Kürzlich verursachte der marokkanische Flüchtling Kacem El Ghazzali ein mediales Stürmchen, als er, sich zu einem liberalen Atheismus bekennend, in einem Interview Kritik am Islam übte. [1] „Viele ehrlich engagierte Schweizerinnen und Schweizer im Flüchtlingsbereich haben Angst, Kritik am Islam zu üben“, sagte El Ghazzali. Im Besonderen äusserte er Reserve gegenüber einem „linken Kulturrelativismus“, der zum Beispiel das Tragen des Hijab als Brauchtum akzeptiere und darin nicht eine traditionelle Unterdrückungspraktik der Frau erkenne, die einer liberalen Demokratie unwürdig sei. Das schien nun wiederum der Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr sauer aufzustossen. Ob es heute einfach reiche, als Muslim gegen den Islam zu wettern, um als Experte zu gelten, fragte sie in einem Facebook-Post. Worauf der so Adressierte natürlich konterte, er sei gerade kein Muslim und auch nicht Experte, und Frau Fehr würde ihn fälschlicherweise auf eine Religionszugehörigkeit reduzieren.
Die Sackgasse der Identitätspolitik
Die kleine Kontroverse scheint mir symptomatisch für ein grosses Problem zu sein. Der Multikulturalismus hat einen schlechten Verlauf genommen: in die Sackgasse der Identitätspolitik. Der Historiker Mark Lilla machte jüngst auf eine Argumentationsfigur aufmerksam, welche die Debattenkultur an amerikanischen Universitäten im letzten Jahrzehnt tiefgreifend verändert hat und auch in den medialen Mainstream gesickert ist. [2] Man beginnt sein Argument mit „Ich als X ...“ Die Redewendung macht vorweg klar, dass der Standpunkt Priorität hat, nicht die Sache. „Ich als Muslim ...“, „Ich als Frau ...“, „Ich als Schwuler ...“ – immer wird das Argument von einer Identität abhängig gemacht: A priori errichtet man zwischen Ich und Gegenüber eine halbdurchlässige Wand, die meine Aussagen an dich passieren lassen, aber nicht in umgekehrter Richtung. „Ich als X ...“ ist potenzielle Gesprächsverweigerung. Debatten, die früher vielleicht begannen mit „Ich behaupte A, und hier sind meine Argumente“, nehmen nun die Form an „Ich als X behaupte A, und wenn du B behauptest, dann greifst du mich als X an“. Ein Totschlagargument. Vorbei die Habermas’schen Zeiten des „eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“.
„Bulverismus“
Neu ist das nicht. Im Englischen spricht man vom Fehlschluss des „Bulverism“. Der Schriftsteller Clive S. Lewis hat ihn bekannt gemacht – genauer: seine fiktive Figur Ezekiel Bulver, der hörte, wie seine Mutter die Beweisführung seines Vaters, die Summe zweier Seiten eines Dreiecks sei grösser als die dritte Seite, mit den Worten abschmetterte: Du sagst das nur als Mann. Man geht nicht auf die Argumente des Andern ein, sondern nur auf seine Identität.
Identitätspolitik bedeutet pointiert, dass man primär Differenzen statt Gemeinsamkeiten von Menschen sieht. Wie Lilla schreibt: „Ich bin kein dunkelhäutiger Autofahrer, und ich werde nie wissen, wie er sich am Steuer fühlt. Umso wichtiger wäre es, dass ich mich auf irgendeine Weise mit diesen Menschen identifizieren kann; und die Tatsache, dass wir beide amerikanische Bürger sind, ist das Einzige, was wir mit Sicherheit gemeinsam haben. Je mehr die Differenzen zwischen uns herausgestrichen werden, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass ich mich empöre, wenn er misshandelt wird.“
Wir sind Stammeswesen
Der tiefe Widerspruch liegt darin, dass wir Menschen von Natur aus Stammeswesen sind. Unser sozialer Kitt ist primär die Familien-, Freundes-, Nationen-, Kultur-, Religions-, Fanclub-, Firmenzugehörigkeit und erst sekundär die Zugehörigkeit zu einer abstrakten Identität wie „globale Gemeinschaft“, „Zivilisation“ oder „Menschheit“. Der einflussreiche liberale Theoretiker Michael Walzer hat die These aufgestellt, dass das einzig Gemeinsame an den Menschen ihr Hang zur Kirchturmpolitik sei (er spricht von „Parochialismus“). Vor allem, wenn sich Menschen bedroht fühlen, beginnen sie sich auf ihre „Identität“, auf ihr „Ich als ...“ zurückzuziehen. Dann blühen die Radikalismen, Fundamentalismen, Atavismen: „Wenn mein Parochialismus bedroht ist, dann fühle ich nur noch, und zwar radikal, parochial: als Serbe, als Pole, als Jude, als Schwarzer, als Frau, als Homosexueller – und als nichts anderes (...) Das bedeutet auch, dass unser gemeinsames Menschsein uns niemals zu Mitgliedern eines einzigen allumfassenden ‚Stammes’ machen wird.“
Ein interkultureller Modus Vivendi
Durch globalisierte Märkte und Migration leben wir heute in Europa vermehrt unter Menschen, die sogenannt „vormoderne“ Traditionen pflegen und entsprechend andere Vorstellungen von Loyalität und Solidarität haben als ein mitteleuropäischer „Normalbürger“. Diese Menschen sind Fremde im berühmten Sinn von Georg Simmel: Leute, die heute kommen und morgen bleiben. Das Fremdsein verspüren nicht nur Zugewanderte, sondern auch Einheimische in der postindustriellen Gesellschaft, in der sich traditionelle Bindungen und Identitäten aufgelöst haben. Gerade deshalb müssen wir „Einheimischen“ uns auch als Fremde zu verstehen beginnen, um einen interkulturellen Modus Vivendi zu schaffen. Wir sind alle „anders“, als wir zu sein meinen. Was nicht zuletzt auch heisst, dass wir uns verändern können.
„Plombierte“ Identität
Das sagt sich leicht, und lässt sich schwer praktizieren. Das Problem liegt in der Vorstellung „plombierter“ Identität. Sie definiert Individuen ausschliesslich über eine bestimmte Gruppenzugehörigkeit und wird so leicht zum Instrument fundamentalistischer, nationalistischer oder rassistischer Ideologien. Ein seichter, politisch korrekter Multikulturalismus, dessen Denkfehler in einer separatistischen Interpretation liegt, leistet hier ungewollt Beihilfe: Kulturelle Identität wird bloss als Anspruch und Recht begriffen, sich in seinen Sitten und Bräuchen einzumauern. Aber kulturelle Differenz ist kein Schlagbaum. Wer sich nur über die eigene Kultur definiert, hat keine Kultur. Dieser Satz gilt primär in einem Kontext wie dem modernen urban-europäischen, wo sich Lebensformen und Kulturen zunehmend vermischen und die Rede von einer vermeintlich „reinen“ Identität – religiös, ethnisch, national, kulturell, herkunftsmässig – schlicht anachronistisch, schlimmstenfalls gemeingefährlich ist. Stattdessen erschiene es viel fruchtbarer, sich mit den entstehenden soziokulturellen Mischformen zu befassen, aus denen möglicherweise – trotz Dissens in den Weltanschauungen – sogar so etwas wie eine aufgeklärte kosmopolitische Haltung erwachsen könnte.
Weg vom bornierten Kleingeist
Gerade aus diesem Grund tragen Leute wie El Ghazzali viel zum angesprochenen interkulturellen Modus Vivendi bei. Ihr „Abweichlertum“ ist eine willkommene Bereicherung unserer nach wie vor ziemlich offenen Gesellschaft. Denn sie zeigen uns, dass aus islamisch geprägten Gesellschaften auch „Andere“ kommen. Und sie können uns dazu anhalten, unsere Identitäten selbst auch aufzubrechen. Man soll gegen den Islam „wettern“ dürfen, wie man auch etwa gegen ein enges christliches Weltverständnis wettern dürfen kann. Der Weg aus der identitätspolitischen Sackgasse ist der Weg aus einem bornierten Kleingeist heraus.
[1] https://www.derbund.ch/front/redaktion-empfiehlt/viele-schweizer-haben-angst-kritik-am-islam-zu-ueben/story/22154105
[2] https://www.nzz.ch/feuilleton/identitaetspolitik-die-linke-hat-sich-selbst-zerstoert-ld.1311079