Gewundert hatten sich viele schon seit langem: Wie konnte es sein, dass ausgerechnet in Japan die zivile Nutzung der Atomenergie auf so grosse Akzeptanz und zugleich auf so geringen und, wenn überhaupt, gar nicht lautstarken Widerstand dort stiess, wo man reihenweise Atomreaktoren in die Landschaft stellte?
Einer der es wissen muss
Gewiss, „die anderen Japaner“, also Umweltschützer, Atomkraftgegner, Leute, die generell mit vielem unzufrieden waren, hatte es immer schon gegeben. Aber sie waren randständig gewesen, gewissermassen ungebetene Zaungäste des politischen Spektakels, das die Atomenergie als Sieg der naturwissenschaftlich-technischen „Zivilisation“ zelebrierte.
Nun gibt einer die Antwort auf die Frage. Und der sie gibt, ist kein geringerer als Naoto Kan, Minsterpräsident zu der Zeit, als im März 2011 die dreifache Katastrophe über Japan hereinbrach: der Erdbeben (es waren drei, die schnell mit nahe gelegenen Epizentren aufeinander folgten), den Tsunami-Wellen (es waren wiederum drei, die ihre Kräfte potenzierten) und der Explosion der vier Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Nr 1.
Einer also, der es wissen muss, sagt: Die Antiatombewegung in Japan wurde unterdrückt; ja, „unterdrückt“, bekräftigt er auf Nachfrage: durch ein Netzwerk aus Stromproduzenten, Aufsichtsbeamten und dienstbaren Naturwissenschaftlern, die willig gegen Bares Unbedenklichkeits-Testate ausstellten und die Kontrollierbarkeit der atomaren Energie unter allen Bedingungen bescheinigten.
Nahes Ende der Atomlobby?
Kan ist selbst Naturwissenschafter, ein Technikfreak, bereit, den Dingen auf den Grund zu gehen, anstatt sie von Anfang an in Bauch und Bogen zu verteufeln. Der frühere Regierungschef machte seine Aussagen über die systematische Unterdrückung und Isolierung der Antiatombewegung im Februar bei einem Interview mit Mieko Kaburaki, der Vorsitzende der „Initiative zur Förderung sauberer Energien“
Das Netzwerk, erklärte Kan, operiert nicht nur landesweit, sondern ist auch international gut vernetzt und läuft unter dem kuscheligen Namen „Atomdorf“. Es ist derzeit jedoch in der Defensive, sucht die Deckung und hofft, alles werde für es irgendwie wieder gut. Doch Kan ist entschlossen, genau dies zu verhindern. Ein Jahr maximal brauche die jetzige Regierung, sagt Kan, um die Macht der Stromproduzenten als Keimzelle des „Atomdorfs“ mit den Mitteln der Gesetzgebung lahm zu legen und das System der Kontrollbehörden neu zu ordnen. Ein Jahr, wirklich? Ja, ein Jahr – darüber herrsche in der Regierung weitgehend Einmütigkeit.
Die Praktiken des “Atomdorfs“
Bisher schaffte es das „Atomdorf“, seine Kritiker zum Schweigen zu bringen, durch Zahlung von Werbegeldern an die Medien, die über die Kritiker dann nicht mehr berichteten, durch gezielte Rufmordkampagnen gegen die, die nicht schweigen wollten, durch Aufkauf und Abwicklung von Programmen und Institutionen, die sich der Entwicklung erneuerbarer Energien widmeten. Vor dreissig Jahren, spezifiziert Kan, gab es in Gegenden, weit weg von Tokio, Gruppen, die von Atomkraftwerken in ihrer Nachbarschaft nichts wissen wollten. Wenn Tokio Atomstrom brauche, dann möge man ihn dort produzieren, schallte es damals dem „Atomdorf“ entgegen.
Doch die Gruppen wurden mit Geld gefüttert, bis sie schwiegen, also mit den Gewinnen aus dem Verkauf des Atomstroms von anderswo. Ebenso vor dreissig Jahren gab es eine grosse Windkraftanlage auf einer Insel, die zum Verwaltungsgebiet von Tokio gehört. Tepco, der Stromgigant, dem auch das Atomkraftwerk Fukushima Nr. 1 gehört, kaufte die Anlage, stellte dort einige Versuche an und stellte diese dann ein mit der Begründung, Windenergie rentiere sich nicht. Die damals vorhandene japanische Windenergieindustrie geriet ins Abseits, obschon sie bis heute besteht.
Gegenwärtig nur noch ein Atomreaktor in Betrieb
Kan weiss davon nicht nur. Seit er sein Amt als Ministerpräsident hat aufgeben müssen, schreit er sein Wissen in die Welt hinaus. Seine Botschaft zeigt Wirkung. Am. 11. März 2012, dem Jahrestag der dreifachen Katastrophe, versammelten sich in Fukushima-Stadt rund 15.000 Demonstranten, die grösste Zusammenkunft von Atomkraftgegnern, die es je in Japan gegeben hat. Zwar gelang es dem „Atomdorf“ noch, die Berichterstattung über die Demonstration in landesweiten Fernsehprogrammen zu unterbinden. Aber kritische Zeitungen, auch grosse wie Asahi Shinbun, liessen sich nicht einschüchtern und kamen ihrer Berichtspflicht nach.
Am 25. März 2012 ging zudem in Kashiwazaki der letzte von siebzehn Atomreaktoren vom Netz, die Tepco insgesamt betrieben hat. Damit liefert nur mehr ein einziger von ehemals 54 Atommeilern im ganzen Land noch Strom, und auch dieser Reaktor soll im Sommer abgeschaltet werden, zum Zweck der „Wartung“, wie es amtlich heisst. Das ist, man weiss es, ausdrücklich kein Ausstieg aus der Nutzung von Atomenergie. Denn die Reaktoren (ausser denen von Fukushima Nr. 1) sind in offizieller Sprachregelung nur vorübergehend ausser Betrieb gestellt.
Naoto Kan: Die Wähler müssen entscheiden
Dennoch weiss man jetzt auch: ohne Atomstrom gehen in Japan die Lichter nicht aus. Bei konsequentem Kappen des Spitzenbedarfs haben alle Atomkraftwerke auf Dauer ausgedient, meint Kan. Man darf gespannt sein auf die Argumente, die das „Atomdorf“ liefert, wenn es Reaktoren wieder in Betrieb nehmen will. Kan, der derweil die Welt bereist, auf dänischen Inseln und im deutschen Ökodorf Jühnde nach Modellen für den Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien stöbert, sagt: Am Wahltag sind die Politiker schwach. Die Wählerinnen und Wähler sollen entscheiden. Die Macht der Antiatom-Lobby wächst.