Die politischen Angriffe auf die bisher geltende Regel vom grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts vor dem Landesrecht in der Schweiz zielen wesentlich auf die Europäische Menschenrechtskonvention und deren Konkretisierung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Auseinandersetzungen mit Urteilen irgendwelcher, auch höchster Gerichte sind für jede Rechtsentwicklung wichtig. Nicht sachgemäss erscheint dagegen, aus dem Missbehagen über einzelne Urteile des Europäischen Gerichts geradezu die Institution von Strassburg oder noch weitergehend, das Schweizer Verfassungskonzept des Vorrangs von Völkerrecht in Frage zu stellen. Zu beidem sei kurz Stellung genommen.
Unabhängigkeit von Staaten beruht auf Völkerrecht
Die Meinung ist irrig, ein Staat könne mit seinem eigenen Recht die Geltung des Völkerrechts im internationalen Bereich zurückdrängen. Das Völkerrecht gilt letztlich aufgrund eines weltweiten Konsenses, dass Staaten unter sich Recht gelten lassen müssen, sei es, dass es sich um allgemein anerkannte Prinzipien (wie der gegenseitige Respekt des jeweiigen Hoheitsgebiets oder den Grundsatz der Vertragstreue) oder um einzelne, vertraglich vereinbarte Rechte (wie im Bereich der Menschenrechte) handle. Die Regel ist international unbestritten, dass sich kein Staat auf sein internes Recht berufen kann, um Völkerrechtsverletzungen zu legitimieren.
Die internationale Geltung der Unabhängigkeit, der Souveränität und der Identität von Staaten ruht auf Grundsätzen des Völkerrechts. Als Grundgesetz der Weltgemeinschaft erscheint heute die Charta der Vereinten Nationen, die grossen wie kleinen Staaten die Gleichheit und Unantastbarkeit ihrer Souveränität garantiert, daneben aber auch den Gewaltverzicht und die Beachtung der Menschenrechte fordert. Von der internationalen Vertragstreue der Schweiz – sowohl im wirtschaftlichen wie menschenrechtlichen Bereich – hängt ihr Ansehen weltweit ab, politisch, wirtschaftlich und kulturell.
Kleine Staaten besonders auf Völkerrecht angewiesen
Die Schweiz ist keine Grossmacht und will es auch nicht sein. Ihre andauernde Existenz, aber auch ihre Aktionsfähigkeit in der Staatengemeinschaft hängen von der formellen Geltung und der praktischen Beachtung eines Rechts zwischen Staaten, also dem Völkerrecht ab. Die Schweiz wäre selber zu schwach, gegen Rechtsbrüche durch andere effektiv vorzugehen. Sie ist auf Beachtung des Rechts und auf die rechtliche Solidarität der anderen angewiesen. Relativierung der Autorität des Völkerrechts bedeutet Schwächung der Staaten, die auf seine Geltung angewiesen sind.
Auch die Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eine Frage des Respekts vor Völkerrecht. Die Schweiz hat die Konvention mit Wirkung nach innen und nach aussen verbindlich akzeptiert. Sie ist der Konvention nicht nur unterworfen, sie wirkt auch mit an ihrer Entwicklung und Gestaltung, z. B. durch die Richterernennung.
Mitverantwortung für europäische Institutionen
Darüber hinaus ist die Schweiz mitverantwortlich für Gedeih und Verderben der europäischen Institution wegen ihrer andauernden Mitgliedschaft im Europarat. In seinem Rahmen ist die Konvention nicht nur geschaffen worden, sondern bleibt in ihrer Aktivität auch eingebettet. Wenn die Schweiz Unbehagen über einzelne Urteile oder gar über Entwicklungstendenzen des Gerichtshofs empfindet, so kann sie – neben der Kritik an der Rechtsprechung – ihre Mitverantwortung und ihre Einflussmöglichkeiten als Mitglied des Europarates formell und substantiell mobilisieren.
Die Verfahren zur Wahl der Richterinnen und Richter sind nicht optimal und könnten oder müssten verbessert werden. Die Überlastung des Gerichts ist seit Jahren bekannt. Dagegen wird nur ungenügend Abhilfe geleistet. Die Schweiz könnte durch Ideen und Initiativen mehr beitragen. Die Kündigung der EMRK oder der Austritt aus dem Europarat erschiene als realitätsfremde Flucht, als kurzsichtige Feigheit, denn wir bleiben kulturell, geopolitisch und wirtschaftlich existenziell mit dem uns umgebenden Europa verbunden.
Jörg Paul Müller ist emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität Bern und Mitglied des Club Helvetique.