld der Libyen-Invasion (wetten, dass ..?) zur Kenntnis genommen, dass die beiden US-Ölmultis Chevron und Occidental Petroleum im Oktober 2010 ihre Explorations-Lizenzen im Ghadhafi-Staat nicht verlängert haben. Und gab es nicht üble Gerüchte, dass der durch das Öl-Desaster im Golf von Mexiko leicht angeschlagene britische Konzern BP seine Hände im Spiel hatte, als die englische Regierung den Lockerbie-Attentäter al-Megrahi freiliess, natürlich aus rein humanitären Gründen?
Das sind natürlich nur Nebensächlichkeiten, aber nicht ganz ohne Signifikanz. Im grossen Spiel, das ist hingehen keine Verschwörungstheorie, sondern liegt auf der Hand, geht es um eine Neuverteilung der Karten im Ölpoker. Die Big Shots am Tisch sind dabei die USA und China, Russland möchte gerne die Rolle des Dealers, also des Kartenverteilers übernehmen, Frankreich und Grossbritannien versuchen mitzubluffen, da sie zwar über eine grosse koloniale Vergangenheit im nördlichen Afrika verfügen, aber über eine eher bescheidene Gegenwart, mal rein militärisch gesehen.
Wie könnte die Zukunft aussehen?
Wenn wir hinter die Fassade einer Auseinandersetzung zwischen einem irren Diktator und einer weitgehend unstrukturierten Rebellenbewegung blicken, deren mittelfristige Zielsetzungen völlig unklar sind, und wenn wir nicht ausser Acht lassen, dass sich eines der grössten Ölfelder Libyens mit schätzungsweise 80 Prozent aller Reserven im Osten des Landes, so unterhalb von Benghazi und Ajdabiya befindet, dann wird die eigentliche Schlachtordnung doch klarer. Wenn wir weiter davon ausgehen, dass es einerseits um die Partikularinteressen konkurrenzierender Ölmultis und andererseits um politisch-strategische Interessen der beiden grössten Wirtschaftsmächte USA und China geht, dann haben wir vom Pokertisch allen Sand gewischt, der uns durch die Berichterstattung über den von rein humanitären Interessen geprägten militärischen Eingriff in die Augen gestreut wird.
Als wahrscheinliches Szenario kristallisiert sich dadurch heraus, dass es zu einer Teilung Libyens und einer Entstaatlichung kommen wird. Also Neuverhandlungen mit einem geschwächten Ghadhafi und einer sich konstituierenden Rebellenregierung, welcher Ölkonzern unter welcher ausländischen Schutzmacht an wen libysches Erdöl liefern darf. Und wer sich wie viel vom Profit abschneiden wird. Natürlich unter strikter Beachtung der Menschenrechte plus Freiheit und Demokratie für alle.